26 Juni 2017

Lichtenberg: Aphorismen

Ich habe das Register der Krankheiten durchgegangen und habe die Sorgen und die traurigen Vorstellungen nicht darunter gefunden, das ist doch falsch. 
Ich sagte bei mir selbst: das kann ich unmöglich glauben, und während dem Sagen merkte ich, daß ich's schon zum zweiten Male geglaubt hatte. 
Wer sagt, er hasse alle Arten von Schmeicheleien, und es im Ernst sagt, der hat gewiß noch nicht alle Arten kennen gelernt, teils der Materie, teils der Form nach. Leute von Verstand hassen allerdings die gewöhnliche Schmeichelei, weil sie sich notwendig durch die Leichtgläubigkeit erniedrigt finden müssen, die ihnen der schmeichelnde Tropf zutraut. Sie hassen also die gewöhnliche Schmeichelei bloß deswegen, weil sie für sie keine ist. Ich glaube nach meiner Erfahrung schlechterdings an keinen großen Unterschied unter den Menschen. Es ist alles bloß Übersetzung. Ein jeder hat seine eigene Münze, mit der er bezahlt sein will. 
Die Kunst, sich zu verbergen, oder der Widerwille, sich geistig oder moralisch nackend sehen zu lassen, geht bis zum Erstaunen weit. 
Wie es denn wirklich an dem ist, daß Philosophie, wenn sie für den Menschen etwas mehr sein soll, als eine Sammlung von Materien zum Disputieren, nur indirekte gelehrt werden kann.
Es gibt wohl keinen Menschen in der Welt, der nicht, wenn er um tausend Taler willen zum Spitzbuben wird, lieber um das halbe Geld ein ehrlicher Mann geblieben wäre. [...]
Man kann nicht leicht über zu vielerlei denken, aber man kann über zu vielerlei lesen. Über je mehr Gegenstände ich denke, d. h. sie mit meinen Erfahrungen und meinem Gedankensystem in Verbindung zu bringen suche, desto mehr Kraft gewinne ich. Mit dem Lesen ist es umgekehrt: ich breite mich aus, ohne mich zu stärken. Merke ich bei meinem Denken Lücken, die ich nicht ausfüllen, und Schwierigkeiten, die ich nicht überwinden kann, so muß ich nachschlagen und lesen. Entweder dieses ist das Mittel, ein brauchbarer Mann zu werden, oder es gibt gar keines. 
Was eigentlich den Schriftsteller für den Menschen ausmacht, ist, beständig zu sagen, was der größte Teil der Menschen denkt oder fühlt, ohne es zu wissen. Der mittelmäßige Schriftsteller sagt nur, was jeder würde gesagt haben. Hierin besteht ein großer Vorteil zumal der dramatischen und Romanendichter. 
Die Dichter sind vielleicht eben nie die weisesten unter den Menschen gewesen; allein es ist mehr als wahrscheinlich, daß sie uns das beste ihres Umgangs und ihrer Gesellschaft liefern. Da Horaz uns so viel Vortreffliches hinterlassen hat, so denke ich immer, wie viel Vortreffliches mag nicht in den Gesellschaften gesprochen worden sein; denn schwerlich haben die Wahrheiten den Dichtern mehr als das Kleid zu danken. 
Zur Aufweckung des in jedem Menschen schlafenden Systems ist das Schreiben vortrefflich; und jeder, der je geschrieben hat, wird gefunden haben, daß Schreiben immer etwas erweckt, was man vorher nicht deutlich erkannte, ob es gleich in uns lag. 

Ein alter Weiser hat schon gesagt, aus jedem Manne läßt sich ein Kastrat machen, aber aus keinem Kastraten ein Mann. 

Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es klingt hohl, ist denn das allemal im Buche? 

Wenn die Menschen plötzlich tugendhaft würden, so müßten viele Tausende verhungern. 

Wenn Heiraten Frieden stiften können, so sollte man den Großen die Vielweiberei erlauben. 

Es kann nicht alles ganz richtig sein in der Welt, weil die Menschen noch mit Betrügereien regiert werden müssen. 

Aber was für eiteles, elendes Stückwerk ist nicht gleich unsere
Wetterweisheit? Und nun gar unsere prophetische Kunst! Trotz den Bänden meteorologischer Beobachtungen ganzer Akademien ist es noch immer so schwer vorher zu sagen, ob übermorgen die Sonne scheinen wird, als es vor einigen Jahrhunderten gewesen sein muß, den Glanz des Hohenzollerischen Hauses voraus zu sehen. 


