29 Dezember 2011

Ulla Hahns autobiographische Romane - Entwurf

Poetische Kraft beweist das Symbol der Steine, das sich durch die Romane zieht.
Der Großvater (mütterlicherseits) der Heldin Hildegard bietet ihr Buchsteine, aus denen sich erfundene Geschichten lesen lassen, Wutsteine, an denen man anstelle von Personen seine Wut auslassen kann, indem man sie mit den gehassten Personen identifiziert und sich ihrer dann in effigie entledigt. Wichtig ist der Lachstein, den sie von ihrem Bruder erhält und der es ihr ermöglichen soll, sich vom Bedrohlichen einer Situation zu distanzieren und es wegzulachen.
Am Schluss des ersten Buches (Das verborgene Wort) steht dann der weiße Stein der Offenbarung (2,17), der eine neue Existenz verheißt.
Im zweiten Roman (Aufbruch) stehen Godehards Steine für lebensfernens systematisches Wissen und als Edelsteine für äußeren Reichtum, der - ähnlich wie bei einem Teufelspakt - mit dem Verlust der Geliebten einhergeht, so dass Godehard keine wahre neue Bindung eingehen kann.

Einen ähnlichen Seelenverlust erlebt Hildegard nach ihrer Vergewaltigung. Das Versprechen des weißen Steins versucht sie - nach einer Phase seelischer Erstarrung (theologisch gesprochen: Gottesferne) - jetzt aus eigener Kraft wahr zu machen. Dafür muss sie seelische Berührung durch Dichtung vermeiden und Buchgelehrsamkeits-Germanistik betreiben.

Angenehm berührt an den Romanen auch die intensive Einbeziehung von Arbeitswelt und ihren Konflikten und die des dörflichen und familiären Milieus, die durch den sehr gezielten Einsatz von Dialekt an emotionaler Eindruckskraft gewinnt.
Erfreulich ist auch das Hereinnehmen von Zeitgeschichte in Gestalt der Auschwitzprozesse, wobei die Schuldleugnung der Täter ein Gegenbild darin findet, dass nach ihrer Vergewaltigung sie sich die Schuld gibt.
Dass Täter wie Opfer die Kraft zum Weiterleben dadurch finden, dass sie sich weigern, das Tatgeschehen anzuerkennen und zu verarbeiten, wird im Roman nicht angesprochen, diese Parallele kann nur interpretatorisch hineingelegt werden.
... erschrieb sich vor meinen träumenden Augen eine Geschichte. Stein um Stein [...]. Wie schön, dachte ich, erwachend, vollkommen, nur schade, dass ich nichts behalten konnte. Aber ich würde sie weitersuchen, die Geschichte, meine Geschichte.
"Sie arbeitet am dritten Teil ihrer Trilogie, will aber zunächst einen weiteren Lyrikband veröffentlichen." (Wikipediaartikel)

(Zunächst habe ich - brav [;-)] der Anweisung von Hildegards Deutschlehrer Rebmann folgend - keinen Text über Hahns Romane gelesen. Die weiteren Passagen gehen von der Kenntnis weiterer Texte aus.)

Dass die Heldin Hildegard oder Hilla Palm heißt, ist wohl eine Huldigung der Autorin an Hilde Domin. Für mich ein sympathischer Zug.

24 Dezember 2011

Goethe

"ein poetisches Werk weiß ich auszuführen und zu verantworten, aber die Lebenswerke haben mir nie recht gelingen wollen" (Goethe)
"Man hat mich immer als einen vom Glück besonders Begünstigten gepriesen; auch will ich mich nicht beklagen und den Gang meines Lebens nicht schelten. Allein im Grunde ist es nichts als Mühe und Arbeit gewesen, und ich kann wohl sagen, daß ich in meinen fünfundsiebzig Jahren keine vier Wochen eigentliches Behagen gehabt. Es war das ewige Wälzen eines Steines, der immer von neuem gehoben sein wollte. Mein eigentliches Glück war mein poetisches Sinnen und Schaffen." (Goethe 1824 zu Eckermann)
"Man wird das Politische bei Goethe im umfassenderen Rahmen einer geglückten Lebensführung betrachten müssen, vergleichbar mit der praktischen Philosophie der antiken Griechen."
Rudolf Augstein: Gleichgültig für alles Deutsche (über den politischen und privaten Dichterfürsten Goethe)

Die Instrumentalisierung seiner Umgebung: August, Christiane:
"Wir lieben an einem jungen Frauenzimmer ganz andere Dinge als den Verstand. Wir lieben an ihr das Schöne, das Jugendliche, das Neckische, das Zutrauliche, den Charakter, ihre Fehler, ihre Kapricen, und Gott weiß was alles Unaussprechliche sonst; aber wir lieben nicht ihren Verstand. Allein der Verstand ist nicht dasjenige, was fähig wäre, uns zu entzünden und eine Leidenschaft zu erwecken." (Goethe zu Eckermann)

"Dass er sie bei offiziellen Einladungen geradezu verbarg, schien die junge Frau nicht weiter zu stören. Christiane war in hohem Maße bereit, sich den Wünschen des Dichters zu fügen." (Augstein: Gleichgültig für alles Deutsche)
Sigrid Damm hat in Christiane und Goethe deutlich gemacht, dass Christiane erst nach 10 Jahren, nach einer Krise, wo Goethe sie zu verstoßen drohte, diese Haltung gelernt hat. Und sie hat wahrscheinlich gemacht, dass diese mannhafte Unterdrückung ihrer Eifersucht ihr ihre Gesundheit - und letztlich das Leben - gekostet hat.

Goethe in "Maximen und Reflexionen" über Theorien:
„Theorien sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gern los sein möchte und an ihrer Stelle deswegen Bilder, Begriffe, ja oft nur Worte einschiebt.“ (Zur Naturwissenschaft)
"Die große Aufgabe wäre, die mathematisch-philosophischen Theorien aus den Teilen der Physik zu verbannen, in welchen sie Erkenntnis, anstatt sie zu fördern, nur verhindern und in welchen die mathematische Behandlung durch Einseitigkeit der Entwicklung der neuern wissenschaftlichen Bildung eine so verkehrte Anwendung gefunden hat." (aus dem Nachlass)

Vergleiche dazu auch den Aufsatz von Manfred Osten: Die Europäer - von Dämonen geplagte Wesen von 2007.

19 Dezember 2011

Welches Buch ist das?

Das verborgene Wort
"Sprache war allmächtig. Allmächtiger als der liebe Gott. Was war die wunderbare Brotvermehrung mit fünftausend Broten aus einem gegen die unendliche Wortvermehrung aus sechsundzwanzig Buchstaben? Jedes Buch ein neues Brot, jedes Wort ein Stück davon." (S.62/63)
Sammlung schöner Wörter und Sätze
harter, verschlossener Vater
schwache Mutter
sehr fromme Großmutter
Frau Peps, die Handtasche, zum Sprechen
Wutsteine zum in den Rhein Werfen
Buchsteine zum Lesen
Großvater zum Lernen, wie man dem Leben begegnen kann
Vokale vertauschen
ein Altar für Friedrich
gebürstet von Frederico
Sigismund
Michael Kohlhaas
Nathan
Nashörner
Lieschen Bormacher: "So war das damals. Die einen aus Überzeugung, die andern aus Angst." (S.375)
Peter und Odermennig
das Lexikon
Büroarbeit
Frau Wachtel
Stenografie und Schreibmaschine
"dachte an Lene und ihren Botho und daß sie mit Niembsch hatte vorliebnehmen müssen" (S.566)
Da Ulla Hahn ihre Leser nicht darüber aufklärt, wie sehr Hildegard hier Fontane verballhornt, sei hier ausdrücklich festgehalten: Der Mann, über den Botho sagt "Gideon ist besser als Botho", heißt Franke, und Lene heißt mit Mädchennamen Nimptsch. Niembsch ist Teil des Namens von Nikolaus Franz Niembsch (seit 1820) Edler von Strehlenau, besser bekannt als Nikolaus Lenau. Und Lenau hat weder mit Fontane noch mit Lene Nimptsch etwas zu tun.
Underberg, Escorial grün, spiritus verde
Lehrer Mohren, Pfarrer Kreuzkamp und Lehrer Rosenberg
Offenbarung des Johannes 2, 17

Meine Vorstellung des Buches bei Bücher [Die zwischenzeitlich toten Links sind am 17.2.16 geändert worden.]

17 Dezember 2011

Frisch, Brecht, Mann und Goethe

Frisch war tief beeindruckt von Brecht und berichtet, dass er von keinem Mann so viel geträumt habe wie von Brecht.
Mit Thomas Mann hat er keinen Kontakt gesucht, obwohl der nicht weit entfernt wohnte. Vielleicht störte ihn zu sehr die Ära als Großschriftsteller, die Stilisierung auf Goethe hin.
Und doch ist die ständige Benutzung von biographischem Material Frisch und Goethe gemeinsam. Was Herder über Goethe schrieb, hätte man ähnlich auch über Frisch sagen können:
Der Künstler, "der auch seine Freunde und was ihm vorkommt, bloß als Papier ansieht, auf welches er schreibt". (Wenn man an Montauk und seine Aussagen über Ehefrauen und andere denkt. Marianne Frisch: „ich habe nicht mit dir gelebt als literarisches material, ich verbiete es, dass du über mich schreibst.“ sieh Wikipedaartikel)
Entsprechend fordert Goethe von seiner Familie immer wieder Brieftagebücher, um Lebensstoff zu erhalten, und formulierte einmal sogar: "Wenn ich zwölf Söhne hätte, so schickte ich jeden an einen anderen Ort, um an meinem eigen Fleisch und Blut zu erfahren, wie es überall aussieht."
(Zitate nach S. Damm: Christiane und Goethe, S.380)

16 Dezember 2011

Der "lange Nostitz" bei Christiane Vulpius und Fontane

"Ein Offizier von Berlin von den Gensd'armes [..] Ein Herr von Nostiz, der mit seinem Vater da ist, so was Großes habe ich noch nicht gesehen [..] Aber mein Gott, wie schön tanzte der! [...] Das war ein Tänzer! so habe ich noch mit keinem getanzet." So schreibt Christiane Vulpius, Goethes Lebensgefährtin, 1803 von ihrem Aufenthalt in Bad Lauchstädt. (Sieh: Sigrid Damm: Christiane und Goethe, S.305)

