30 Dezember 2017

Paul Schlenther: Gerhart Hauptmann

Paul Schlenther: Gerhart Hauptmann, 1912

Es ist nicht ohne Interesse, Paul Schlenthers Darstellung der Jugend Gerhart Hauptmanns mit der zu vergleichen, die Hauptmann selbst 25 Jahre später vorlegte.

Robert Hauptmann:

Der Kurort, dem er 1865 mit Mühe, Kosten und persönlichen Opfern auch die Gasanstalt gründete, dessen Gemeinwohl er hob und förderte, wurde nicht bloß vom deutschen, sondern noch mehr vom polnischen höchsten Adel besucht. Ems, Reichenhall und andere Konkurrenzbäder lagen in jener Zeit des schwachen Eisenbahnverkehrs den östlichen Magnaten zu fern; [...]
Nicht weit von Salzbrunn, wo neben dem Gasthof zur Preußischen Krone die Töchter des Brunnenwarts Straehler aufblühten, liegt Gnadenfrei und Herrnhut. [...]
Der kostbarste Schatz des Hauses aber blieb ungehoben. Die heilkräftige Kronenquelle, die den spätern Besitzer des weitläufigen Grundstücks zum Millionär gemacht hat, für die jetzt durch ganz Europa die Reklame dringt, die Kronenquelle, die schon für Hauptmanns zum Quell des Wohlstandes hätte werden können, war damals eine Pferdetränke. Später läßt Gerhart seinen Fuhrmann Henschel zu Siebenhaar sagen: »Unsere Quelle ist die beste.« Das blieb damals noch unverwertet. [...]
Auch die Eltern auf ihrer kleinen Bahnstation, die damals noch den ominösen Namen Sorgau führte, mögen nicht ohne Zweifel in die Zukunft des Knaben geblickt haben, der so vorzeitig aus dem regelrechten Bildungs- und Erziehungsgange deutscher Jugend verschlagen wurde. [...]

Gerhart Hauptmann auf der Domäne:

Das sollte kein anderer sein als Georgs junger Vetter Gerhart Hauptmann, der nun in eine streng religiöse Geistesrichtung kam. In den Jahren der Entwicklung drückte diese Geistesrichtung dem lebhaften Knabengemüt, welches ohnehin zur transzendenten Spekulation neigte, einen so starken Stempel auf, daß Gerhart Hauptmann seither kaum was Größres gedichtet hat, ohne die Macht dieses Gepräges irgendwie und irgendwo spüren zu lassen. Vielleicht hat er in »Emanuel Quint«, wo er selbst als Kurt Simon und seine Tante Julie als die »temperamentvolle Christin« – Frau Oberamtmann Julie Scheibler – erscheint, über diese letzten Dinge sein Letztes gesagt. Überall ist zu fühlen, wie tief und auch wie ungestüm Glaubenssachen den Geist und das Herz des Jünglings aufgeregt haben. [...]
Wie in Herrnhut selbst, an das die Bauerntochter Helene aus »Vor Sonnenaufgang« so liebliche Erinnerungen bewahrt, lag auch in Lohnig und Lederose das Hauptgewicht des gottgefälligen Lebens auf der Gemütsseite. [...]
Das Schubertsche Haus war eine weltliche Domäne herrnhutischen Geistes. [...]
Als er nach Jahren wieder bei Tante Julie zum Besuch war, schrieb er ihr ins Stammbuch:
Ich kam vom Pflug der Erde
Zum Flug ins weite All –
Und vom Gebrüll der Herde
Zum Sang der Nachtigall.
Die Welt hat manche Straße,
Und jede gilt mir gleich;
Ob ich ins Erdreich fasse,
Ob ins Gedankenreich.
Es wiegt in gleicher Schwere
Auf Erden jedes Glied. –
Ihr gebt mir Eure Ähre,
Ich gebe Euch mein Lied.
[...]

II Zwischen zwei Künsten
Dann kam Gerhart Hauptmann nach Breslau zurück ...