Es ist eine kurrente Wahrheit: daß es wenig böse Taten gibt, die nicht aus Leidenschaften verübt worden wären, die, bei einem andern System von Umständen, der Grund großer und lobenswürdiger hätten werden können. So abgeschmackt freilich eine solche Entschuldigung nach vollbrachter Übeltat wäre, so sehr verdient sie bei dem noch unbescholtenen oder wenigstens unbekannten Mann erwogen zu werden, der eine Voraussetzung von meiner Vernunft von Gott und Rechts wegen fordern kann, die jener meiner Menschenliebe abbettelte. Ich glaube, wenn wir den Menschen genau kennten, so würden wir finden, daß die Auflösung selten unmöglich werden würde, und daß, wenn wir diejenigen meiden wollten, die unter einem gewissen System von Umständen gefährlich werden können, wir neunundneunzig in hundert meiden müßten.
Gewiß hat die Zollfreiheit unserer Gedanken und der geheimsten Regungen unseres Herzens bei uns nie auf schwächern Füßen gestanden als jetzt, wenn man aus der Emsigkeit, der Menge und dem Mut der Helden und Heldinnen, die sich wider sie auflehnen, auf ihren baldigen Umsturz schließen darf. Man dringt von allen Seiten auf die zukommlichsten Werke ihrer Befestigung, und wo man sonst geheimen Vorrat vermutet, mit einer Hitze ein, die mehr einem gotisch-vandalischen Sturm als einer überdachten Belagerung ähnlich sieht, und viele behaupten, eine förmliche Übergabe könne schlechterdings nicht mehr weit sein. Es gibt aber auch eine Menge sanguinischer Menschen, die dafür halten, die Seele liege über ihrem geheimsten Schatz noch jetzt so unzukommlich sicher, als vor Jahrtausenden, und lächle über die anwachsenden babylonischen Werke ihrer stolzen Stürmer, überzeugt, daß sich, lange vor ihrer Vollendung, die Sprachen der Arbeiter verwirren, und Meister und Gesellen auseinandergehen werden.
Über das Reisen
Ein anderer übler Umstand sind die leider nur allzuguten Gesellschaften in den bequemen Postkutschen in England, die immer voll schöner, wohlgekleideter Frauenzimmer stecken, und wo, welches das Parlament nicht leiden sollte, die Passagiere so sitzen, daß sie einander ansehen müssen; wodurch nicht allein eine höchst gefährliche Verwirrung der Augen, sondern zuweilen eine höchst schändliche zum Lächeln von beiden Seiten reizende Verwirrung der Beine, und daraus endlich eine oft nicht mehr aufzulösende Verwirrung der Seelen und Gedanken entstanden ist; so daß mancher ehrliche junge Mensch, der von London nach Oxford reisen wollte, statt dessen zum Teufel gereist ist. So etwas ist nun, dem Himmel sei Dank, auf unsern Postwagen nicht möglich. Denn erstlich können artige Frauenzimmer sich unmöglich auf einen solchen Wagen setzen, wenn sie sich nicht in der Jugend etwas im Zaunbeklettern, Elsternesterstechen, Apfelabnehmen und Nüsseprügeln umgesehen haben; denn der Schwung über die Seitenleiter erfordert eine besondere Gewandtheit, und wenige Frauenzimmer können ihn tun, ohne den untenstehenden Wagenmeister und die Stallknechte zum Lachen zu bringen. Für das zweite, so sitzt man, wenn man endlich sitzt, so, daß man sich nicht in das Gesicht sieht, und in dieser Stellung können, was man auch sonst dagegen sagen mag, wenigstens Intriguen nicht gut angefangen werden. Die Erzählung verliert ihre ganze Würze, und man kann höchstens nur verstehen, was man sagt, aber nicht was man sagen will. [...]
Wie Bedienstete schreiben
Im Schreiben sind die meisten wirklich unnachahmlich: Mein geehrtestes vom 15. dieses. Ich verbleibe Dero Hochedelgeborne Dienerin. Da sehen wir uns mündlich. Wenn Sie jetzt keine Zeit haben, so sehen wir uns im Dunkeln am Fenster. Eine schrieb: Ich weiß wohl, es kömmt alles daher, weil ich einmal den Willen des Herrn nicht tun wollen. (Sie meinte, dem Herrn vom Hause nicht zu Willen sein.) Es ist schade, daß man dergleichen Briefe so selten zu sehen bekommt, sie haben wirklich meistens etwas Auszeichnendes, und unterscheiden sich von Briefen gleich unstudierter Mannspersonen sehr. Man sollte glauben, ein besonderer Genius wache selbst über ihre Schreibfehler: Die kleine Fröhlen ist ganz von den Pocken verschönt worden (verschändet); statt Kniee schreiben die meisten Keine, doch weiß ich auch, daß eine Dame ein Keinstück statt Kniestück schrieb. In einer gewissen großen Stadt (vermutlich in mehren) sollen sie sogar gelehrte Briefwechsel führen, und ein paar solcher Briefe sind mir versprochen. Auch sollen sie da mitunter keinen Teufel mehr glauben, nämlich solange sie gesund sind, und das Licht brennt, und es nicht donnert. Wie sehr wohl und leicht sich Eine bei ihrer Atheisterei befunden haben muß, kann man aus einem Briefe an ihre Freundin sehen, worin sie ausdrücklich sagte: sie dankte Gott alle Morgen auf den Knien (vermutlich auf den Keinen) dafür, daß er sie zur Atheistin habe werden lassen. Die Postskripte zu ihren philosophischen Briefen handeln von Bändern, Spitzen, Schuhen etc. 

Hier verlinke ich einen Artikel, in dem ich diesen Artikel verlinkt habe.  Dort habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass unter diesen Aphorismen Lichtenbergs ein bekannter nicht vorkommt. Dieser bekannte ist nicht: "Wer nur Chemie versteht, versteht auch die nicht recht."

Egon Friedell über Lichtenberg und Lessing

»Könnte ich das alles«, sagt Lichtenberg, »was ich zusammengedacht habe, so sagen, wie es mir ist, nicht getrennt, so würde es gewiß den Beifall der Welt erhalten. Wenn ich doch Kanäle in meinem Kopfe ziehen könnte, um den inländischen Handel zwischen meinem Gedankenvorrate zu befördern!« Aber das konnte er nicht, er konnte alles nur so sagen, »wie es ihm war«, er konnte eben darum Getrenntes nicht ungetrennt empfinden und nicht künstliche Kanäle zwischen Gedanken herstellen, die nicht von Natur aus verbunden waren; er konnte die Dinge nur so denken, wie sie in seinem Kopfe lagen. Zum Systematiker war er zu ehrlich. Jene Arbeit des Zurechtmachens und Verschleifens, die jeder Systembildung zugrunde liegt, verstand er nicht. Die zähe Energie, mit der Kant auf der Grundmauer seiner neuen seelenwissenschaftlichen Entdeckungen ein weithinragendes Systemgebäude aufrichtete, ist schon allein als geistige Kraftleistung anzustaunen, aber es steckt darin doch auch viel Entsagung, ein Verzicht auf die völlige Freiheit des Denkens: freilich ein heroischer Verzicht, den wir wiederum bewundern müssen. Aus denselben Gründen, aus denen Kant ein System schuf, ja schaffen mußte, war es für Lichtenberg unmöglich, seine philosophischen Erkenntnisse zu einer einheitlichen Gesamtkonstruktion zu ordnen. Denn er war ein völliger Impressionist, auch im Philosophischen. Für den Impressionisten aber gibt es nur eine Wahrheit: die des Augenblicks, und gerade unsere Zeit wird am wenigsten geneigt sein, diese Methode des Denkens unwissenschaftlich zu finden. Es liegt aber wiederum gerade in dieser besonderen Struktur seines Geistes, daß Lichtenberg imstande war, den Idealismus vollkommener zuendezudenken, als selbst Kant dies vermochte. »Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, sobald man es durch ich denke übersetzt.« Hier ist der Phänomenalismus bis an seine äußerste Grenze gedacht. Denker von einer so durchdringenden Schärfe und Konzessionslosigkeit sind immer der Mystik verwandt, weil sie Skeptiker sind. Der absolute Positivist ist ebensosehr der Gegenpol des wahren Denkers wie der abenteuernde Phantast. [...]
Richtete sich Lessings literarische Aktion mehr nach außen, so ging Lichtenbergs Polemik mehr nach innen. Beide haben gekämpft, der eine draußen im Leben und im Getümmel der Meinungen, der andere in der Stille und Einkehr, jener mit der Welt und ihren Vorurteilen, dieser mit sich selbst und seinen eigenen Gedanken. Darum sollte man beide immer zusammen nennen. Sie bilden vereinigt die wahre geistige Signatur der deutschen »Aufklärung«, die in diesen beiden Männern eine wirkliche Aufklärung gewesen ist. [...]
Aber man kann nicht sagen, daß Lessings Name Lichtenberg verdunkelt hat, denn das deutsche Publikum weiß ja auch von Lessing nichts. (Egon Friedell)