Bei Fontane heißt es dann in "Schach von Wuthenow. Erzählung aus der Zeit des
Regiments Gensdarmes":
» [...] Aber alle Welt, da steigt ja der lange Nostitz aus der Versenkung. Sehen Sie, Sander, er nimmt gar kein Ende...«
Wirklich, es war Nostitz, der, unter Benutzung eines geheimen Eingangs, eben die Kellertreppe hinaufstolperte, Nostitz von den Gensdarmes, der längste Lieutenant der Armee, der, trotzdem er aus dem Sächsischen stammte, seiner sechs Fuß drei Zoll halber so ziemlich ohne Widerrede beim Eliteregiment Gensdarmes eingestellt und mit einem verbliebenen kleinen Reste von Antagonismus mittlerweile längst fertig geworden war. Ein tollkühner Reiter und ein noch tollkühnerer Cour- und Schuldenmacher, war er seit lang ein Allerbeliebtester im Regiment, so beliebt, daß ihn sich der »Prinz«, der kein andrer war als Prinz Louis, bei Gelegenheit der vorjährigen Mobilisierung, zum Adjutanten erbeten hatte. (Schach von Wuthenow 3. Kapitel, S.390/91)

Ob Fontane die Briefstelle kannte und daraus den Coursmacher Nostitz kreierte? Oder ob Fontane bei seinem Nostitz an den Kavalleriegeneral August Ludwig von Nostitz gedacht hat, der 1802 in preußische Dienste trat und Generaladjutant Friedrich Wilhelm des III. wurde?
Jedenfalls waren sie beide groß, Mitglieder des Regiments Gendarmes, das nach der preußischen Niederlage bei Jena und Auerstedt aufgelöst wurde, und bei Frauen nicht ganz erfolglos, der Nostiz der Christiane und der Nostitz Fontanes. Und Kavalleristen wie der bekannte preußische General Nostitz.
Vielleicht hat die Fontaneforschung die Frage schon geklärt, für mich bleibt sie noch offen.

10 Dezember 2011

Goethes "Kampagne in Frankreich"

"Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen." So hat Goethe laut seiner Kampagne in Frankreich, die er von 1819-1822 verfasste, am Abend des 19.9.1792 bei der Kanonade von Valmy gesagt.
In einem Brief an Karl Ludwig von Knebel schrieb er am 27.9.1792 weit weniger emphatisch, aber sehr ähnlich: "Es ist mir sehr lieb, dass ich das alles mit Augen gesehen habe und dass ich, wenn von dieser wichtigen Epoche die Rede ist, sagen kann - et quorum pars minima fui (und worin ich eine kleine Rolle spielte." (zitiert nach Sigrid Damm: Christiane und Goethe, Frankfurt u. Leipzig 1998, S.168)
Es ist unwahrscheinlich, dass er sich nach ca. 30 Jahren noch an eine Formulierung erinnern konnte, andererseits ist die Briefstelle ein Beleg dafür, dass er sich schon damals der Bedeutung des Vorgangs bewusst war.

Zu dieser Kampagne vgl. auch den Bericht des Anonymus "Biedermann"
https://twitter.com/mdemanto/status/1282004846812573696

06 Dezember 2011

Aus Kellers Briefen

"Es ist mir von der Intendanz aus erst jetzt ein Freibillett angeboten worden als einem strebenden Jüngling, allein ich nahm es nicht mehr an, da ich doch öfter hingehen müßte und ich gerade jetzt nicht mehr Zeit habe, und mit meinen eigenen Produkten zu sehr beschäftigt bin. Ich habe eine mäßige Reihe von Stoffen, sowohl komische wie tragische, die ich durchführen will. Doch sind diese Sachen nicht das, was ich für das Absolute, auch in Hinsicht meiner persönlichen Verhältnisse, halte, vielmehr betrachte ich sie für eine Übergangstätigkeit oder einen Anfang, da einerseits ich selbst noch nicht bei der höchsten Erfahrung, deren ich mich fähig glaube, angelangt bin, und man andrerseits nicht wissen kann, welche Forderungen die kommenden Jahre durch ihre geschichtliche wie wissenschaftliche Entwicklung, beide nicht vorauszusehen, aufstellen werden. Inzwischen habe ich mir die größte Einfachheit und Klarheit zum Prinzip gemacht; keine Intrige und Verwicklung, kein Zufall usf., sondern das reine Aufeinanderwirken menschlicher Leidenschaften und innerlich notwendige Konflikte; dabei möglichst vollkommene Übersicht und Voraussicht des Zuschauers alles dessen, was kommt und wie es kommt; denn nur hierin besteht ein wahrer und edler Genuß für ihn."
(Keller: Brief an Baumgartner September 1851)

"Ich kann jetzt endlich sagen, daß ich in ein kontinuierliches und ergiebiges Arbeiten hineingekommen bin und denke mich binnen einem Vierteljahre herauszufressen. Das Romanzerogedicht werde ich auf Weihnachten nun doch allein herausgeben, da es in dem Gedichtbändchen nicht mehr Platz hatte, ›weil die vorrätigen gepreßten und vergoldeten Pappdeckel zu eng seien‹. Das kommt von unserer Buchbinderpoesie. Man wird nächstens leere Einbände kaufen mit schönen Titeln. Vieweg hat vor zwei Jahren die starke Zahl von 1500 gedruckt mit der Bedingung, daß er nach einiger Zeit den Rest, der nicht verkauft sei, als zweite Auflage mit Vermehrung, die ich unentgeltlich liefern muß, versende. Die Auflagen der Geibel usw. sind nur 500 stark; Vieweg hat mir also drei Auflagen mit einer abgezwackt. Doch muß er mir nun den Romanzero erklecklich bezahlen..." (Brief an Hettner 15.10.1853)

"Ihr Brief, liebster Freund, so willkommen er mir ist, hat mich doch in ärgerlicher Weise an meiner Saumseligkeit ertappt, mit welcher ich seit Monaten mit einem Briefe an Sie laborierte. Der Winter ist mir zum ersten Mal fast unerträglich geworden und hat fast alle Schreiberei lahmgelegt. Immer grau und lichtlos, dabei ungewöhnlich kalt und schneereich, nach vorangegangenem Regenjahr, hat er mir fast täglich namentlich die Morgenstunden vereitelt. Ein einziges Mal hatte ich neulich ein Frühvergnügen, als ich eines Kaminfegers wegen um vier Uhr aufstehen mußte, der den Ofen zu reinigen hatte. Da sah ich das ganze Alpengebirge im Süden, auf acht bis zwölf Meilen Entfernung, im hellen Mondscheine liegen, wie einen Traum, durch die vom Föhnwinde verdünnte Luft. Am Tage war natürlich alles wieder Nebel und Düsternis ..." (Brief an Storm, 26.2.1879)

Gottfried Keller

Noch als der "Grüne Heinrich" schon erschienen war, sah sich Keller primär als Dramatiker. Seine Briefe aus dieser Zeit sind voll von poetischen Überlegungen zum Drama.
In seiner Autobiographie von 1889 heißt es dann:
Ferner dürften einige jener dramatischen Projekte aus den jüngern Jahren in Gestalt von Erzählungen erscheinen, um die so lange Jahre vorgeschwebten Stoffe oder Erfindungen wenigstens als Schatten der Erinnerung zu erhalten und zu gewahren, ob die Welt vielleicht doch ein ausgelöschtes Lampenlicht darin erkennen wolle. Sollte es der Fall sein, wäre der Schaden, wo die Bühne wie ein Dornröschen von dem abschreckenden Verfallsgeschrei umschanzt ist, nicht groß.(Keller: Autobiographie von 1889)

30 November 2011

Betrachtungen zur Literatur in Immermanns Münchhausen

"Der Jäger nahm auch das Blatt dem Alten aus der Hand. In der Mitte stand das Wort: Nizza und kein Komma oder Punktum dahinter. Er stellte sich an den Tisch, legte das Blatt zurecht und richtete das Glas darauf, um zu sehen, was ihm dasselbe aus den Ecken und Winkeln zusammenführen würde.
Das Auge des Dichters gleicht einem solchen Glase. Es versammelt zum Bilde, was weit umher zerstreut ist und keine Gestalt annehmen zu können scheint, und oft verschwindet ihm das, was ihm zunächst vorschwebt." (Immermann: Münchhausen, 6. Buch 16. Kapitel, S.623)

28 November 2011

Münchhausens Kleinkinderzeit unter den Ziegen am Helikon

Mittags rasteten wir gewöhnlich auf einer sonnigen Halde. Dann kamen die Gatten der Ziegen zu einem kurzen, aber traulichen Besuche. Sie bewohnten eine andere Felsengrotte an der entgegengesetzten Seite des Berges und führten eine abgesonderte Wirtschaft, denn zwischen beiden Geschlechtern bestanden hier die edelsten und keuschesten Verhältnisse. Dann begannen die gymnischen Spiele der Jugend, welchen nur in dem niedern Zustande gemeiner zahmer Ziegen die herabwürdigende Bezeichnung von Bockssprüngen zukommen kann. Hier war in diesen Spielen feurige Kraft und die Blume der komischen Grazie zu schauen. Rings im Kreise gelagert freuten sich die sanften Mütter und die ernsten, ehrwürdigen, bebarteten Väter der herrlichen überquellenden Lust und dachten ihrer einstigen Zeit. Meldete sich nun wieder der Gläubiger unter dem Zwerchfell, der nie die Schuld einzufordern vergißt, d.h. wollten die Ziegen und ihre Gatten noch etwas fressen, so schied man mit herzlichem Gruße und dem frohen, getrosten Worte: »Auf Wiedersehen!« Beide Geschlechter gingen zu ihren Weideplätzen, und nun wurde noch ein leichtes Vesperfutter abgerupft. Wenn aber die dämmernde Eos mit Rosenfingern herabsank, und der Abendtau den klassischen Boden zu netzen begann, schritten wir lieblich meckernd heimwärts, erreichten vor der völligen Finsternis die bergende Höhle und streckten uns saugend oder wiederkäuend in ihrer behaglichen Wärme auf dem sammetnen Moose aus. Bald goß ein leichter, träumeloser Schlummer seinen Balsam auf uns nieder, machte unserem Saugen und Wiederkäuen ein Ende.
[313] Ich sage: »Wir«, ich sage: »Uns«, ich sage: »Unserem«. Mit mir war nämlich eine wunderbare Veränderung vorgegangen. Ich lernte von Tage zu Tage flinker auf allen vieren laufen, ich nahm an den gymnischen Spielen der Jugend, bei welchen ich mich anfangs höchst ungeschickt betragen hatte, allgemach immer dreister teil und rannte eines Tages erhobenen Leibes, Kopf gegen Kopf mit einem Böcklein, welches mich zu diesem Stoßkampfe herausgefordert hatte, so tapfer zusammen, daß das Böcklein stürzte, ich aber stehen blieb, worüber alle Ziegen und ihre Gatten ein herzlich meckerndes Gelächter aufschlugen. Ich hatte, da mir die Milchnahrung nicht genügte, mich an das Nagen von Gräsern und Knabbern von Baumrinde gegeben, zuerst den heftigsten Widerwillen gegen diese Speise verspürt, allmählich aber ihn schwinden sehen und gefunden, oder zu finden gewähnt, daß Gras wie grüner Kohl und Rinde wie Krautsalat schmecke – alles das war in mir vorgegangen, aber ich hatte dessen nicht geachtet, ...
(Immermann: Münchhausen, 3. Buch 9. Kapitel, S.312-313)