 [...] auf die dortige königliche Kunstschule. Er trat am 6. Oktober 1880 in die Vorbereitungsklasse ein, ließ sich eine Künstlermähne wachsen und belegte beim Direktor der Anstalt, Baurat Lüdecke, ornamentales Zeichnen, bei Alwin Schultz Kunstgeschichte, beim Bildhauer Michaelis Modellieren. Gegen die Schulregeln dieses Vorbereitungsunterrichts lehnte sich der herangewachsene Jüngling innerlich bald auf. Ein Volk von Krämern schleift des Marmors Decken, Ein Volk von Bäckern bäckt den braunen Ton, Statt heil'ger Priester Lumpen nur und Gecken, Statt stiller Wahrheit Lug und Leid und Hohn. Schon am 26. Oktober zog er sich »wegen seines Benehmens« eine direktoriale Verwarnung zu. Mit dem Modellierlehrer, bei dem er am meisten zu tun hatte, kam es zum Bruch. Desto mehr Verständnis und Ermutigung fand er im Bildhaueratelier Robert Haertels, den er später in freundschaftlicher Beziehung zu »Michael Kramer« setzte. [...]
Haertel erteilte ihm Privatunterricht, als Gerhart Anfang 1881 zusammen mit einem Kameraden namens Urban elf Wochen lang von der Kunstschule ausgeschlossen war, weil sie laut Konferenzbeschluß vom 5. Januar »hinsichtlich ihres Betragens und ganzen Wesens, bei mangelhaftem Stundenbesuch, geringen Fortschritten und bösem Beispiel für die andern Schüler sich nicht mehr für die Anstalt eigneten.«
Auf Haertels Betreiben aber wurde der störrische Scholar bereits am 23. März wieder zu Gnaden angenommen, ohne daß der Vater von dem ganzen Zwischenfall erfuhr. Bei Haertel blieb Gerhart noch ein Jahr, bis er am 15. April 1882 die Anstalt »wegen Krankheit« für immer verließ. Die Lehrer hielten ihn für schwindsüchtig. Da auf der Kunstanstalt auch wissenschaftlicher Unterricht erteilt worden war, und der sogenannte Künstlerparagraph der Wehrordnung Akademikern ein Recht zum einjährigen Militärdienst gibt, so setzte es Haertel durch, daß sein Lieblingsschüler das Zeugnis für den Dienst als Einjährig-Freiwilliger erhielt.
Haertel hatte aber nicht bloß sein bildnerisches Schaffen gefördert und eine in rotem Wachs modellierte, durch die Wolken dahinjagende Gottheit anerkannt, sondern er ließ sich auch Gerharts Dichtungen vorlesen, die ebenso wie jenes Bildwerk der germanischen Sage entstammten. Vom Dänen Andersen war der junge Dichter zum Schweden Tegnér gelangt, aus dessen Frithjofsage er ein Drama »Ingeborg« schuf. Wie Wilhelm Jordan, den er unter starkem Eindruck las und wohl auch rezitieren hörte, wollt' er es »wagen zu wandeln verlassene Wege zur grauen Vorzeit unseres Volkes«. Er plante ein Hermannsepos in zwölf Gesängen, von denen anderthalb im Stile Jordans fertig wurden. [...]
Zechbruder Professor James Marshall, das Urbild des Collegen Crampton, hatten Beziehungen zum Weimarer Hof. [...]
In Jena lernte er auch den Segen junger brüderlicher Kameradschaft näher kennen. [...]
So oft Kunstfragen oder auch Fragen der Menschlichkeit aufgeworfen wurden, vermochte Gerhart seinen Standpunkt ebenso lustig wie hartnäckig, ebenso selbstbewußt wie beredt zu verteidigen. Von Inhalt und Gangart dieser Debatten bekommt einen Begriff, wer in einem der Breslauer Schlußkapitel des Quintromans den »blauäugigen, blonden verstandestüchtigen« Arzt Hülsebuch (Alfred Ploetz) diskutieren hört. [...]