24 Juni 2017

E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann

Nathanael an Lothar 
 Gewiß seid Ihr alle voll Unruhe, daß ich so lange – lange nicht geschrieben. Mutter zürnt wohl, und Klara mag glauben, ich lebe hier in Saus und Braus und vergesse mein holdes Engelsbild, so tief mir in Herz und Sinn eingeprägt, ganz und gar. – Dem ist aber nicht so; täglich und stündlich gedenke ich Eurer aller, und in süßen Träumen geht meines holden Klärchens freundliche Gestalt vorüber und lächelt mich mit ihren hellen Augen so anmutig an, wie sie wohl pflegte, wenn ich zu Euch hineintrat. – Ach, wie vermochte ich denn Euch zu schreiben in der zerrissenen Stimmung des Geistes, die mir bisher alle Gedanken verstörte! – Etwas Entsetzliches ist in mein Leben getreten! – Dunkle Ahnungen eines gräßlichen mir drohenden Geschicks breiten sich wie schwarze Wolkenschatten über mich aus, undurchdringlich jedem freundlichen Sonnenstrahl. – Nun soll ich Dir sagen, was mir widerfuhr. Ich muß es, das sehe ich ein, aber nur es denkend, lacht es wie toll aus mir heraus. – 
Ach, mein herzlieber Lothar, wie fange ich es denn an, Dich nur einigermaßen empfinden zu lassen, daß das, was mir vor einigen Tagen geschah, denn wirklich mein Leben so feindlich zerstören konnte! Wärst Du nur hier, so könntest Du selbst schauen; aber jetzt hältst Du mich gewiß für einen aberwitzigen Geisterseher. – Kurz und gut, das Entsetzliche, was mir geschah, dessen tödlichen Eindruck zu vermeiden ich mich vergebens bemühe, besteht in nichts anderm, als daß vor einigen Tagen, nämlich am 30. Oktober, mittags um 12 Uhr, ein Wetterglashändler in meine Stube trat und mir seine Ware anbot. Ich kaufte nichts und drohte, ihn die Treppe herabzuwerfen, worauf er aber von selbst fortging. –
Du ahnest, daß nur ganz eigne, tief in mein Leben eingreifende Beziehungen diesem Vorfall Bedeutung geben können, ja, daß wohl die Person jenes unglückseligen Krämers gar feindlich auf mich wirken muß. So ist es in der Tat. Mit aller Kraft fasse ich mich zusammen, um ruhig und geduldig Dir aus meiner frühern Jugendzeit so viel zu erzählen, daß Deinem regen Sinn alles klar und deutlich in leuchtenden Bildern aufgehen wird. Indem ich anfangen will, höre ich Dich lachen und Klara sagen: »Das sind ja rechte Kindereien!« – Lacht, ich bitte Euch, lacht mich recht herzlich aus! – ich bitt' Euch sehr! – Aber Gott im Himmel! die Haare sträuben sich mir, und es ist, als flehe ich Euch an, mich auszulachen, in wahnsinniger Verzweiflung, wie Franz Moor den Daniel. – Nun fort zur Sache! – Außer dem Mittagsessen sahen wir, ich und mein Geschwister, tagüber den Vater wenig. Er mochte mit seinem Dienst viel beschäftigt sein. Nach dem Abendessen, das alter Sitte gemäß schon um sieben Uhr aufgetragen wurde, gingen wir alle, die Mutter mit uns, in des Vaters Arbeitszimmer und setzten uns um einen runden Tisch. Der Vater rauchte Tabak und trank ein großes Glas Bier dazu. Oft erzählte er uns viele wunderbare Geschichten und geriet darüber so in Eifer, daß ihm die Pfeife immer ausging, die ich, ihm brennend Papier hinhaltend, wieder anzünden mußte, welches mir denn ein Hauptspaß war. Oft gab er uns aber Bilderbücher in die Hände, saß stumm und starr in seinem Lehnstuhl und blies starke Dampfwolken von sich, daß wir alle wie im Nebel schwammen. An solchen Abenden war die Mutter sehr traurig, und kaum schlug die Uhr neun, so sprach sie: »Nun Kinder! – zu Bette! zu Bette! der Sandmann kommt, ich merk' es schon.« [...]
Jahrelang dauerte das, und nicht gewöhnen konnte ich mich an den unheimlichen Spuk, nicht bleicher wurde in mir das Bild des grausigen Sandmanns. Sein Umgang mit dem Vater fing an meine Fantasie immer mehr und mehr zu beschäftigen: den Vater darum zu befragen hielt mich eine unüberwindliche Scheu zurück, aber selbst – selbst das Geheimnis zu erforschen, den fabelhaften Sandmann zu sehen, dazu keimte mit den Jahren immer mehr die Lust in mir empor. Der Sandmann hatte mich auf die Bahn des Wunderbaren, Abenteuerlichen gebracht, das so schon leicht im kindlichen Gemüt sich einnistet. Nichts war mir lieber, als schauerliche Geschichten von Kobolten, Hexen, Däumlingen usw. zu hören oder zu lesen; aber obenan stand immer der Sandmann, den ich in den seltsamsten, abscheulichsten Gestalten überall auf Tische, Schränke und Wände mit Kreide, Kohle, hinzeichnete. Als ich zehn Jahre alt geworden, wies mich die Mutter aus der Kinderstube in ein Kämmerchen, das auf dem Korridor unfern von meines Vaters Zimmer lag. Noch immer mußten wir uns, wenn auf den Schlag neun Uhr sich jener Unbekannte im Hause hören ließ, schnell entfernen. In meinem Kämmerchen vernahm ich, wie er bei dem Vater hineintrat und bald darauf war es mir dann, als verbreite sich im Hause ein feiner seltsam riechender Dampf. Immer höher mit der Neugierde wuchs der Mut, auf irgend eine Weise des Sandmanns Bekanntschaft zu machen. Oft schlich ich schnell aus dem Kämmerchen auf den Korridor, wenn die Mutter vorübergegangen, aber nichts konnte ich erlauschen, denn immer war der Sandmann schon zur Türe hinein, wenn ich den Platz erreicht hatte, wo er mir sichtbar werden mußte. Endlich von unwiderstehlichem Drange getrieben, beschloß ich, im Zimmer des Vaters selbst mich zu verbergen und den Sandmann zu erwarten. An des Vaters Schweigen, an der Mutter Traurigkeit merkte ich eines Abends, daß der Sandmann kommen werde; ich schützte daher große Müdigkeit vor, verließ schon vor neun Uhr das Zimmer und verbarg mich dicht neben der Türe in einen Schlupfwinkel. Die Haustür knarrte, durch den Flur ging es, langsamen, schweren, dröhnenden Schrittes nach der Treppe. [...]
Näher – immer näher dröhnten die Tritte – es hustete und scharrte und brummte seltsam draußen. Das Herz bebte mir vor Angst und Erwartung. – Dicht, dicht vor der Türe ein scharfer Tritt – ein heftiger Schlag auf die Klinke, die Tür springt rasselnd auf! – Mit Gewalt mich ermannend gucke ich behutsam hervor. Der Sandmann steht mitten in der Stube vor meinem Vater, der helle Schein der Lichter brennt ihm ins Gesicht! – Der Sandmann, der fürchterliche Sandmann ist der alte Advokat Coppelius, der manchmal bei uns zu Mittage ißt! [...]
Aber die gräßlichste Gestalt hätte mir nicht tieferes Entsetzen erregen können, als eben dieser Coppelius. [...]
Coppelius erschien immer in einem altmodisch zugeschnittenen aschgrauen Rocke, eben solcher Weste und gleichen Beinkleidern, aber dazu schwarze Strümpfe und Schuhe mit kleinen Steinschnallen. Die kleine Perücke reichte kaum bis über den Kopfwirbel heraus, die Kleblocken standen hoch über den großen roten Ohren und ein breiter verschlossener Haarbeutel starrte von dem Nacken weg, so daß man die silberne Schnalle sah, die die gefältelte Halsbinde schloß. Die ganze Figur war überhaupt widrig und abscheulich; aber vor allem waren uns Kindern seine großen knotigten, haarigten Fäuste zuwider, so daß wir, was er damit berührte, nicht mehr mochten. Das hatte er bemerkt und nun war es seine Freude, irgend ein Stückchen Kuchen, oder eine süße Frucht, die uns die gute Mutter heimlich auf den Teller gelegt, unter diesem, oder jenem Vorwande zu berühren, daß wir, helle Tränen in den Augen, die Näscherei, der wir uns erfreuen sollten, nicht mehr genießen mochten vor Ekel und Abscheu. [...]
Als ich nun diesen Coppelius sah, ging es grausig und entsetzlich in meiner Seele auf, daß ja niemand anders, als er, der Sandmann sein könne, aber der Sandmann war mir nicht mehr jener Popanz aus dem Ammenmärchen, der dem Eulennest im Halbmonde Kinderaugen zur Atzung holt – nein! – ein häßlicher gespenstischer Unhold, der überall, wo er einschreitet, Jammer – Not – zeitliches, ewiges Verderben bringt. [...]
Wenn ich Dir nun sage, mein herzlieber Freund! daß jener Wetterglashändler eben der verruchte Coppelius war, so wirst Du mir es nicht verargen, daß ich die feindliche Erscheinung als schweres Unheil bringend deute. Er war anders gekleidet, aber Coppelius' Figur und Gesichtszüge sind zu tief in mein Innerstes eingeprägt, als daß hier ein Irrtum möglich sein sollte. Zudem hat Coppelius nicht einmal seinen Namen geändert. Er gibt sich hier, wie ich höre, für einen piemontesischen Mechanikus aus, und nennt sich Giuseppe Coppola. [...]