Münchhausen wird von einem Geier zum Musenquell entführt

Gesperret lange Zeit in eine Tasche,
Selbständigwerdenwollend ausgekrochen,
Nahm in die Krallen dich der Gei'r, der rasche,
Dem Albions Großmut drauf den Hals gebrochen,
Und als dir nun gesunken die Courage,
Fühlst du in Grimmen, Glühen, Wallen, Pochen
Dein Herz gelöset fluten gleich der Träne
Des Stocks im Lenz, am Born der Hippokrene!

Ja, ich hatte unversehens aus der Hippokrene getrunken und war sonach am Helikon! Meine Lippen öffneten sich abermals und skandierten unwillkürlich:

Sauerbereiteter Wurm des gütigsten Vaters,
Für die Kadettenanstalt des größesten Sultans
Mit dem Säbel aus Blech bewaffneter Knabe,
Streife das rote Collet und die weißen batistnen
Höschen vom Leibe dir ab und glänze in reiner
Klassischer Nacktheit!

Wirklich warf ich Säbel, Collet, Turban, Pumphöschen, kurz alles und jedes ab, wälzte und kugelte mich wie toll umher, unwillkürlich, von dem Musenwasser getrieben. Schon hatten sich wieder neue Bilder in meine Seele und Weisen auf meine Lippen gedrängt; ich sang:

Feinsliebchen, wenn du suchest mich,
Trala!
Du findest mich ganz sicherlich
Sasa!
[305] Wie bei der Lamp' ich sitz' und mach'
Ein Liedchen für den Almanach!

Feinsliebchen, weißt du, was das ist?
Trala!
Ein Büchlein voll von Jesu Christ
Sasa!
Und Blümelein und O! und Ach!
Das ist der Musenalmanach!

Ich hatte rasch den Entschluß gefaßt, einen Musenalmanach zu schreiben, ganz allein ich selbst; um mir mein Brot zu verdienen, ...
(Immermann: Münchhausen, 3. Buch 9. Kapitel, S.304-305)

27 November 2011

Freiherr von Münchhausen erfüllt den Schlossbewohnern ihre Wünsche

Freiherr von Münchhausen bietet den Schlossbewohnern das, was sie sich wünschen. (Hervorhebungen im Text von mir)
"In den nächsten Tagen nach der Ankunft des Fremden ging das schwärmende Entzücken der Schloßbewohner über den wunderbaren Mann in den ruhigeren, aber um so festeren Glauben über, daß in ihm der vom Verhängnis bestimmte Heiland ihrer Wünsche erschienen sei. Denn der alte Baron merkte schon am ersten Abende, an welchem er Münchhausens Unterhaltung genoß, daß mit den Kenntnissen, Erfahrungen, Schicksalen, Blicken, Ideen und Hypothesen seines Gastes niemand zwischen Himmel und Erde sich zu messen vermöge. Er war, seinen Erzählungen zufolge, fast in allen bekannten und unbekannten Gegenden der Erde gewesen, hatte sämtliche Künste [102] und Wissenschaften getrieben, zu Weinsberg Blicke in das Geisterreich getan, war durch alle Lagen des Lebens abwechselnd als Küchenjunge, Krieger, Staatsmann, Naturforscher und Maschinenbauer gegangen. Selbst in außermenschliche Regionen war sein Lebenslos geworfen worden; er ließ nach den ersten Stunden der Bekanntschaft merken, daß er einen Teil seiner Tage unter dem Vieh zugebracht habe. [...]
[103] Mit dem Fräulein gestaltete sich das Verhältnis des Gastes bald gründlich und tief in das zarte Verstehen ohne Worte aus, welches unsere sinnigen und hochstehenden Frauen so sehr lieben. Wenn sie ihm zuflüsterte, ein unaussprechliches Etwas durchwoge sie, so versicherte er, daß er sie vollkommen begreife; und konnte sie für den Drang ihrer Empfindungen nur Vordersätze ohne Nachsätze finden, so ließ er sie ahnen, daß letztere in seiner verschwiegenen Seele ausgesprochen ruhten. [...]
Die Persönlichkeit Münchhausens nebst seinen Reden hatte nicht verfehlen können, auch auf den Schulmeister einen tiefen Eindruck zu machen; wir wissen, welche Aussichten für die Bestätigung [104] seiner teuersten Überzeugungen auch er an diesen Mann des Schicksals knüpfte. Nun aber konnte er sich schon nicht mit der Darstellungsweise Münchhausens überall einverstanden erklären.[...] Außerdem hatte er zu bemerken, daß Münchhausen, der ihn für einen untergeordneten Mitesser ansah, wie er es denn in der Tat auch war, ihm keinesweges mit der gefälligen Aufmerksamkeit begegnete, wie dem alten Baron und dem Fräulein, ja sich sogar vergebens von ihm anmahnen ließ, die Wanderung der vertriebenen Spartaner nach dem Fürstentume Hechelkram urkundlich für ihn auseinanderzusetzen.
Er war daher abwechselnd böse auf den Freiherrn, und hingerissen von ihm." (Immermann: Münchhausen, 1. Buch 9. Kapitel, S.101-104)

Lehrer kommt durch neuen Lehrplan um den Verstand

 Da ereignete es sich, daß die allgemeinen Steigerungen des Zeitalters auch einen neuen Lehrplan im Lande hervorriefen, der bis zu den Dorfschulmeistern umbildend durchgreifen sollte. Seine Vorgesetzten schickten ihm ein Lehrbuch der deutschen Sprache zu, eines von denen, welche die ABC-Wissenschaft tiefsinnig und philosophisch begründen wollen, und erteilten ihm die Weisung, seine bisherige rohe Empirie zu rationalisieren, sich selbst zuvörderst aus dem Buche zu unterrichten, und dann danach die veränderte Belehrung der Jugend anzufangen.
Der Schulmeister las das Buch durch, er las es noch einmal durch, er las es von hinten nach vorn, er las es aus der Mitte, und er wußte nicht, was er gelesen hatte. Denn es war darin gehandelt von Stimmlauten und Mitlauten, von Auf- In- und Umlauten; er sollte daraus die Laute trüben und verdünnen lernen, er sollte durch Säuseln, Zischen, Pressen, durch Näseln und Gurgeln die Laute hervorbringen, er vernahm, daß die Sprache Wurzeln treibe und Seitenwurzeln, er erfuhr endlich daraus, daß das I der reine Urlaut sei, und daß dessen Erzeugung durch starkes Zusammendrücken des Kehlkopfes nach dem Gaumen hin geschehe.
Er bat Gott um Erleuchtung in diesen Finsternissen, aber sein Flehen prallte zurück von dem ehernen Himmel. Er setzte sich wieder vor das Buch, mit der Brille auf der Nase, um schärfer zu sehen, wiewohl er bei Tageslicht wohl noch ohne Gläser fertig werden konnte. Ach, nur deutlicher traten seinen bewaffneten Augen die furchtbaren Rätsel des Daseins, die Sause-Zisch- Preß- Nasen- und Gurgellaute entgegen! Darauf legte er das Buch weg, fütterte seine Gänse und gab einem Jungen, der gerade dazukam und sagte, der Vater wolle das Schulgeld nicht zahlen, zwei derbe Maulschellen, um durch das praktische Leben Aufschluß für die Theorie zu gewinnen. Umsonst. Er aß eine Knackwurst, sich körperlich zu stärken. Vergebens. Er leerte einen ganzen Senftopf, weil er gehört hatte, dieses Gewürz schärfe den Verstand. Eitles Bemühen!
Er legte das Buch abends vor dem Schlafengehen unter sein Kopfkissen. Leider fühlte er am anderen Morgen, daß weder [81] die Wurzeln, noch die Seitenwurzeln ihm in den Kopf gedrungen waren. Gern hätte er das Buch, wie Johannes jenes vom Engel getragne, auf die Gefahr der empfindlichsten Leibschmerzen hin, verschlungen, wäre er dadurch des Inhaltes Meister geworden; aber welche Hoffnungen konnte er nach dem Bisherigen von einem so gewagten Versuche hegen?
Die Schule stand still, die Kinder fingen Maikäfer, oder jagten die Enten in den Teich. Die Alten aber schüttelten den Kopf und sagten: »Mit dem Schulmeister hat es seine Richtigkeit nicht.« Eines Tages, nachdem er sich wieder in seinen verzweiflungsvollen Bemühungen um den Sinn der Dünnung und Trübung abgearbeitet hatte, rief er: »Wenn ich dieser Bestie von Buch nur erst an einem Flecke beigekommen bin, so gibt sich vielleicht das übrige von selbst!« – Er nahm sich vor, zuvörderst den reinen Urlaut I nach der Anweisung des Buchs zu erzeugen.
Er setzte sich daher auf seinen Grasfleck zum Rinde, welches dort, unbekümmert um rationelle Lauterzeugung, empirisch brummte, stemmte die Arme in die Seite, drückte den Kehlkopf stark nach dem Gaumen hin, und stieß nun die Töne hervor, welche sich auf solche Weise veranstalten lassen wollten. Sie waren höchst sonderbar, und so auffallend, daß selbst das Rind vom Grase emporblickte und seinen Herrn mitleidig ansah. Eine Menge Bauern hatte der Schall herbeigezogen; sie standen neugierig und verwundert um den Schulmeister her. »Gevattern!« rief dieser und ruhte einen Augenblick von seiner Anstrengung aus, »paßt einmal auf, ob es der reine Urlaut I wird?« Darauf gab er sich wieder an die Kehlkopf-Gaumendrückung. »Gott behüte!« riefen die Bauern, und gingen nach Hause, »der Schulmeister ist übergeschnappt, er quiekt schon wie ein Ferkel.«
Und wirklich stand der arme Schulmeister nahe an der Grenze, über welche die Bauern ihn bereits gesprungen glaubten. Die Frist war abgelaufen, welche man ihm zum Selbstunterrichte gesetzt hatte, er sollte jetzt nach dem Buche lesen lernen lassen, eine Visitation seiner Schule durch den Herrn Schulrat Thomasius nahte heran, die Verzweiflung trat ihm zum Herzen, und seine Gedanken begannen zu schwärmen.[82] Andre sind durch das Brüten über der unbefleckten Empfängnis der Jungfrau Maria, oder über dem Geheimnisse der Trinität, oder von dem Gedanken an die Ewigkeit verrückt geworden; warum sollte ein Dorfschulmeisterlein nicht durch eine moderne Sprachlehre den Verstand verlieren können? 
(Immermann: Münchhausen, 1. Buch 6. Kapitel, S.80/81)