Nun aber ging er im Mai 1885 nach Berlin. Hier fand er einen dramaturgischen Unterricht beim frühern Direktor des Straßburger Stadttheaters, Alexander Heßler, an den er sich noch erinnerte, als er die »Ratten« schrieb. Seiner Stimme, in die er beim intimen Vorlesen eigener Werke so viel Natur, so viel Seele, so viel Stimmung zu legen weiß, haftet ein Lispelton an, der seinem Lehrmeister für die bezweckte Ausbildung eines sogenannten schönen Organs hinderlich war. Auch litt der hoffnungsvolle Jünger ein bißchen an Stockschnupfen. Er nahm es mit der Wahl des neuen Berufes so genau, daß er sich das Innre seiner Nase ausbrennen ließ, um deutlicher und reinlicher sprechen zu können. Aber er war vor die rechte Schmiede der landläufigen Theaterspielerei geraten und gab seinen abenteuerlichen, nur einer Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse und nur der Vorstellung eines selbstgeschaffnen Ideals entsprungenen Plan, Schauspieler zu werden, bald wieder auf. Aber er war nun dort, wo sich alle strebende Jugend im Deutschen Reich zu ihren entscheidenden Taten sammelte. Er fand sich in der jungen Hauptstadt dieses Reiches; noch ein Jüngling, aber kein Junggeselle mehr. Ein halbes Jahr früher hatte Bruder Carl die Schwester Martha heimgeführt. Jetzt, im Mai 1885, führte Gerhart, erst zweiundzwanzigeinhalb Jahr alt, die Schwester Marie in das junge Heim, das ihm ihre Liebe bestellt hatte. [...]
Aber gerade in Zürich fing er wieder zu dichten an und las bei Avenarius Kapitel aus einem autobiographischen Romane vor, von dem nur jenes Fragment erschienen ist. Bald trennte er sich von den Zürichern und fuhr zur Herbstzeit bis nach Frankfurt am Main auf dem Rade, wo ihm in wechselnden Bildern Länder und Leute wieder nahe kamen. [...]
Nachdem Gerhart Hauptmann sein »Buntes Buch« hatte vernichten lassen, beschäftigte ihn jener autobiographische Roman, den er 1888 in Zürich begonnen hatte. Berlin und Umgegend hatten Hauptmanns Kenntnis der Welt bereichert. In Zürich sah er das menschliche Leben wissenschaftlich durchforscht. So mochte er sich gerüstet fühlen, objektiver das Ich zu verstehen. Doch auch dieses Werk kam nicht zustande. Vieles daraus ist aber in den späteren Werken verwertet worden. Dieser totgesagte Roman scheint die Urzelle gewesen zu sein, aus der nun des Dichters lebendige Poesie entstand. [...]
Dir nur gehorch ich, reiner Trieb der Seele!
Des sei mein Zeuge, Geist des Ideales,
Daß keine Rücksicht eitler Art mich bindet.
Ich kann nicht singen, wie die Philomele.
Ich bin ein Sänger jenes düstern Tales,
Wo alles Edle beim Ergreifen schwindet.
Du aber, Volk der ruhelosen Bürger,
Du armes Volk, zu dem ich selbst mich zähle,
Das sei mir ferne, daß ich deiner fluche!
Durch deine Reihen gehen tausend Würger,
Und daß ich dich, ein neuer Würger, quäle,
Verhüt es Gott, den ich noch immer suche!
Ich darf es dir mit meiner Hand verbriefen,
Daß, wenn ich zürne, zürn ich deinen Leiden,
Das Gute wollend, dir zum ew'gen Heile.
Ihr, die ihr weilt in Höhen und in Tiefen,
Ich bin ihr selbst, ihr dürft mich nicht beneiden!
Auf mich zuerst zielt jeder meiner Pfeile.

Und so schärfte er sein Auge für das Nahe und Nächste.