Clara an Nathanael
[...] Gibt es eine dunkle Macht, die so recht feindlich und verräterisch einen Faden in unser Inneres legt, woran sie uns dann festpackt und fortzieht auf einem gefahrvollen verderblichen Wege, den wir sonst nicht betreten haben würden – gibt es eine solche Macht, so muß sie in uns sich, wie wir selbst gestalten, ja unser Selbst werden; denn nur so glauben wir an sie und räumen ihr den Platz ein, dessen sie bedarf, um jenes geheime Werk zu vollbringen. Haben wir festen, durch das heitre Leben gestärkten, Sinn genug, um fremdes feindliches Einwirken als solches stets zu erkennen und den Weg, in den uns Neigung und Beruf geschoben, ruhigen Schrittes zu verfolgen, so geht wohl jene unheimliche Macht unter in dem vergeblichen Ringen nach der Gestaltung, die unser eignes Spiegelbild sein sollte. [...] Es ist das Phantom unseres eigenen Ichs, dessen innige Verwandtschaft und dessen tiefe Einwirkung auf unser Gemüt uns in die Hölle wirft, oder in den Himmel verzückt. [...]
[Der Erzähler]
Nun könnte ich getrost in der Erzählung fortfahren; aber in dem Augenblick steht Claras Bild so lebendig mir vor Augen, daß ich nicht wegschauen kann, so wie es immer geschah, wenn sie mich holdlächelnd anblickte. – Für schön konnte Clara keinesweges gelten; das meinten alle, die sich von Amtswegen auf Schönheit verstehen. Doch lobten die Architekten die reinen Verhältnisse ihres Wuchses, die Maler fanden Nacken, Schultern und Brust beinahe zu keusch geformt, verliebten sich dagegen sämtlich in das wunderbare Magdalenenhaar und faselten überhaupt viel von Battonischem Kolorit. [...]
Recht hatte aber Nathanael doch, als er seinem Freunde Lothar schrieb, daß des widerwärtigen Wetterglashändlers Coppola Gestalt recht feindlich in sein Leben getreten sei. Alle fühlten das, da Nathanael gleich in den ersten Tagen in seinem ganzen Wesen durchaus verändert sich zeigte. Er versank in düstre Träumereien, und trieb es bald so seltsam, wie man es niemals von ihm gewohnt gewesen. Alles, das ganze Leben war ihm Traum und Ahnung geworden; immer sprach er davon, wie jeder Mensch, sich frei wähnend, nur dunklen Mächten zum grausamen Spiel diene, vergeblich lehne man sich dagegen auf, demütig müsse man sich dem fügen, was das Schicksal verhängt habe. Er ging so weit, zu behaupten, daß es töricht sei, wenn man glaube, in Kunst und Wissenschaft nach selbsttätiger Willkür zu schaffen; denn die Begeisterung, in der man nur zu schaffen fähig sei, komme nicht aus dem eignen Innern, sondern sei das Einwirken irgend eines außer uns selbst liegenden höheren Prinzips. Der verständigen Clara war diese mystische Schwärmerei im höchsten Grade zuwider, doch schien es vergebens, sich auf Widerlegung einzulassen. Nur dann, wenn Nathanael bewies, daß Coppelius das böse Prinzip sei, was ihn in dem Augenblick erfaßt habe, als er hinter dem Vorhange lauschte, und daß dieser widerwärtige Dämon auf entsetzliche Weise ihr Liebesglück stören werde, da wurde Clara sehr ernst und sprach: »Ja Nathanael! du hast recht, Coppelius ist ein böses feindliches Prinzip, er kann Entsetzliches wirken, wie eine teuflische Macht, die sichtbarlich in das Leben trat, aber nur dann, wenn du ihn nicht aus Sinn und Gedanken verbannst. Solange du an ihn glaubst, ist er auch und wirkt, nur dein Glaube ist seine Macht.« [...]
Aber durch dies wilde Tosen hört er Claras Stimme: »Kannst du mich denn nicht erschauen? Coppelius hat dich getäuscht, das waren ja nicht meine Augen, die so in deiner Brust brannten, das waren ja glühende Tropfen deines eignen Herzbluts – ich habe ja meine Augen, sieh mich doch nur an!« – Nathanael denkt: Das ist Clara, und ich bin ihr eigen ewiglich. – Da ist es, als faßt der Gedanke gewaltig in den Feuerkreis hinein, daß er stehen bleibt, und im schwarzen Abgrund verrauscht dumpf das Getöse. Nathanael blickt in Claras Augen; aber es ist der Tod, der mit Claras Augen ihn freundlich anschaut. [...]