26 November 2011

Immermann: Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken

Am Beginn leben von der Seitenlinie der adligen Familie Schnuck, die auf dem Schloss Schnick-Schnack-Schnurr ihren Sitz hat, nur noch der alte Baron und seine Tochter Emerentia. Diese hat als Zwölfjährige mal auf dem Schoß eines Fürsten gesessen.

Die Zeit verwischte zwar den Fürsten Xaverius Nicodemus den Zweiundzwanzigsten, da sie ihn nicht wiedersah, allgemach aus ihrem Herzen, dagegen setzte sich in ihr die Standesvorstellung, die Vorstellung an sich, daß sie bestimmt sei, mit einem Hechelkramischen Fürsten in zärtliche Verhältnisse zu treten, immer fester in ihr, wobei sie sich durchaus nichts Arges dachte, woran sie aber mit solcher Innigkeit hing, wie ihr Vater an seinen Geheimenratsgedanken. Weil nun das Herz nicht in das Leere seinen Drang versenden mag, sondern gern an liebevoll-gediegner Wirklichkeit ausruht, so hatte ihre schwärmende Phantasie nach einigem Umherschweifen im leeren Raume auch bald den sichtbaren Gegenstand gefunden, der ihr den künftigen Liebhaber unter den Fürsten von Hechelkram vorbilden mußte. In der Tat war dieser Gegenstand ganz geeignet, die Einbildungskraft eines fühlenden Mädchens knacken, der Mund wollte zwar seines Berufes wegen für die Gesetze reiner Verhältnisse etwas zu groß erscheinen, aber ein schwarzer Schnurrbart von wunderbarer Fülle, welcher über den Lippen hing, machte diesen Übelstand wieder gut. Die großen, grellen, himmelblauen Augen blickten sanft und grade vor sich hin, und ließen auf eine Seele vermuten, in welcher die Milde bei der Stärke wohnte.
Bekleidet war dieser idealisch-schöne Nußknacker mit einer rotlackierten Uniform und weißem Unterzeuge; auf dem Haupte aber trug er einen imponierenden Federhut. Emerentia hatte ihn zu ihrem Namenstage geschenkt bekommen. Sobald sie seiner ansichtig wurde, erzitterte sie, erseufzte sie, errötete sie. Niemand verstand ihre Regung. Sie aber trug den Nußknacker auf ihr einsames Zimmer, stellte ihn auf den Kamin, blickte ihn lange glühend und weinend an, und rief endlich: [63] »Ja, so muß der Mann aussehen, dem sich dieses volle Herz zu eigen ergeben soll!« Von der Zeit an war der Nußknacker ihr vorläufiger Geliebter. Sie hielt mit ihm die zärtlichsten Zwiegespräche, sie küßte seinen schwarzen Schnurrbart, sie hatte dem ganzen Verhältnisse eine so tiefe Beseelung gegeben, daß sie jederzeit des Abends, wenn sie sich zum Schlafengehen entkleiden wollte, schamhaft zuvor ihrem Freunde auf dem Kamin das Haupt mit einem Tuche verhüllte. Nußknacker ließ sich das alles gefallen, stand zuversichtlich auf seinen Füßen, und blickte mit den großen, blaugemalten Augen mildkräftig vor sich hin.
Emerentien hatte diese schöne Liebe rasch gereift. Von der Natur war sie, wenn auch nicht mit Reizen, doch mit blühenden Gesichtsfarben und runden Armen ausgestattet worden; es konnte ihr daher an Verehrern unter den benachbarten Landjunkern nicht fehlen. Aber sie schlug alle Bewerbungen von der Hand und sagte, sie folge ihrem Ideal und gehöre der Zukunft an. Unter dem Ideal verstand sie den auf dem Kamin und unter der Zukunft einen Hechelkramischen Fürsten.
Ihre Eltern ließen ihr ganz freie Hand. Sie sagten, in den Linien Schnuck-Muckelig und Schnuck-Puckelig seien alle Gefühle seit Jahrhunderten der heraldisch-richtigen Bahn gefolgt. Es lasse sich also nichts daran ändern und modeln, was ihre Tochter empfinde. (Immermann: Münchhausen, 1. Buch 1. Kapitel, S.62)
In Kenntnis dieser Passage wird man den Münchhausen zu Recht als einen satirischen Roman ansehen.

25 November 2011

Immermann: Sein Frauenbild in: Münchhausen

" »Ich habe noch nicht erlebt, daß einem ordentlichen Mädchen Schlechtigkeiten widerfahren wären. Eine reine Jungfer kann unter Räuber und Mörder gehen, unter Gesindel und Betrunkne, sie tun ihr so leicht nichts. Vorigen Herbst, als hier nebenan das Volk auf der Heide im Lager stand, hatte sich meine Tochter bei einem Gange über Feld unter einen marschierenden Trupp verloren. Ja, von niemand war sie angetastet worden; sie hatten sie, weil sie müde geworden war, ganz sauber auf einen von ihren Vorspannwagen gehoben, und so wurde sie hier am Hofe richtig abgesetzt. Ein Frauenzimmer, was die Mannsleute angreifen, pflegt von Hause aus angreifische Ware zu sein.«"  (Immermann: Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken, 2. Buch, 2. Kapitel, S.145)


"Sie sind Frau, und Sie waren Mädchen. Bebten und [795] erröteten Sie nicht, wenn Sie nur dachten, daß eine andere Hand als die Ihrige Ihre Schulter berühre? Und nun haben Sie Ihrem Gemahle Seele und Leib ergeben, Ihre Person haben Sie ihm hingegeben und Ihre jungfräuliche Ehre! Sind wir darin nicht gleich? Hat die Braut eines Kaisers etwas Höheres als die Majestät ihrer jungfräulichen Ehre? Ich bin eine Jungfrau, meine gnädige Baronesse. In der Ehre der Jungfrau fühle ich mich geadelt und der Braut des Kaisers gleich. Demütig nehme ich alles an von Oswald, aber nicht gedemütiget, mit freudigem Stolze kann auch ich Mitgift nennen und Eingebrachtes, denn was Ihr Vetter mir geben mag, ich gebe ihm stets doch mehr, als er zu geben jemals imstande sein wird." (Immermann: Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken, 8. Buch, 7. Kapitel, S.794/795)



22 November 2011

Was ist ein Sehrmann?

                   An Longus

Von Widerwarten eine Sorte kennen wir
Genau und haben ärgerlich sie oft belacht,
Ja einen eignen Namen ihr erschufest du,
Und heute noch beneid ich dir den kühnen Fund.

Zur Kurzweil gestern in der alten Handelsstadt,
Die mich herbergend einen Tag langweilete,
Ging ich vor Tisch, der Schiffe Ankunft mit zu sehn,
Nach dem Kanal, wo im Getümmel und Geschrei
Von tausendhändig aufgeregter Packmannschaft,
Faßwälzender, um Kist und Ballen fluchender,
Der tätige Faktor sich zeigt und, Gaffens halb,
Der Straßenjunge, beide Händ im Latze, steht.
Doch auf dem reinen Quaderdamme ab und zu
Spaziert' ein Pärchen; dieses faßt' ich mir ins Aug.
Im grünen, goldbeknöpften Frack ein junger Herr
Mit einer hübschen Dame, modisch aufgepfauscht.
Schnurrbartsbewußtsein trug und hob den ganzen Mann
Und glattgespannter Hosen Sicherheitsgefühl,
Kurz, von dem Hütchen bis hinab zum kleinen Sporn
Belebet' ihn vollendete Persönlichkeit.
Sie aber lachte pünktlich jedem dürftgen Scherz.
Der treue Pudel, an des Herren Knie gelockt,
Wird, ihr zum Spaße, schmerzlich in das Ohr gekneipt,
[811] Bis er im hohen Fistelton gehorsam heult,
Zu Nachahmung ich weiß nicht welcher Sängerin.

Nun, dieser Liebenswerte, dächt ich, ist doch schon
Beinahe was mein Longus einen Sehrmann nennt;
Und auch die Dame war in hohem Grade sehr.
Doch nicht die affektierte Fratze, nicht allein
Den Gecken zeichnet dieses einzge Wort, vielmehr,
Was sich mit Selbstgefälligkeit Bedeutung gibt,
Amtliches Air, vornehm ablehnende Manier,
Dies und noch manches andere begreifet es.

Der Prinzipal vom Comptoir und der Kanzellei
Empfängt den Assistenten oder Kommis – denkt,
Er kam nach elfe gestern nacht zu Hause erst –
Den andern Tag mit einem langen Sehrgesicht.
Die Kammerzofe, die kokette Kellnerin,
Nachdem sie erst den Schäker kühn gemacht, tut bös,
Da er nun vom geraubten Kusse weitergeht:
»Ich muß recht, recht sehr bitten!« sagt sie wiederholt
Mit seriösem Nachdruck zum Verlegenen.