Schon 1887, bevor er Arno Holz kannte zeitigte der Aufenthalt in Erkner eine kleine novellistische Studie, die in ihrem Realismus nicht so »konsequent« ist, wie »Papa Hamlet« aber dichterisch als geschlossenes, rundes Werkchen höher steht. Es ist die zuerst in M. G. Conrads »Gesellschaft« abgedruckte Erzählung vom »Bahnwärter Thiel«. Ihr moderner Zug kündigt sich schon im Titel an. Unsre Zeit steht »im Zeichen des Verkehrs«. Bahnwärter Thiel dient jenem Verkehrsbetriebe, von dem Goethe und die Romantiker noch nichts wußten. [...]
Wie in den westlichen und nördlichen Vororten Berlins die sogenannten Millionenbauern, so gab es auch in nächster Nähe von Obersalzbrunn, in Weißstein und Hermsdorf Bauern, die plötzlich zu Reichtum dadurch gelangten, daß man unter ihren Äckern mächtige Kohlenlager entdeckte. Ein solcher Umschwung materieller Verhältnisse konnte im ungebildeten Stande nicht ohne Einwirkung auf Sitte und Sittlichkeit des überschnell und übermäßig reich gewordenen Volkes bleiben. Diese Jugendeindrücke sollten im autobiographischen Roman nachwirken. Nun wollten sie sich zu einem sozialen Drama gestalten. [...]
An Loth und Helene offenbart sich der Unterschied von Verliebtheit und Liebe. Loth ist bis über die Ohren in das reizende, sinnige Geschöpf an seiner Seite verliebt; ihn entzückt nicht bloß ihr Wesen, sondern auch die Erscheinung; aber das weicht, als ihm das holde Kind plötzlich im Schatten einer Familie erscheint, deren Eigentümlichkeiten gerade ihm das Widerwärtigste und Abscheulichste sein mußten. Er rührt an den Stengel einer schönen Blume, sie zu pflücken, zieht aber sofort die Hand weg, sobald er merkt, daß der Sumpf, aus dem sie wuchs, die Hand beschmutzt. Für Helene dagegen ist die Liebe zum Manne nicht bloß ein Sinnenreiz; sie ist ihr Rettung aus Not, Erlösung vom Übel, Freiheit, Licht, Luft. Für ihn ist diese liebliche Begegnung ein Erlebnis, für Helene ist sie das Leben. Es gehört zu den menschlichsten Irrtümern, nach dem Grade des eignen Empfindens den Grad des Empfindens anderer zu messen. Loth redet sichs ein, daß der Seufzer des Scheidens und Meidens bei Helenen nicht tiefer geht als bei ihm selbst. Wenn er am nächsten Morgen vom Doktor Schimmelpfennig, in dessen Haus er geflüchtet ist, erfahren wird, Helene habe sich den Hirschfänger durchs Herz gerannt, so wird sein Gewissen für sein Unrecht zu büßen haben. Auch ihn wird Faustens Reue überkommen: »Von keiner Menschenseele zu fassen, daß mehr als Ein Geschöpf in die Tiefe dieses Elends versank!« Loths Treubruch hat auf den Zuschauer um so überraschender und empörender gewirkt, als gerade dieser hübsche, freundlich blickende, blau- und strahläugige, blondbärtige germanische Mensch durch eine Liebesszene vom Dichter in das anmutigste Licht gestellt worden war. [...]
Jemand nannte dann die Szene mit einem Lieblingsworte Theodor Fontanes »dalbrig« und ahnte nicht, daß er diesem Liebesgestammel damit ein Anerkenntnis süßer Wahrheit machte. Andere warfen dem »konsequenten Naturalisten« Inkonsequenz vor und vermeinten, diese Szene sei viel zu poetisch, um naturalistisch sein zu können. Diesen Mißverständigen hat der Dichter einmal das Scherzwort erwidert: »Kann ich dafür, daß die Natur auch schön ist?« [...]