»Nun erst habe ich dich ganz wieder, siehst du es wohl, wie wir den häßlichen Coppelius vertrieben haben?« Da fiel dem Nathanael erst ein, daß er ja die Dichtung in der Tasche trage, die er habe vorlesen wollen. Er zog auch sogleich die Blätter hervor und fing an zu lesen: Clara, etwas Langweiliges wie gewöhnlich vermutend und sich darein ergebend, fing an, ruhig zu stricken. Aber so wie immer schwärzer und schwärzer das düstre Gewölk aufstieg, ließ sie den Strickstrumpf sinken und blickte starr dem Nathanael ins Auge. Den riß seine Dichtung unaufhaltsam fort, hochrot färbte seine Wangen die innere Glut, Tränen quollen ihm aus den Augen. – Endlich hatte er geschlossen, er stöhnte in tiefer Ermattung – er faßte Claras Hand und seufzte wie aufgelöst in trostlosem Jammer: »Ach! – Clara – Clara!« – Clara drückte ihn sanft an ihren Busen und sagte leise, aber sehr langsam und ernst: »Nathanael – mein herzlieber Nathanael! – wirf das tolle – unsinnige – wahnsinnige Märchen ins Feuer.« Da sprang Nathanael entrüstet auf und rief, Clara von sich stoßend: »Du lebloses, verdammtes Automat!« Er rannte fort, bittre Tränen vergoß die tief verletzte Clara: »Ach er hat mich niemals geliebt, denn er versteht mich nicht«, schluchzte sie laut. – [...]
Claras Bild war ganz aus seinem Innern gewichen, er dachte nichts, als Olimpia und klagte ganz laut und weinerlich: »Ach du mein hoher herrlicher Liebesstern, bist du mir denn nur aufgegangen, um gleich wieder zu verschwinden, und mich zu lassen in finstrer hoffnungsloser Nacht?« [...]
Die Gesellschaft war zahlreich und glänzend. Olimpia erschien sehr reich und geschmackvoll gekleidet. Man mußte ihr schöngeformtes Gesicht, ihren Wuchs bewundern. Der etwas seltsam eingebogene Rücken, die wespenartige Dünne des Leibes schien von zu starkem Einschnüren bewirkt zu sein. In Schritt und Stellung hatte sie etwas Abgemessenes und Steifes, das manchem unangenehm auffiel; man schrieb es dem Zwange zu, den ihr die Gesellschaft auflegte. [...]
Ganz unvermerkt nahm er deshalb Coppolas Glas hervor und schaute hin nach der schönen Olimpia. Ach! – da wurde er gewahr, wie sie voll Sehnsucht nach ihm herübersah, wie jeder Ton erst deutlich aufging in dem Liebesblick, der zündend sein Inneres durchdrang. Die künstlichen Rouladen schienen dem Nathanael das Himmelsjauchzen des in Liebe verklärten Gemüts, und als nun endlich nach der Kadenz der lange Trillo recht schmetternd durch den Saal gellte, konnte er wie von glühenden Ärmen plötzlich erfaßt sich nicht mehr halten, er mußte vor Schmerz und Entzücken laut aufschreien: »Olimpia!« – [...]
Eiskalt war Olimpias Hand, er fühlte sich durchbebt von grausigem Todesfrost, er starrte Olimpia ins Auge, das strahlte ihm voll Liebe und Sehnsucht entgegen und in dem Augenblick war es auch, als fingen an in der kalten Hand Pulse zu schlagen und des Lebensblutes Ströme zu glühen. Und auch in Nathanaels Innerm glühte höher auf die Liebeslust, er umschlang die schöne Olimpia und durchflog mit ihr die Reihen.  [...]
Uns ist diese Olimpia ganz unheimlich geworden, wir mochten nichts mit ihr zu schaffen haben, es war uns als tue sie nur so wie ein lebendiges Wesen und doch habe es mit ihr eine eigne Bewandtnis.« – Nathanael gab sich dem bittern Gefühl, das ihn bei diesen Worten Siegmunds ergreifen wollte, durchaus nicht hin, er wurde Herr seines Unmuts und sagte bloß sehr ernst: »Wohl mag euch, ihr kalten prosaischen Menschen, Olimpia unheimlich sein. Nur dem poetischen Gemüt entfaltet sich das gleich organisierte! – Nur mir ging ihr Liebesblick auf und durchstrahlte Sinn und Gedanken, nur in Olimpias Liebe finde ich mein Selbst wieder. [...]
Aus dem tiefsten Grunde des Schreibpults holte Nathanael alles hervor, was er jemals geschrieben. Gedichte, Fantasien, Visionen, Romane, Erzählungen, das wurde täglich vermehrt mit allerlei ins Blaue fliegenden Sonetten, Stanzen, Kanzonen, und das alles las er der Olimpia stundenlang hintereinander vor, ohne zu ermüden. Aber auch noch nie hatte er eine solche herrliche Zuhörerin gehabt. Sie stickte und strickte nicht, sie sah nicht durchs Fenster, sie fütterte keinen Vogel, sie spielte mit keinem Schoßhündchen, mit keiner Lieblingskatze, sie drehte keine Papierschnitzchen, oder sonst etwas in der Hand, sie durfte kein Gähnen durch einen leisen erzwungenen Husten bezwingen – kurz! – stundenlang sah sie mit starrem Blick unverwandt dem Geliebten ins Auge, ohne sich zu rücken und zu bewegen und immer glühender, immer lebendiger wurde dieser Blick. [...]
Nathanael war milder, kindlicher geworden, als er je gewesen und erkannte nun erst recht Claras himmlisch reines, herrliches Gemüt. Niemand erinnerte ihn auch nur durch den leisesten Anklang an die Vergangenheit. Nur, als Siegmund von ihm schied, sprach Nathanael: »Bei Gott Bruder! ich war auf schlimmen Wege, aber zu rechter Zeit leitete mich ein Engel auf den lichten Pfad! – Ach es war ja Clara! – [...]