Die Tugend selber zeiget sich in Sehrheit gern.
O hättest du den jungen Geistlichen gesehn,
Dem ich nur neulich an der Kirchtür hospitiert!
Wie Milch und Blut ein Männchen, durchaus musterhaft;
Er wußt es auch; im wohlgezognen Backenbart,
Im blonden, war kein Härchen, wett ich, ungezählt.
Die Predigt roch mir seltsamlich nach Leier und Schwert,
Er kam nicht weg vom schönen Tod fürs Vaterland;
Ein paarmal gar riskiert' er liberal zu sein,
Höchst liberal – nun, halsgefährlich macht' er's nicht,
Doch wurden ihm die Ohren sichtlich warm dabei.
Zuletzt, herabgestiegen von der Kanzel, rauscht
Er strahlend, Kopf und Schultern wiegend, rasch vorbei
Dem duftgen Reihen tief bewegter Jungfräulein.
Und richtig macht er ihnen ein Sehrkompliment.

Besonders ist die Großmut ungemein sehrhaft.
Denn der Student, von edlem Burschentum erglüht,
Der hochgesinnte Leutnant, schreibet seinem Feind
(Ach eine Träne Juliens vermochte das!)
[812] Nach schon erklärtem Ehrenkampfe, schnell versöhnt,
Lakonisch schön ein Sehrbillett – es rührt ihn selbst.
So ein Herr X, so ein Herr Z, als Rezensent,
Ist großer Sehrmann, Sehr-Sehrmann, just wenn er dir
Den Lorbeer reicht, beinahe mehr noch als wenn er
Sein höhnisch Sic! und Sapienti sat! hintrumpft.

Hiernächst versteht sich allerdings, daß viele auch
Nur teilweis und gelegentlich Sehrleute sind.
So haben wir an manchem herzlich lieben Freund
Ein unzweideutig Äderchen der Art bemerkt,
Und freilich immer eine Faust im Sack gemacht.
Doch wenn es nun vollendet erst erscheint, es sei
Mann oder Weib, der Menschheit Afterbild – o wer,
Dem sich im Busen ein gesundes Herz bewegt,
Erträgt es wohl? wem krümmte sich im Innern nicht
Das Eingeweide? Gift und Operment ist mir's!
Denn wären sie nur lächerlich! sie sind zumeist
Verrucht, abscheulich, wenn du sie beim Licht besiehst.
Kein Mensch beleidigt wie der Sehrmann und verletzt
Empfindlicher; wär's auch nur durch die Art wie er
Dich im Gespräch am Rockknopf faßt. Du schnöde Brut!
Wo einer auftritt, jedes Edle ist sogleich
Gelähmt, vernichtet neben ihnen, nichts behält
Den eignen, unbedingten Wert. Geht dir einmal
Der Mund in seiner Gegenwart begeistert auf,
Um was es sei – der Mann besitzt ein bleiernes,
Grausames Schweigen; völlig bringt dich's auf den Hund.
– Was hieße gottlos, wenn es dies Geschlecht nicht ist?
Und nicht im Schlaf auch fiel es ihnen ein, daß sie
Mit Haut und Haar des Teufels sind. Ich scherze nicht.
Durch Buße kommt ein Arger wohl zum Himmelreich:
Doch kann der Sehrmann Buße tun? O nimmermehr!
Drum fürcht ich, wenn sein abgeschiedner Geist dereinst
Sich, frech genug, des Paradieses Pforte naht,
Der rosigen, wo, Wache haltend, hellgelockt
Ein Engel lehnet, hingesenkt ein träumend Ohr
Den ewgen Melodien, die im Innern sind:
Aufschaut der Wächter, misset ruhig die Gestalt
Von Kopf zu Fuß, die fragende, und schüttelt jetzt
Mit sanftem Ernst, mitleidig fast, das schöne Haupt,
[813] Links deutend, ungern, mit der Hand, abwärts den Pfad.
Befremdet, ja beleidigt stellt mein Mann sich an,
Und zaudert noch; doch da er sieht, hier sei es Ernst,
Schwenkt er in höchster Sehrheit trotziglich, getrost
Sich ab und schwänzelt ungesäumt der Hölle zu.

Eduard Mörike, 1841

19 November 2011

Wird Schach heiraten und wen?


»Ich meinerseits glaube Sie zu verstehn,« unterbrach Alvensleben. »Aber Sie täuschen sich, Nostitz, wenn Sie daraus auf eine Partie schließen. Schach ist eine sehr eigenartige Natur, die, was man auch an ihr aussetzen mag, wenigstens manche psychologische Probleme stellt. Ich habe beispielsweise keinen Menschen kennengelernt, bei dem alles so ganz und gar auf das Ästhetische zurückzuführen wäre, womit es vielleicht in einem gewissen Zusammenhange steht, daß er überspannte Vorstellungen von Intaktheit und Ehe hat. Wenigstens von einer Ehe, wie er sie zu schließen wünscht. Und so bin ich denn wie von meinem Leben überzeugt, er wird niemals eine Witwe heiraten, auch die schönste nicht. Könnt aber hierüber noch irgendein Zweifel sein, so würd ihn ein Umstand beseitigen, und dieser eine Umstand heißt: › Victoire ‹.«
»Wie das?«
»Wie schon so mancher Heiratsplan an einer unrepräsentablen Mutter gescheitert ist, so würd er hier an einer unrepräsentablen Tochter scheitern. Er fühlt sich durch ihre mangelnde Schönheit geradezu geniert und erschrickt vor dem Gedanken, seine Normalität, wenn ich mich so ausdrücken darf, mit ihrer Unnormalität in irgendwelche Verbindung gebracht zu sehen. Er ist krankhaft abhängig, abhängig bis zur Schwäche, von dem Urteile der Menschen, speziell seiner Standesgenossen, und würde sich jederzeit außerstande fühlen, irgendeiner Prinzessin oder auch nur einer hochgestellten Dame Victoiren als seine Tochter vorzustellen.«
»Möglich. Aber dergleichen läßt sich vermeiden.«
»Doch schwer. Sie zurückzusetzen oder ganz einfach als Aschenbrödel zu behandeln, das widerstreitet seinem feinen Sinn, dazu hat er das Herz zu sehr auf dem rechten Fleck. Auch würde Frau von Carayon das einfach nicht dulden. Denn so gewiß sie Schach liebt, so gewiß liebt sie Victoire, ja, sie liebt diese noch um ein gut Teil mehr. Es ist ein absolut ideales Verhältnis zwischen Mutter und Tochter, und gerade dies Verhältnis ist es, was mir das Haus so wert gemacht hat und noch macht.«
»Also begraben wir die Partie«, sagte Bülow. »Mir persönlich zu besondrer Genugtuung und Freude, denn ich schwärme für diese Frau. Sie hat den ganzen Zauber des Wahren und Natürlichen, und selbst ihre Schwächen sind reizend und liebenswürdig. Und daneben dieser Schach! Er mag seine Meriten haben, meinetwegen, aber mir ist er nichts als ein Pedant und Wichtigtuer und zugleich die Verkörperung jener preußischen Beschränktheit, die nur drei Glaubensartikel hat – erstes Hauptstück: ›Die Welt ruht nicht sichrer auf den Schultern des Atlas als der preußische Staat auf den Schultern der preußischen Armee‹, zweites Hauptstück: ›Der preußische Infanterieangriff ist unwiderstehlich‹, und drittens und letztens: ›Eine Schlacht ist nie verloren, solange das Regiment Garde du Corps nicht angegriffen hat.‹ Oder natürlich auch das Regiment Gensdarmes. Denn sie sind Geschwister, Zwillingsbrüder. Ich verabscheue solche Redensarten, und der Tag ist nahe, wo die Welt die Hohlheit solcher Rodomontaden erkennen wird.«

Peregrina 5

Die Liebe, sagt man, steht am Pfahl gebunden,
Geht endlich arm, zerrüttet, unbeschuht;
Dies edle Haupt hat nicht mehr, wo es ruht,
Mit Tränen netzet sie der Füße Wunden.

Ach, Peregrinen hab ich so gefunden!
Schön war ihr Wahnsinn, ihrer Wange Glut,
Noch scherzend in der Frühlingsstürme Wut,
Und wilde Kränze in das Haar gewunden.

War's möglich, solche Schönheit zu verlassen?
– So kehrt nur reizender das alte Glück!
O komm, in diese Arme dich zu fassen!

Doch weh! o weh! was soll mir dieser Blick?
Sie küßt mich zwischen Lieben noch und Hassen,
Sie kehrt sich ab, und kehrt mir nie zurück.

16 November 2011

J. Fischer: Die Rückkehr der Geschichte

Ich beginne gerade - zwischen Wichtigerem - die Lektüre von Fischers "Die Rückkehr der Geschichte".
Das Urteil der Rezensenten geht erstaunlich weit auseinander. Für mich ist es das Buch eines Politikers zu einem historischen Thema, mit schönen Formulierungen und sehr undifferenziert.
Dankbar bin ich für die vielen Zitate, die das Auswärtige Amt geliefert haben dürfte; denn Fischer war bei der Abfassung, 2005, noch im Amt und hatte keine Zeit für eigene Recherchen.
Aus heutiger Sicht bemerkenswert ist, dass er großen Wert darauf legt, dass die Politik und nicht etwa die Wirtschaft die zukünftige Entwicklung bestimme.