Als Bruder Carl das erste Exemplar der Buchausgabe mit dankbaren Widmungsworten ins Manöver nachgeschickt erhielt, telegraphierte er dem Dichter neckend-ernsthaft zurück: »Tausend Freuden über Deinen ersten Schritt in die Unsterblichkeit«. So fühlten die Nächsten. Nun aber kam ganz von außen her unerwartet eine Bestätigung dieser Freundeszuversicht. Und diese Bestätigung kam von einer Seite, die ehrwürdiger und ehrender, sachkundiger und zuverlässiger nicht sein konnte. Fontanes Brief hatte wohl die nächste praktische Folge, daß der Dichter Anfang September an den Vorsitzenden des Vereins »Freie Bühne,« Otto Brahm, ein Exemplar des Dramas sandte, begleitet von einem kurzen Schreiben, woraus den Empfänger, »trotz seinen wenigen Zeilen eine Persönlichkeit anzusprechen schien«. Zur selben Frühlingszeit wie dieses Drama war dieser Verein entstanden.
 [...]
Als Brahm das Stück las, hatte er Fontanes Empfehlung noch nicht erhalten. Er war bald entschieden, das Stück aufzuführen. Erst nachdem dieser Beschluß endgültig gefaßt war, erfuhr er zu seiner Freude, daß damit zugleich ein Wunsch seines alten Gönners und Freundes erfüllt werden sollte. In der Tat wäre die Freie Bühne ohne Daseinsrecht gewesen, wenn sie, nach den damals noch verbotenen »Gespenstern« Ibsens, nicht vor allen andern Stücken dieses verheißungsvolle Erstlingsdrama eines jungen unbekannten Deutschen dem Publikum und nicht am wenigsten dem Verfasser selbst vorgestellt hätte. [...]
An den Protesten der Gegner erwärmte und erhitzte sich der Beifall derer, die in diesem neuen Werk Jugend, Kraft, Mut und eine große dichterische Gabe begrüßten. Diese Freunde tobten schließlich ebenso wild wie die Gegenpartei. Und nach den Aktschlüssen auf der Bühne mußte der junge Dichter dem tollsten Hexensabbath standhalten. Damals sah auch Theodor Fontane seinen Protégé zum erstenmal von Angesicht zu Angesicht, und er schrieb der Vossischen Zeitung über diesen persönlichen Eindruck: »Statt eines bärtigen, gebräunten, breitschulterigen Mannes mit Schlapphut und Jägerschem Klapprock erschien ein schlank aufgeschossener, junger, blonder Herr von untadeligstem Rockschnitt und untadeligsten Manieren, verbeugte sich mit einer graziösen Anspruchslosigkeit, der wohl auch die meisten seiner Gegner nicht widerstanden haben. Einige freilich werden aus dieser Erscheinung, indem sie sie für höllische Täuschung ausgeben, neue Waffen gegen ihn entnehmen und sich gern entsinnen, daß der verstorbene Geheime Medizinalrat Casper sein berühmtes Buch über seine Physikats- und gerichtsärztlichen Erfahrungen mit den Worten anfing: Meine Mörder sahen alle aus wie junge Mädchen.« Fontane hat den »Mörder« mit ungeschwächter Teilnahme, wenn auch nicht immer mit gleicher Zustimmung (für Hanneles Himmelfahrt empfand er zu berlinisch-rationalistisch) bis an die »Versunkene Glocke« begleitet, also bis er starb. Kurz vorher hatten wir mit Gerhart Hauptmann an des Alten Tische noch einmal feinstens gespeist, getrunken und geplaudert. Die erste Vorstellung der »Versunkenen Glocke« stand unmittelbar bevor. Da apostrophierte er seinen Gast in huldigender Parodie durch den Vortrag seines im Texte leicht geänderten Jakobitenliedes: Sie ließen Weib und Kind zurück Wohlan, so tun auch wir. Wir baun auf Gott und gutes Glück Und auf den Kavalier;       O Charlie ist mein Liebling,       Mein Liebling, mein Liebling,       O Charlie ist mein Liebling,       Der junge Kavalier. Wenn Hauptmann literarisch bewanderter gewesen wäre, so hätte er sich sagen müssen, daß, seitdem es ein Theater gibt, nur ganz wenige Dramatiker in einer so kriegerischen Situation die Feuertaufe empfangen haben. Dieses Toben der Menge konnte seiner Zukunft bloß zwei Wege weisen. Brüllte man ihm dort unten zum Sieg oder zum Untergang? Ein dritter Weg, die talmine Mittelstraße war nicht mehr zu gehen. Sieg oder Untergang! [...]