Es war an der Zeit, daß die vier glücklichen Menschen nach dem Gütchen ziehen wollten. Zur Mittagsstunde gingen sie durch die Straßen der Stadt. Sie hatten manches eingekauft, der hohe Ratsturm warf seinen Riesenschatten über den Markt. »Ei!« sagte Klara, »steigen wir doch noch einmal herauf und schauen in das ferne Gebirge hinein!« Gesagt, getan! Beide, Nathanael und Klara, stiegen herauf, die Mutter ging mit der Dienstmagd nach Hause, und Lothar, nicht geneigt, die vielen Stufen zu erklettern, wollte unten warten. Da standen die beiden Liebenden Arm in Arm auf der höchsten Galerie des Turmes und schauten hinein in die duftigen Waldungen, hinter denen das blaue Gebirge wie eine Riesenstadt sich erhob.
»Sieh doch den sonderbaren kleinen grauen Busch, der ordentlich auf uns loszuschreiten scheint«, sprach Klara. – Nathanael faßte mechanisch nach der Seitentasche; er fand Coppolas Perspektiv, er schaute seitwärts – Klara stand vor dem Glase! – Da zuckte es krampfhaft in seinen Pulsen und Adern – totenbleich starrte er Klara an, aber bald glühten und sprühten Feuerströme durch die rollenden Augen, gräßlich brüllte er auf wie ein gehetztes Tier; dann sprang er hoch in die Lüfte, und grausig dazwischen lachend, schrie er in schneidendem Ton: »Holzpüppchen dreh' dich – Holzpüppchen dreh' dich« – und mit gewaltiger Kraft faßte er Klara und wollte sie herabschleudern, aber Klara krallte sich in verzweifelnder Todesangst fest an das Geländer. Lothar hörte den Rasenden toben, er hörte Klaras Angstgeschrei, gräßliche Ahnung durchflog ihn, er rannte herauf, die Tür der zweiten Treppe war verschlossen – stärker hallte Klaras Jammergeschrei. [...] Gott im Himmel – Klara schwebte, von dem rasenden Nathanael erfaßt, über der Galerie in den Lüften – nur mit einer Hand hatte sie noch die Eisenstäbe umklammert. Rasch wie der Blitz erfaßte Lothar die Schwester, zog sie hinein und schlug in demselben Augenblick mit geballter Faust dem Wütenden ins Gesicht, daß er zurückprallte und die Todesbeute fahren ließ.
Lothar rannte herab, die ohnmächtige Schwester in den Armen. – Sie war gerettet. – Nun raste Nathanael herum auf der Galerie und sprang hoch in die Lüfte und schrie: »Feuerkreis, dreh' dich – Feuerkreis, dreh' dich« – Die Menschen liefen auf das wilde Geschrei zusammen; unter ihnen ragte riesengroß der Advokat Coppelius hervor, der eben in die Stadt gekommen und gerades Weges nach dem Markt geschritten war. Man wollte herauf, um sich des Rasenden zu bemächtigen, da lachte Coppelius, sprechend: »Ha ha – wartet nur, der kommt schon herunter von selbst«, und schaute wie die übrigen hinauf. Nathanael blieb plötzlich wie erstarrt stehen, er bückte sich herab, wurde den Coppelius gewahr, und mit dem geltenden Schrei: »Ha! Sköne Oke – Sköne Oke« sprang er über das Geländer. –
Als Nathanael mit zerschmettertem Kopf auf dem Steinpflaster lag, war Coppelius im Gewühl verschwunden. –