Ein paar Zitate:
"In den Ersten Weltkrieg ritten die Armeen noch hoch zu Pferde hinein, und aus dem Zweiten Weltkrieg kam die Menschheit mit der Atombombe heraus." (S.10) - Eine Welt von Änderungen wird damit angedeutet: Die Entscheidungen von Militärs hätten in den Ersten Weltkrieg geführt, die Atombombe sei ein Phänomen, das die Situation der Menschheit präge, das ihr aber wie von außen zugekommen sei. Dazu ließe sich sehr viel sagen, doch hieße das, mehr in eine anschauliche Formulierung hineinstecken, als Fischer aussagen wollte.
"Heraklit, jener vorsokratische Philosoph im alten Griechenland, der bereits im 5. Jahrhundert vor Christus vermeldet hatte, daß der Krieg der Vater aller Dinge sei, war plötzlich wieder weitaus aktueller geworden als all die vielen Investmentbanken und Börsenkurse." - Nun ja, Krieg bringt sehr aktuelles und konkretes Leid über Menschen, während Investmentbanken und Börsenkurse immer nur abstrakte Entscheidungen und Augenblicksphänomene hervorbringen, über deren Bedeutung erst der Zusammenhang entscheidet. Eine sofortige Börsenschließung und ein weltweites konsequent keynesianistisches Programm hätten die Weltwirtschaftskrise verhindern oder doch zumindest erheblich abmildern können und so die grauenhaftesten historischen Folgen, den Aufstieg des Nationalsozialismus und den Holocaust vielleicht noch abwenden können. Aber das meint Fischer sicher nicht. Und dass Heraklit bei seiner Formulierung sicher an ein allgemeineres Phänomen gedacht hat als an den Angriff der Nato auf Serbien, den Fischer als von ihm mit zu verantworten zu "vermelden" hat, ist ohnehin außer Frage.
Unter Berufung auf Yehuda Bauer spricht Fischer vom dritten Totalitarismus, diesmal ohne seine Aussagen in einer griffigen Formulierung zu verdichten. Das zeugt zwar von einem erheblich analytischeren Zugriff als der "Kreuzzug", von dem Bush junior gesprochen hat, doch die Vergleichbarkeit mit Nationalsozialismus und Stalinismus ist doch höchst beschränkt und eröffnet kein verbessertes Verständnis des Phänomens. Denn die Gewalthandlungen der al-Qaida und die religiös-politische Fanatisierung in Gesellschaften, in denen der Islam die vorherrschende Religion ist, stehen gewiss nicht in dem engen Zusammenhang, wie es die Herrschaftsmechanismen in Nationalsozialismus und Stalinismus taten.

10 November 2011

Der Bräutigam schwärmt der Baut von den Freuden der Hochzeitsreise vor

"Denn Venedig, aller halben Widerrede der Frau von Carayon zum Trotz, hatte doch schließlich über Wuthenow gesiegt, und Schach, wenn die Rede darauf kam, hing mit einer ihm sonst völlig fremden Phantastik allen erdenklichen Reiseplänen und Reisebildern nach. Er wollte nach Sizilien hinüber und die Sireneninseln passieren, »ob frei oder an den Mast gebunden, überlaß er Victoiren und ihrem Vertrauen«. Und dann wollten sie nach Malta. Nicht um Maltas willen, o nein. Aber auf dem Wege dahin sei die Stelle, wo der geheimnisvolle schwarze Weltteil in Luftbildern und Spiegelungen ein allererstes Mal zu dem in Nebel und Schnee gebornen Hyperboreer spräche. Das sei die Stelle, wo die bilderreiche Fee wohne, die stumme Sirene, die mit dem Zauber ihrer Farbe fast noch verführerischer locke als die singende. Beständig wechselnd seien die Szenen und Gestalten ihrer Laterna magica, und während eben noch ein ermüdeter Zug über den gelben Sand ziehe, dehne sich's plötzlich wie grüne Triften, und unter der schattengebenden Palme säße die Schar der Männer, die Köpfe gebeugt und alle Pfeifen in Brand, und schwarz und braune Mädchen, ihre Flechten gelöst und wie zum Tanze geschürzt, erhüben die Becken und schlügen das Tamburin. Und mitunter sei's, als lach es. Und dann schwieg' es und schwänd es wieder. Und diese Spiegelung aus der geheimnisvollen Ferne, das sei das Ziel!
Und Victoire jubelte, hingerissen von der Lebhaftigkeit seiner Schilderung.
Aber im selben Augenblick überkam es sie bang und düster, und in ihrer Seele rief eine Stimme: Fata Morgana."

Theodor Fontane: Schach von Wuthenow, 18. Kapitel

Dieser Text stellt eine sehr deutliche epische Vorausdeutung dar.

Zur Einordnung und zur Interpretation der Handlung findet man mehr hier.
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09 November 2011

Elfenlied

Bei Nacht im Dorf der Wächter rief:
Elfe!
Ein ganz kleines Elfchen im Walde schlief –
Wohl um die Elfe! –

Und meint, es rief ihm aus dem Tal
Bei seinem Namen die Nachtigall,
Oder Silpelit hätt ihm gerufen.
Reibt sich der Elf die Augen aus,
Begibt sich vor sein Schneckenhaus,
Und ist als wie ein trunken Mann,
Sein Schläflein war nicht voll getan,
Und humpelt also tippe tapp
Durchs Haselholz ins Tal hinab,
Schlupft an der Mauer hin so dicht,
Da sitzt der Glühwurm, Licht an Licht.
»Was sind das helle Fensterlein?
Da drin wird eine Hochzeit sein:
Die Kleinen sitzen beim Mahle,
Und treiben's in dem Saale.
Da guck ich wohl ein wenig 'nein!«
– Pfui, stößt den Kopf an harten Stein!
Elfe, gelt, du hast genug?

Gukuk! Gukuk!

Eduard Mörike, 1831

Dass Mörike, als er mit 51 Jahren schließlich Vater wurde, seinen Töchtern lustige Geschichten und Scherzgedichte schrieb und außerdem sein komödiantische Talent voll ausreizte, kann man sich gut vorstellen. Aber dass dies Gedicht von einem 27-jährigen stammt, hat mich verwundert. Wie viel Sinn für Kinder muss dieser junge Mann gehabt haben!

05 November 2011

Mörike: Idylle vom Bodensee

Dem Lyriker und Märchenerzähler Eduard Mörike werden viele nicht zutrauen, eine ausführliche Idylle in Hexametern geschrieben zu haben: ein Lob auf Landschaft und ländliches Leben am Bodensee, doch auch eine ausführliche Schilderung eines Streichs, den die ländliche Jugend einer jungen Frau spielt, die ihrem allseits beliebten Freund um einer reichen Partie willen den Laufpass gibt.

 Dicht am Gestade des Sees, im Kleefeld, steht ein verlaßnes
Kirchlein, unter den Höhn, die, mit Obst und Reben bewachsen,
Halb das benachbarte Kloster und völlig das Dörfchen verstecken,
Jenes gewerbsame, das weitfahrende Schiffe beherbergt.
[… ]
Noch noch weilte die Sonn in Westen und wärmte des Kirchleins
Mauern; es schattete zierlich im Fenster die steinerne Rose
Innen sich ab an der Wand, an welche gelehnt auf den kühlen
Platten die Mähder vom Dorfe den Trunk einnahmen, der Schneider
Wendel und seines Weibes Verwandter, ein lediger Bursche,
Steffen genannt; die zwei. Zu ihnen gesellte sich grüßend
Martin, der Fischer, ein Siebziger schon, noch munter und rüstig;
Nicht wie seines Gewerbes die anderen, denen der Geist sich
Stumpft im gemächlichen Tun des gleich hinschleichenden Tages,
Denen die Zunge sogar in stummer Fische Gemeinschaft
Auch erstarrt, ein freundliches Wort nur mürrisch erwidernd.
Er nun stand in der Türe. Den Mostkrug reichte der Schneider
Ihm zum Bescheid und fragte, nachdem er getrunken, den Alten:
    »Fischer, wie lang ist's her, seit daß die Kapelle den Meßner
Nimmer gesehn und daß sie kein Vaterunser gehört hat?
Doch wohl ein sechzig Jahre, so schätz ich, oder darüber?«
    Aber der andere sagte darauf: Mitnichten! Es denkt mir,
Als ich ein Bursche mit achtzehn war, da pflegten die jungen
Ehfraun noch hierher am dritten Tag nach der Hochzeit
Beten zu gehn, nach altem Gebrauch, wann eben der Morgen
Grauete über dem See. Mit einer Gefreundtin alleine
Ging sie, die Neuvermählte, verhüllten Hauptes, und brachte
Eine wächserne Kerz und ließ den Küster die Glocke
Für sich läuten da droben, als welches besonderen Segen
Bringen sollte den Fraun, da mit ihr sich ein Wunder begeben.
[…]

Der Fischer berichtet von einer Glocke, die hier immer noch hänge, auch wenn die Kapelle schon lange nicht mehr genutzt werde.

»Aber«, so fuhr der Wendel nun fort, »wo kam denn die Glocke
Selber am Ende noch hin, die zuletzt für die rechte gedient hat?
Wurde sie etwa verkauft im Aufstreich, oder, ich will nicht
Hoffen, geraubt, wie die erste, von gottvergessenen Händen?«
    Ernstlicher Miene versetzte darauf der Befragte mit Schalkheit:
»Besser verborgen ist manches dem Menschen, denn daß er es wisse,
Sagt ein vortrefflicher Lehrer, Ambrosius, wenn es mir recht ist.
Denn wovon einer nicht weiß, und läg es ihm auch vor der Nase,
Dessen begehret er schon selbst nicht, daß er solches entwendend
Sein Gewissen beschwere, mit Gott so vermied er den Fallstrick.
Doch euch darf ich vertraun was ich nur in voriger Woche
Erst zufällig entdeckt; auch sagt ihr es beide nicht weiter.
Hört denn: weder verkauft im Aufstreich wurde die Glocke,
Noch kam sonst sie abhanden, durch Gaudieb', oder zur Kriegszeit,
Wo ja, zerstückt und zum groben Geschütze gegossen, schon manche
Lernte den schrecklichen Dienst: vielmehr zur Stunde noch hängt sie
Droben in ihrem Gebälk. Kein Mensch denkt dran und ich selber
Wunderte mich; doch zweifelt ihr etwa, so geht nur ein dreißig
Schritte zunächst da hinauf im Neubruch, neben des Schusters
Weinberg, bis zu dem Nußbaum links, da könnt ihr sie sehen,
Durch den zerrissenen Laden! Sie tritt mit der unteren Schweifung
Halb ins Licht; dem schärferen Aug entgeht sie nicht leichtlich.
Niemand weiß es bis jetzt, durch mich zum wenigsten niemand,
Außer dem Schultheiß, dem ich sogleich pflichtschuldige Meldung
Tat. Er salviere sie nur, eh es ruchtbar wird in der Gegend!
Wohl bald fänden sich da Liebhaber; ich stünde nicht gut für.
Denn an Gewicht drei Zentner, ich setze das mindeste, hat sie.
Kommt auf das Pfund ein Gulden, so macht sich die Rechnung von selber.
[…]
Der Schneider beschließt mit seinem Verwandten, die Glocke aus dem Turm zu holen, doch der Fischer belauscht sie dabei und geht dann nach Hause.