Ein Theaterroutinier, der auf Schlag und Gegenschlag sinnt, ist Gerhart Hauptmann nicht. Man schiebt das gewöhnlich auf Mangel an sogenannter Handlung. Auf diesen Vorwurf erwidert im Motto zum »Friedensfest« der Dichter selbst mit Worten Lessings aus dessen Abhandlung über die Fabel. So wenig die moderne Ästhetik mit Recht auf Definitionen ausgeht, so sehr sie sich gerade durch die Mißachtung der Definition auch von Lessing unterscheidet, so möchte ich doch gegenüber dem Vorwurf der Handlungslosigkeit, der auch noch späteren Werken Hauptmanns gemacht worden ist, an Lessings Definition der poetischen Handlung nicht ganz vorübergehen. Handlung nennt Lessing »eine Folge von Veränderungen, die zusammen ein Ganzes ausmachen«. Zur Handlung genügt für Lessing nicht eine Veränderung, genügen nicht mehrere Veränderungen, die nur nebeneinander, sondern bloß solche Veränderungen, die aufeinander folgen. Wer von dieser Doktrin aus die beiden Familienkatastrophen Hauptmanns durchnimmt, wird finden, daß sie der Lessingischen Forderung entsprechen und im Sinne des großen Kritikers eine Handlung haben. Im »Friedensfest« das Erscheinen der Buchnerschen Familie, die unerwartete Rückkehr des Vaters, die Rückkehr des jüngeren Sohnes, die Abbitte dieses Sohnes und ihre seelische Einwirkung auf dessen physische Natur, die plötzlich aufwachende Sorge der Vaterliebe um das Leben dieses scheinbar gehaßten Kindes, das Heraufsteigen alter schlimmer Leidenschaften in allen, der durch die Aufregung darüber entstandene Schlaganfall und Tod des Vaters, der Eindruck, den dieser Tod auf die drei Kinder macht, alles das ist ein Ganzes, in welchem die Veränderungen nicht nur zeitlich und räumlich, sondern auch ursächlich aufeinanderfolgen. In den »Einsamen Menschen« fehlt es sogar an einer eigentlichen Vorgeschichte, wie sie im »Friedensfest« erst analytisch herausgewickelt wird. Das völlig unerwartete, zufällige Erscheinen des fremden Fräuleins wühlt alles auf, was verborgen lag und wandelt alles um, was gewesen ist. Die Dinge verändern sich stetig und unaufhaltsam. Eins folgt unmittelbar aus dem anderen. Wie weit ist beispielsweise der liebevolle, heitere Papa Vockerat des Taufschmauses vom streng strafenden Vater entfernt, dessen heiliger Eifer den Sohn vernichtet! Und doch zieht sich von einem zum andern innerhalb derselben Menschenseele eine Kette natürlicher Folgen. An der von Hauptmann herangezogenen Stelle fragt Lessing: »Gibt es aber doch wohl Kunstrichter, welche einen noch engeren, und zwar so materiellen Begriff mit dem Worte Handlung verbinden, daß sie nirgends Handlung sehen, als wo die Körper so tätig sind, daß sie eine gewisse Veränderung des Raumes erfordern? Sie finden in keinem Trauerspiele Handlung, als wo der Liebhaber zu Füßen fällt, die Prinzessin ohnmächtig wird, die Helden sich balgen; und in keiner Fabel, als wo der Fuchs springt, der Wolf zerreißet und der Frosch die Maus sich an das Bein bindet.  [...]