Nach mehreren Jahren will man in einer entfernten Gegend Klara gesehen haben, wie sie mit einem freundlichen Mann Hand in Hand vor der Türe eines schönen Landhauses saß und vor ihr zwei muntre Knaben spielten. Es wäre daraus zu schließen, daß Klara das ruhige häusliche Glück noch fand, das ihrem heitern lebenslustigen Sinn zusagte und das ihr der im Innern zerrissene Nathanael niemals hätte gewähren können.

E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann

Demonstration der Haupthandlungselemente der Erzählung mit Playmobil-figuren (Sandmann).
dito (Klein Zaches, genannt Zinnober)
dito (Der goldene Topf)

19 Juni 2017

Wie der Tod in die Welt kam

So ist es uns überliefert. 

Gott Soko schuf zuerst die Schildkröte Bagbatschi, dann die Menschen und am Ende die Steine. Gott machte von jeder Art einen Mann und eine Frau: von Schildkröte, Mensch und Stein. Nacheinander, in dieser Reihenfolge erweckte er sie zum Leben, nur die Steine nicht.Aber keiner konnte Kinder haben. Wer alt geworden war, den machte Soko wieder jung. Das wiederholte sich. Kinder waren nicht nötig.
 Bagbatschi, die Schildkröte ging zu Soko. "Ich könnte ein Kind brauchen", sagte  Bagbatschi,  "Wozu willst du ein Kind haben?" "Du weißt", antwortete Bagbatschi, "dass ich schlecht laufen kann. Es ist recht mühsam für mich und meine Frau. Aber manchmal haben wir Besorgungen zu machen. Ein Kind könnte die Botengänge übernehmen." Soko dachte nach. "Ich habe nicht vorgesehen" antwortete er, "euch Kinder zu geben." Bagbatschi ging nach Hause. Bald darauf stand er wieder vor Gott.  "Es wäre schön, wenn wir ein Kind hätten", sagte er. "Oder vielleicht mehrere. Das wäre sehr nützlich, Gott." Soko regte sich auf. Warum kommst du angelaufen und willst Kinder haben?" "Es wäre sehr praktisch, Gott. Sie könnten manches Helfen und wir wären nicht so allein. Wenn ich alt bin ..." "... wirst du wieder jung." ">Wenn ich alt bin, ehe ich wieder jung werde, kann ich kaum bis zur Wasserstelle gehen. Mir tun die Beine weh, weil mein Körper so schwer ist. 

 Manchmal liege ich stundenlang in der prallen Sonne und komme nicht vom Fleck. Es ist eine rechte Plage, das musst du zugeben. Gib mir ein paar Kinder Soko!"
Das Gesicht des Gottes war ernst, als er entgegnete: "Weißt du nicht, Bagbatschi, dass alle Leute, die Kinder zur Welt bringen, sterben müssen? Früher oder später!" Bagbatschi glotzte Soko an  und nickte. "Bist du bereit zu sterben, falls ich dir Kinder schenke?" "Wenn meine Frau schwanger ist, kannst du mich sterben lassen." "Schick mir die Menschen!"
Der Mann und die Frau kamen. Soko räusperte sich.  " Bagbatschi sagt,er will Kinder haben. Was ist mit euch?" "Es wäre gut, Kinder zu haben, Herr", antwortete die Frau. "Wenn mein Mann auf der Jagd ist, bin ich allein zu Hause.  Das Kind, wenn es ein Mädchen ist, könnte mir bei der Arbeit helfen. Ich wäre nicht so allein. "Und wenn es ein Sohn ist", fügte der Mann hinzu, "könnte er mir auf der Jagd das Wild zutreiben und den Korb tragen. Wenn ich dann alt bin und meine Hände zittern, geht er für mich auf die Jagd. Es ist sehr praktisch, Kinder zu haben." Soko fragte: "Seid ihr bereit, dafür auch zu sterben?" "Ja", antworteten die Menschen. Der Mann sagte: "Wenn wir erst Kinder haben, macht es mir nichts mehr aus." 
Die Steine lagen am Boden und redeten kein Wort. Soko rief sie an. "Ihr schweigt? Wollt ihr auch Kinder haben und dann sterben? Aber das wollten die Steine auf keinen Fall. Da entschied Soko: "Es soll sein, wie ihr es haben wollt!"
Bagbatschis Frau  wurde schwanger, und drei Monate später starb er. Als sie ihre Kinder zur Welt brachte, war er bereits tot.
Auch die Menschenfrau wurde schwanger und gebar Kinder. Ihr Mann starb bald darauf. Sie nahm sich einen anderen Mann, denn sie konnte die Kinder nicht allein ernähren.
Nur die Steine sterben nicht, und sie haben auch keine Kinder.

Sage der Nupe  aus: Die schönsten Sagen aus der Neuen Welt, Südwest Verlag 1972                     

12 Juni 2017

W. G. Sebald: Austerlitz

W. G. Sebald: Austerlitz, München 2001; Rezensionen bei perlentaucher

"Wer ist Austerlitz? Ein rätselhafter Fremder, der immer wieder an den ungewöhnlichsten Orten auftaucht: am Bahnhof, am Handschuhmarkt, im Industriequartier ... Und jedes Mal erzählt er ein Stück mehr von seiner Lebensgeschichte, der Geschichte eines unermüdlichen Wanderers durch unsere Kultur und Architektur und der Geschichte eines Mannes, dem als Kind Heimat, Sprache und Name geraubt wurden."

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 05.04.2001

"Erst bewundert's Iris Radisch, dann hält sie's dem Autor vor - nämlich seinen geschichtsmetaphysischen Zettelkastenmaterialismus; [...] und einem Museum, das "um den Preis unerhörter Naivität", den Holocaust gleich neben den Hirschhornknöpfen verstaut."

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 24.02.2001

"Des Autors Wille zur Erinnerung (deutscher Geschichte) offenbart sich für Köhler in einem suggestiven, tief melancholischen Tonfall und in einem "universalen Zeichensystem": Eine bis ins kleinste Detail verwobenen Syntax und eine gleichfalls mikroskopische Verflechtung von Bildern, Personen und Orten. Für die Rezensentin ist das Buch rhythmische Melodie und poetische Metaphysik der Geschichte - "in der das Erinnerte so lebendig ist, als würde es gerade geschehen" - in einem."