    Ländliche Muse! nun hemme den Schritt und eile so rasch nicht
Fort an das Ziel! Du liebest ja stets nach der Seite zu schweifen,
Und ruhst wo dir's gefällt. So wende dein offenes Antlitz
Hinter dich, fern in die Zeit, wo dein Liebling, jung noch mit andern,
Kühnerer Taten sich freute. Vergönn uns einen der Schwänke,
Deren er jetzo gedenkt auf dem Heimweg dort nach dem Dorfe.
Niemals-Alternde, du hast alles gesehen mit Augen!
[…]
Diesem Schwank widmet Mörike vier der sieben Gesänge der Idylle. Man kann ihn bei gutenberg.de nachlesen.

04 November 2011

Kasimir Edschmid: Der Liebesengel

"Sind Petrarca oder Dante schlechter, weil sie nicht ahnten, daß es Majas, Inkas und Papuas gab?" (S.106)
"Michelangelo hat sich ja nie um Menschen gekümmert, sondern immer nur um Ideen. Er war Pioniergeneral nicht gegen die Medici, sondern um die Freiheit zu verteidigen. Und er arbeitete an der 'Nacht', nicht  um einen Wicht wie Giuliano Medici zu preisen, sondern um, als der Kampf für die Freiheit verlorenging, sich mit seinem Schmerz inden Bezirk der Kunst zu retten." (S.138)
"Gäste nahm man überhaupt am besten mit in den Garten, da gehörten sie hin." (S151)

01 November 2011

Mörike: Maler Nolten

In "Maler Nolten"* unternimmt es Mörike, seine Vorstellungen von der ewigen Treue wahrer Liebender mit seinen eigenen Liebeserfahrungen in Einklang zu bringen. Seine Lösung: Wahre Liebe bleibt ihrem Gegenstand treu, doch kann sie getäuscht werden.
Bevor Nolten sich in die Gräfin verliebt, gewinnt er den Eindruck, seine geliebte Braut hätte mit ihm gebrochen.
(Dafür muss Agnes kurzfristig in einen leichten Wahnsinn verfallen, der ihr vormacht, sie sei der Liebe Noltens nicht wert.)
Agnes dagegen muss durch einen gut gemeinten Betrug dazu gebracht werden, ihre Liebe einem Briefpartner zuzuwenden, den sie für Nolten hält.
(Die Information, dass sie darüber getäuscht worden ist, lässt sie endgültig in Wahnsinn verfallen.)

Dass dafür einem Freund des Helden die Rolle zugeschoben wird, sich in eine Liebe einzuschleichen, sie auf sich zu fixieren, um sie dem Freund zu sichern, - ein wahnsinniger Plan, das nimmt Mörike in Kauf.

Ein Mann zwischen drei Frauen? (Mörikes Erfahrung mit Maria Meyer ist vermutlich die bedrängendste Erfahrung, die verarbeitet werden soll). Das ist nicht seine Schuld.
Eher noch ist zu akzeptieren, dass alle anderen wahnsinnig sind.

*Eine schöne Darstellung mit Wertung des Romans findet sich hier

Maler Nolten: Der Schluss

Nach dem Auftritt der Zigeunerin tritt bei Agnes der Wahnsinn auf.
In Nolten sieht sie einen Betrüger. Der wahre Nolten sei ihr wie ein Schauspieler in immer anderer Form gegenüber getreten: als Otto, als Schauspieler, als Maler. Als Beweis, dass Nolten sie wirklich geliebt habe, liest sie aus Larkens Briefen vor, die er unter Noltens Namen geschrieben hat.
Alle Heilungsversuche scheitern. Schließlich rät der Präsident Nolten an, sich zu entfernen, vielleicht könne Agnes ihn vermissen und dann bei seiner Rückkehr als den wahren Nolten anerkennen.
Dann aber gelingt es Agnes, aus ihrem Zimmer zu entkommen und sich in einen Brunnen zu stürzen.
Als Nolten zurückkehrt, hat er jeden Lebensmut verloren, obwohl man ihm Agnes' Tod zunächst verschweigt, geht er davon aus, dass sie tot ist.
In der Nacht vor Agnes' Beerdigung hört Nolten merkwürdige Musik, die der Gärtner und sein blinder Sohn, die bei Agnes wachen, nicht hören. Plötzlich hören sie sie auch, der Blinde hat ein Gesicht, wonach die Zigeunerin und Nolten zusammenstehen. Der Gärtner sieht Nolten leblos am Boden liegen.
"Hatte Agnesens Krankheit und Tod überall in der Gegend das größte Aufsehn und die lebhafteste Teilnahme erregt, so machte dieser neue Trauerfall einen wahrhaft panischen Eindruck auf die Gemüter der Menschen, zumal bis jetzt noch kein hinreichender Erklärungsgrund am Tage lag. Da indes doch irgendein heftiger Schrecken die tödliche Ursache gewesen sein muß, so lag allerdings bei der von Kummer und Verzweiflung erschöpften Natur des Malers die Annahme sehr nahe, daß hier die Einbildung, wie man mehr Beispiele hat, ihr Äußerstes getan. Dieser Meinung waren die Ärzte, sowie der Präsident. Doch fehlte es im Schlosse, je nachdem man auf gewisse Umstände einen ängstlichern Wert legen wollte, auch nicht an andern  Vermutungen, die, anfänglich nur leise angedeutet, von den Vernünftigen belächelt oder streng verwiesen, in kurzem gleichwohl mehr Beachtung und endlich stillschweigenden Glauben fanden." (Mörike: Maler Nolten, 2. Teil,
S.378-79)
Nach der Beerdigung des Brautpaares trifft ein Brief des Hofrates Jaßfeld an Nolten ein, der posthum geöffnet wird. Aus ihm geht hervor, dass er der Onkel Noltens und der Vater der Zigeunerin Elsbeth war. Die letzten Sätze des Romans lauten in der Erstfassung:
"Der Oheim ward fast rasend, als er den Tod des Neffen vernahm und daß nicht wenigstens noch sein Bekenntnis ihn hatte erreichen sollen! Mit größerer Ruhe empfing er die Nachricht von dem, vielleicht nur wenige Tage vor Theobalds Ende eingetretenen Tod seiner wahnsinnigen Tochter. Man hatte sie, wie der Präsident sogleich bei seiner Heimkunft Meldung tat, etliche Meilen von seinem Gute entseelt auf öffentlicher Straße gefunden, wo sie ohne Zweifel vor bloßer Entkräftung liegen geblieben. – Ihr Vater war von ihrer jammervollen Existenz seit Jahren unterrichtet. Er hatte früher unter der Hand einige Versuche gemacht, sie in einer geordneten Familie unterzubringen; aber sie fing, ihrer gewohnten Freiheit beraubt, wie ehmals ihre Mutter, augenscheinlich zu welken an, sie ergriff zu wiederholten Malen die Flucht mit großer List und da überdies ihr melancholisches Wesen, mit der Muttermilch eingesogen, durchaus unheilbar schien, so gab man sich zuletzt nicht Mühe mehr, sie einzufangen.
Noch ist nur übrig zu erwähnen, daß Gräfin Armond, seit lange krank und aller Welt abgestorben, jedoch mit Noltens Glück noch bis auf die letzte Zeit, und zwar in Verbindung mit dem Hofrat, insgeheim beschäftigt, jene kläglichen Schicksale nur wenige Monate überlebte." (Mörike: Maler Nolten, 2. TeilS.383)