Die Weber 
Den Mahnruf des Schillerschen Attinghausen hat niemand bisher treuer befolgt als der Dichter der »Weber«. Aber wenn Attinghausen, der Politiker, mahnt: »Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an,« so hat sichs unser Dichter in sein eigenes Gefühl umgesetzt. Nicht im Vaterlande, sondern in der Heimat liegen für diesen Dichter die starken Wurzeln seiner Kraft, die ihn vermögen, den ganzen Weltraum zu umfassen. Gerhart Hauptmann hat an seiner schlesischen Erdscholle festgehalten. Er hat sich seit Jahren wieder in den Bergen der Heimat unter den Dorfbewohnern des Riesengebirges auf eigenem Grund und Boden häuslich niedergelassen. Zuerst in Mittelschreiberhau, wo sich die innigen Beziehungen von Hohenhaus noch fortsetzten, dann mit der zweiten Gemahlin, Margarete geb. Marschalk, und dem goldlockigen, pagenhaften Sohne Benvenuto auf seiner Villa Wiesenstein in Agnetendorf. So weit und so oft ihn der Wandertrieb auch in die Ferne zog, dort in den grünen Tälern ist sein Herd und sein Hof, sein Hort und sein Halt. Dort träumt er sich sein Festspielhaus. So wird er auch als Dichter von manchen Ausflügen in Raum und Zeit immer wieder heimkehren. Im Sonnenaufgangsdrama hat er seine Landsleute nicht glimpflich behandelt. Aber nie ist von einem Dichter der Naturlaut des Heimatvolks treuer erlauscht worden, als von ihm. [...]
Zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts war sein Urgroßvater als armer Weber aus Böhmen über das Gebirge gekommen und hatte sich in Herischdorf bei Warmbrunn zur Handarbeit festgesetzt. Von den vier Söhnen dieses Alten war auch Gerharts Großvater, Karl Ehrenfried, bis er 1813 in den Krieg zog, Weber gewesen. Als dieser bereits im Wohlstande war, wußte er aus frühen armen Tagen dem eigenen Sohne Robert manches zu erzählen. Und Herr Robert Hauptmann hat dies alles seinen Knaben weitergemeldet. [...]
Wer heute durch die beiden Hauptdörfer wandert, merkt auf den ersten Blick nichts mehr vom Notstand eines bestimmten Gewerbes. Wie zwei meilenlange schmale Zeilen recken sich diese Dörfer, Langenbielau und Peterswaldau, von den Vorhügeln des Eulengebirges unabsehbar in die weite, wald- und bergumsäumte Ebene herunter, aus deren Mitte die schlanken weißen Türme des alten, malerischen Städtchens Reichenbach aufsteigen. Durch beide Riesendörfer fließt ein murmelnder, grünumbuschter Gebirgsbach, der von der Hohen Eule her die Weistritz sucht. Rechts und links von diesem freundlichen Bächlein ist je eine Häuserstraße angebaut, die streckenweise höchst vornehm und großstädtisch wirkt. Prächtige Villen der Fabrikanten und Fabrikdirektoren, mitten in alten, schönen Parkanlagen, davor stolze Blumenbosketts, erinnern an einen eleganten Badeort. Der Kontrast hierzu, die elende Weberhütte, fehlt heute schon fast ganz. Erst wenn man oberhalb Peterswaldau höher ins Gebirge hineinsteigt, und wenn sich hinter einem wildromantischen Waldgrunde der Blick auf die weit und breit über das Hügelland vereinzelten Strohdächer von Kaschbach öffnet, merkt man, daß in diesen verlassenen, öden Sitzen noch die Armut kauert. Hier könnte man wohl noch heute dem Vater Baumert begegnen, dessen ausgehungerter Magen kein gebratenes Hundefleisch mehr vertragen kann, oder seinen abgemagerten Töchtern oder den kleinen Barfüßchen seiner unehelichen Enkel. [...]

(Paul Schlenther: Gerhart Hauptmann, 1912)

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