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 24.02.2001

"Dem Ton von Jörg Drews merkt man an, dass er dieses Buch für eines der wichtigsten der Saison halten dürfte - so beeindruckt schreibt er über "Austerlitz". Schon im Titel erkennt er mehrfache Brechungen, denn Austerlitz ist nicht nur der Name des Helden, sondern auch der Name eines Pariser Bahnhofs, der nach einer napoleonischen Schlacht benannt wurde - und das Wort enthält für ihn einen Anklang an "Auschwitz". Der Roman gibt nach Drews den fiktiven Lebensbericht eines Mannes, der mit 21 Jahren erfährt, dass er einen anderen Namen und eine andere Herkunft hat als er bisher angenommen hat und in Wahrheit das Kind deutscher Juden ist, das 1939 nach England ausgeschleust wurde. Und auch hier bewundert Drews die mehrfache Brechung, denn Austerlitz` Geschichte wird nicht direkt präsentiert, sondern er erzählt sie einem zwischengeschalteten Ich-Erzähler. Obwohl der Rezensent die Frage stellt, ob die "betont umsichtige", "fast dröge und zugleich leicht feierliche" Sprache des Buches die Gefahr birgt, zur "Manier" zu werden, beeilt er sich sogleich, dies heftig zu verneinen. Er betont, dass die stilistischen Eigenheiten das Unheimliche und Deprimierende dieses Berichtes nur verstärken. Auch die eingestreuten Schwarz-Weiß-Fotos, die Vorkriegsbauten zeigen, würden den düsteren Eindruck des Buches unterstützen und damit "adäquate Präsenzen, Mementi, Verdichtungen von blinder Massivität" darstellen, die gar nicht erst die Hoffnung auf eine "harmlose" Erzählung aufkommen ließen, so der Rezensent fasziniert."

02 Juni 2017

Schnelllesen

Einen Roman in der Mittagspause verschlingen? Kein Problem, versprechen Speed-Reading-Apps. Aber was bleibt vom Lesegenuss?  von ADRIAN LOBE

Lichtenberg

Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799)

Brief an Abraham Gotthelf Kästner
London, 17. 4.1770

Ich bin am 10ten dieses Monats sehr gesund und beinah am gesündesten unter der ganzen Reise-Gesellschaft hier angelangt. Die Reise dauerte 15 Tage, war äußerst verdrüßlich und oft mit Lebensgefahren verbunden, 3 Meilen hinter Osnabrück brach unsere Chaise so, daß wir eine andere kaufen mußten, wenn wir nicht einige Tage in einem elenden Ort bleiben oder nach Osnabrück zu Fuß zurückkehren wollten. Auf der See habe ich zwei Tage und zwei Nächte zugebracht und über 8 Stunden in einem solchen Sturm, daß unser Vordersegel riß, und die meisten Seeleute seekrank wurden, welches so selten geschieht. Der Kapitän sah sich genötigt, um tiefere See zu gewinnen, nordwärts zu segeln, weil wir alle Augenblicke befürchteten ans Land anzulaufen, so kamen wir über die Breite von Yarmouth hinauf; durch einen Zufall kam eine Öffnung in das Schiff in der Gegend wo mein Bette stund, und eine Welle schlug so herein, daß alles durch naß wurde, ein Neger sah es und hatte so viel Weichherzigkeit in diesem großen Lärmen und da man kaum einen Schritt gehen konnte, mir ein anderes Bette zu bringen. Den folgenden Tag drehte sich der Wind und zwar so vorteilhaft für uns, daß wir in Zeit von 16 Stunden den ganzen Fehler wieder gut machten und des Abends um 10 Uhr im Hafen zu Harwich ankerten. Meine Krankheit auf der See dauerte von morgends 10 Uhr bis abends nach fünfe und hat mich bei weitem nicht so angegriffen als einige andere Personen auf dem Schiffe.

Aphorismen

Manche Leute wissen alles so, wie man ein Rätsel weiß, dessen Auflösung man gelesen hat oder einem gesagt worden ist, und das ist die schlechteste Art von Wissenschaft, die der Mensch am wenigsten sich erwerben sollte. Er sollte vielmehr darauf bedacht sein, sich diejenigen Kenntnisse zu erwerben, die ihn in den Stand setzen, vieles selbst im Fall der Not zu entdecken, was andere lesen oder hören müssen, um es zu wissen.


Wir sind nur gar zu geneigt zu glauben, das sei wahr, was wir oft bejahen hören und was viele glauben, und bedenken nicht, daß der Schein, der zehn betrügt, Millionen betrügen kann. 
Die Frage: soll man selbst philosophieren? muß, dünkt mich, so beantwortet werden, als eine ähnliche: soll man sich selbst rasieren? Wenn mich jemand darüber fragte, so würde ich antworten: wenn man es recht kann, ist es eine vortreffliche Sache. 
Ich glaube, daß die meisten über der Freude, ein sehr abstraktes und dunkel abgefaßtes System zu verstehen, zugleich geglaubt haben, es sei demonstriert. 
Die Erfindung der Sprache ist vor der Philosophie hergegangen, und das ist es, was die Philosophie erschwert, zumal wenn man sie andern verständlich machen will, die nicht viel selbst denken. Die Philosophie ist, wenn sie spricht, immer genötigt, die Sprache der Unphilosophie zu reden. 
Wenn man die Natur als Lehrerin, und die armen Menschen als Zuhörer betrachtet, so ist man geneigt, einer ganz sonderbaren Idee vom menschlichen Geschlechte Raum zu geben. Wir sitzen allesamt in einem Kollegio, haben die Prinzipien, die nötig sind, es zu verstehen und zu fassen, horchen aber immer mehr auf die Plaudereien unserer Mitschüler, als auf den Vortrag der Lehrerin. Oder wenn ja einer neben uns etwas nachschreibt, so spicken wir von ihm, stehlen, was er selbst vielleicht undeutlich hörte, und vermehren es mit unsern eigenen orthographischen und Meinungsfehlern.