31 Oktober 2011

Die Zigeunerin Elsbeth

»Lassen Sie uns«, sagt jetzt der Präsident zu Nolten, welcher noch immer ohne Besinnung an der Erde kauerte, »lassen Sie uns vernünftig und gefaßt schnelle Hülfe anwenden, Ihre Braut wird in kurzem die Augen wieder öffnen!« Also hob man vorsichtig die Scheinleiche auf das Polster und alle setzten sich in Bewegung, als auf einmal eine fremde Weiberstimme, welche ganz in der Nähe aus dichtem Gezweige hervordrang, einen plötzlichen Stillstand veranlaßte. Unwillkürlich ballte sich Theobalds Faust, da er die majestätische Gestalt der Zigeunerin mit keckem Schritt in die Mitte treten sah, aber die Gegenwart einer unnahbaren Macht schien alle seine Kraft in Bande zu schlagen.
Indes man Agnesen, von den Mädchen geschäftig begleitet, hinwegtrug, sagte Elisabeth mit ruhigem Ernst: »Wecket das Töchterchen ja nicht mehr auf! Entlaßt in Frieden ihren Geist, damit er nicht unwillig, gleich dem verscheuchten Vogel, in der unteren Nacht ankomme, verwundert, daß es so balde geschah. Denn sonst kehrt ächzend ihre Seele zurück, mich zu quälen und meinen Freund; es eifert, ich fürchte, die Liebe selber im Tode noch fort. Ich bin die Erwählte! mein ist dieser Mann! Aber er blickt mich nicht an, der Blöde! Laßt uns allein, damit er mich freundlich begrüße!«
Sie tritt auf Theobalden zu, der ihre Hand, wie sie ihn sanft anfassen will, mit Heftigkeit wegwirft. »Aus meinen Augen Verderberin! verhaßtes, freches Gespenst! das mir den Fluch nachschleppt, wohin ich immer trete! Auf ewig verwünscht, in die Hölle beschworen sei der Tag, da du mir zum ersten Male begegnet! Wie muß ich es büßen, daß mich als arglosen Knaben das heiligste Gefühl zu dir, zu deinem Unglück mitleidig hinzog, in welche schändliche Wut hat deine schwesterliche Neigung, in was für teuflische Bosheit hat deine geheuchelte Herzensgüte sich verkehrt! Aber ich konnte wissen, ich kindischer, rasender Tor, mit wem ich handeln ging! – Herr Gott im Himmel! nur diese Strafe ist zu hart – Elend auf Elend, unerhört und unglaublich, stürzt auf mich ein – O ihr, deren Blicke halb mit Erbarmen, halb mit entehrendem Argwohn auf mich, auf dieses Weib gerichtet sind, glaubt nicht, daß meine Schuld dem Jammer gleich sei, der mein Gehirn zerrüttet! Das Elend dieser Heimatlosen lest ihr auf ihrer Stirn – aus dieser Quelle floß mir schon ein übervolles Meer von Kummer und Verwirrung. Keine Verbrecherin darf ich sie nennen – sie verdiente mein Mitleid, ach, nicht meinen Haß! Doch wer kann billig sein, wer bleibt noch Mensch, wenn der barmherzige Himmel sich in Grausamkeiten erschöpft? Was? wär's ein Wunder, wenn hier auf der Stelle mich selbst ein tobender Wahnsinn ergriffe, mich fühllos machte gegen das Äußerste, Letzte, das – o ich seh es unaufhaltsam näher kommen! Was klag ich hier? was stehn wir alle hier? und droben der Engel ringt zwischen Leben und Tod – Sie stirbt! Sie stirbt! Soll ich sie sehn? kann ich sie noch retten? O folgt mir! – Wohin? dort kommt Margot eben von ihr! Ja – ja – auf ihrer Miene kann ich es lesen – Es ist geschehen – mit Agnes, mit Agnes ist es vorbei! – Hinweg! laßt mich fliehen! fliehen ans Ende der Welt –« Kraftvoll hält ihn Elisabeth fest, er stößt im ungeheuren Schmerz ein entsetzliches Wort gegen sie aus, aber sie umfaßt mit Geschrei seine Kniee und er kann sich nicht rühren. Der Präsident wendet das Auge von der herzzerreißenden Szene. »Weh! Wehe!« ruft Elisabeth, »wenn mein Geliebter mir flucht, so zittert der Stern, unter dem er geboren! Erkennst du mich denn nicht? Liebster! erkenne mich! Was hat mich hergetrieben? was hat mich die weiten Wege gelehrt? Schau an, diese blutenden Sohlen! Die Liebe, du böser, undankbarer Junge, war allwärts hinter mir her. Im gelben Sonnenbrand, durch Nacht und Ungewitter, durch Dorn und Sumpf keucht sehnende Liebe, ist unermüdlich, ist unertötlich, das arme Leben! und freut sich so süßer, so wilder Plage, und läuft und erkundet die Spuren des leidigen Flüchtlings von Ort zu Ort, bis sie ihn gefunden – Sie hat ihn gefunden – da steht er und will sie nicht kennen. Weh mir! wie hab ich freudigern Empfang gehofft, da ich dir so lange verloren gewesen, und, Liebster, du mir! – So gar nicht achtest du meines herzlichen Grames, stößest mich von dir wie ein räudiges Tier, – das aber leckt mit der Zunge die Füße des Herrn, das aber will von seinem Herrn nicht lassen. – – Ihr Leute, was soll's? Warum hilft mir niemand zu meinem Recht? Sei Zeuge du Himmel, du frommes Gewölbe, daß dieser Jüngling mir zugehört! Er hat mir's geschworen vorlängst auf der Höhe, da er mich fand. Die herbstlichen Winde ums alte Gemäuer vernahmen den Schwur; alljährlich noch reden die Winde von dem glückseligen Tag. Ich war wieder dort, und sie sagten: Schön war er als Knabe, wär er so fromm auch geblieben! Aber die Kinder allein sind wahrhaftig. – Agnes, was geht sie dich an? Ihr konntest du dein Wort nicht halten, du selbst hast's ihr bekannt, das hat sie krank gemacht, sie klagte mir's den Abend. Warst du ihr ungetreu, ei sieh, dann bist du mir's doppelt gewesen.«
Diese letzten Worte fielen dem Maler wie Donner aufs Herz Er wütete gegen sich selbst, und jammervoll war es zu sehen, wie dieser Mann, taub gegen alle Vernunft, womit der Präsident ihm zusprach, sich im eigentlichen Sinne des Worts, die Haare raufte und Worte ausstieß, die nur der Verzweiflung zu vergeben sind. Endlich stürzt er dem Schlosse zu, der Präsident, voll Teilnahme, eilt nach. Auf seinen Wink wollen einige Leute sich der Verrückten bemächtigen, aber mit einer Schnelligkeit, als hätte sie es aus der Luft gehascht, schwingt sie ein blankes Messer drohend in der Faust, daß niemand sich zu nähern wagt. Dann stand sie eine ganze Weile ruhig, und nach einer unbeschreiblich schmerzvollen Gebärde des Abschieds, indem sie ihre beiden Arme nach der Seite auswarf, wo Nolten sich entfernt hat, wandte sie sich und verschwand zögernden Schritts in der Finsternis. (Mörike: Maler Nolten, 2. Teil, S.343-346)

Nolten deckt Larkens Täuschung und seine eigene Untreue auf

»Du kennst, du kennst ihn nicht!« rief er zuletzt mit Eifer aus, »es ist unmöglich! O daß er dir nur einmal so erschienen wäre, wie er mir in zwei Jahren jeden Tag erschien, du würdest einen andern Maßstab für ihn finden, vielmehr du würdest jedes hergebrachte Maß unwillig auf die Seite werfen. Ja, liebstes Herz« (er stockte, sich besinnend, dann rief er ungeduldig:) »Warum es dir verhalten? was ängstigt mich? O Gott, bin ich es ihm nicht schuldig? Du sollst, Agnes, ich will's, du mußt ihn lieben lernen! dies ist der Augenblick, um dir das rührendste Geheimnis aufzudecken. Du bist gefaßt, gib deine Hand, und höre, was dich jetzt, versteh mich Liebste, jetzt, da wir uns ganz – so selig ungeteilt besitzen, nicht mehr erschrecken kann. Wie? hat denn das Gewitter, das mit entsetzlichen Schlägen noch eben jetzt erschütternd ob deinem Haupte stand, uns etwas anderes zurückgelassen, als den erhebenden Nachhall seiner Größe, der noch durch deine erweiterte Seele läuft? und überall die Spuren göttlicher Fruchtbarkeit? die süße, rein verkühlte Luft? Wir können vom Vergangenen gelassen reden, ohne Furcht, daß es deshalb mit seiner alten Pein aufs neue gegen uns aufstehen werde. Wär es nur Tag, nun würde rings die Gegend vom tausendfachen Glanz der Sonne widerleuchten! Doch, sei es [338] immer Nacht! Mit tiefer Wehmut weihe sie ein jedes meiner Worte, wenn ich nun mehr von alten Zeiten zu dir rede, wenn ich längst heimgeschickte Stürme vom sichern Hafen der Gegenwart aus anbetend segne, hier an deiner Seite, du Einzige, du Teure, ach schon zum zweitenmal und nun auf ewig Mein-Gewordene! Ja, in den seligen Triumph so schwer geprüfter Liebe mische ich die sanfte Trauer um den Freund, der uns – du wirst es hören – zu diesem schönen Ziel geleitet hat.
Agnes! nimm diesen Kuß! gib ihn mir zurück! Er sei statt eines Schwurs, daß unser Bund ewig und unantastbar, erhaben über jeden Argwohn, in deinem wie in meinem Herzen stehe daß du, was ich auch sagen möge, nicht etwa rückwärts sorgend, dir den rein und hell gekehrten Boden unsrer Liebe verstören und verkümmern wollest.
Ein anderer an meinem Platz würde mit Schweigen und Verhehlen am sichersten zu gehen glauben, mir ist's nicht möglich, ich muß das verachten, o und – nicht wahr? meine Agnes wird mich verstehen! – Was ich von eigner Schuld zu beichten habe, kann in den Augen des gerechten Himmels selbst, ich weiß das sicher, den Namen kaum der Schuld verdienen; und doch, so leicht wird die rechtfertige Vernunft von dem schreckhaften Gewissen angesteckt, daß noch in tausend Augenblicken und eben dann, wenn ich den Himmel deiner Liebe in vollen Zügen in mich trinke, am grausamsten, mich das Gedächtnis meines Irrtums, wie eines Verbrechens befällt. Ja, wenn ich anders mich selbst recht verstehe, so ist's am Ende nur diese sonderbare Herzensnot, was mich zu dem Bekenntnis unwiderstehlich treibt. Ich kann nicht ruhn, bis ich's in deiner liebevollen Brust begraben, bis ich durch deinen Mund mich freudig und auf immer losgesprochen weiß.«
Der Maler wurde nicht gewahr, wie dieser Eingang schon die Arme innig beben machte. In wenigen, nur schnell hervorgestoßenen Sätzen war endlich ein Teil der unseligen Beichte heraus. Aber das Wort erstirbt ihm plötzlich auf der Zunge. »Vollende nur!« sagt sie mit sanftem Schmeichelton, mit künstlicher Gelassenheit, indem sie zitternd seine Hände bald küßt, bald streichelt. Er schwankt und hängt besinnungslos an einem Absturz angstvoll kreisender Gedanken, er kann nicht rückwärts, nicht voran, unwiderstehlich drängt und zerrt es ihn, er hält sich länger nicht, er zuckt und – läßt sich fallen. Nun wird ein jedes Wort zum Dolchstich für Agnesens Herz. Otto – die unterschobenen Briefe – die Verirrung zu der Gräfin – alles ist herausgesagt, nur die Zigeunerin, ist er so klug, völlig zu übergehn.
Er war zu Ende. Sanft drückt er ihre Hand an seinen Mund sie aber, stumm und kalt und versteinert, gibt nicht das kleinste Zeichen von sich.
»Mein Kind! o liebes Kind!« ruft er, »hab ich zu viel gesagt? hab ich? Um Gottes willen, rede nur ein Wort! was ist dir?«
Sie scheint nicht zu hören, wie verschlossen sind all ihre Sinne. An ihrer Hand nur kann er fühlen, wie sonderbar ein wiederholtes Grausen durch ihren Körper gießt. Dabei murmelt sie nachdenklich ein unverständliches Wort. Nicht lang, so springt sie heftig auf – »O unglückselig! unglückselig!« ruft sie, die Hände überm Haupt zusammenschlagend, und stürzt, den Maler weit wegstoßend, in das Haus. Vor seinem Geiste wird es Nacht – er folgt ihr langsam nach, sich selbst und diese Stunde verwünschend. (Mörike: Maler Nolten, 2. Teil, S.338-339)