10 November 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (Kap.44-48)

Vierundvierzigstes Kapitel
Von Zeit zu Zeit ging ich mit Onkel Gustav in das nahe Dorf Lederose. Dort, an der Straße, gegenüber dem Hoftor seines neuerworbenen Bauerngutes, wurde für ihn und die Tante ein Wohnhaus errichtet. Der Maurermeister aus Großbaudiß, der es baute, stand Onkel und Tante nahe durch schlichte Güte und Frömmigkeit. [...]
Mein Selbstbewußtsein hatte sich an der Seite Brinkes mit dem wachsenden Verständnis für meine Arbeit und allerlei kleinen Erfolgen darin wiederhergestellt. Ein unterbundener Zug meines Wesens, die Neigung, auf andere bestimmend einzuwirken, wie es mir als Knaben gegenüber meinen Gespielen gewöhnlich war, trat wieder hervor. Was damals aber gegeben war, erwuchs hier in einem aufgezwungenen Kampf, in dem es die härtesten aller Widerstände zu überwinden galt. Ich hatte, unreif wie ich mit sechzehn Jahren sein mußte, dieses ungleiche Ringen herausgefordert. Nicht ohne alles Rüstzeug, aber ohne alle Erfahrung ging ich gegen die Mächte der Gewohnheit, des Hasses der Unterdrückten und der Trägheit an: Mächte, die ich so nur gegen mich aufstachelte.
Ich glaubte zu erkennen, daß man gewisse Verrichtungen, wenn man sie anders angriffe, in einem Bruchteil der sonst darauf verwendeten Zeit durchführen könne. Es gelang mir zum dumpfen Ärger der alten Arbeiter durch Anfeuern meiner Kinderarmee mit überraschender Schnelligkeit noch vor Ausbruch eines Gewitters Heu in Haufen zu bringen, ich gewöhnte mir das Kommandieren an und wußte meinen Willen, oft einen gewiß recht dilettantischen, allmählich rücksichtslos durchzusetzen. Der Anfänger wollte bereits Reformer sein, wie denn Voreiligkeit in dieser Beziehung meine Schwäche geblieben ist.
 Dieser Sommer, in dem sich übrigens bei mir der Stimmbruch vollzog und der mich in allen meinen Wesensteilen um und um gekehrt und fast gewaltsam erneuert hatte, endete im Herbst mit einer achttägigen Urlaubszeit. Und diese acht Tage überraschten mich wieder mit einer Fülle verschiedenartig aufwühlender Eindrücke.
Am Morgen meines Urlaubsantritts stand ich um vier Uhr auf, denn ich hatte beschlossen, den ganzen Weg bis Salzbrunn per pedes apostolorum zurückzulegen. Einer von den Hofejungens, über das schulpflichtige Alter hinaus, der sich besonders an mich angeschlossen hatte, erwartete mich, um mich zu begleiten. Der Junge war klug, und ich hatte den Wunsch, ihm bei seinem Fortkommen nützlich zu werden. Es gefiel mir, daß er aus dem Druck und Trott des Hörigendaseins heraus wollte. Wir wanderten viele Stunden lang erst im Dunkel und dann, bis die Sonne im Mittag stand, und Geisler, wie mein Begleiter hieß, mußte mir einen Käfig mit mehreren jungen Elstern nachtragen.
Wir pilgerten über Striegau, wo ich Geisler und mir Kaffee und Kuchen in einer Konditorei gönnte und am Staunen des Jungen mich erletzen konnte, der weder bisher eine Stadt gesehen noch von der Einrichtung einer Konditorei und ihren Leckerbissen einen Begriff hatte. Er kam aus dem Lachen nicht heraus, als er sich Apfelkuchen mit Schlagsahne schmecken ließ, eine Himmelsspeise, an die der kühnste Traum seiner Jugend nicht heranreichte.
Im weiteren ließen wir unter dem klaren Licht der Herbstsonne Dörfer um Dörfer hinter uns; über abgeerntete Felder der weiten Ebene flogen die Herbstfäden. Hatten wir vor Striegau den Streitberg mit seinem Kreuz und seinen Granitbrüchen im Blick, so sahen wir jetzt überall den Zobten, diesen aus dem flachen Gelände steigenden, sagenumwobenen Berg, der mich, in Erinnerung an die mit Schlossermeister Mehnert unternommenen nächtlichen Wagenfahrten, bewog, meine Fabulierkunst vor Geisler glänzen zu lassen: daß im Innern des Berges alte Männer seit Jahrtausenden um einen runden, steinernen Tisch säßen, durch den ihre Bärte gewachsen seien, wurde mir mit Staunen wortwörtlich geglaubt, wenn auch über die Art und Weise, wie das möglich sei, zögernd schüchterne Fragen laut wurden. [...]

Fünfundvierzigstes Kapitel 
Lederose schluckte mich also für ein Jahr gleichsam ein. Man sah das Dorf, obgleich es Lohnig benachbart war, da es eine Bodenfalte verbarg, von dort aus nicht. Seine Lage an einem von Erlen verhüllten, still fließenden Wasser war recht anmutig. An einem Ende der geraden Dorfstraße lag der Kretscham, am andern der Hof des Dominiums. Ihn wieder beherrschte ein Herrenhaus, das rückwärts in einen alten, gepflegten Park blickte, in dem sogar ein kleiner See mit Schwänen vorhanden war. [...]
Der ganze Ort war in Bäume und Büsche gebettet, so daß vor dem Lärm aller Arten von Vögeln manchmal das eigene Wort nicht zu hören war. Aber nun gerade, hier in Lederose, bedeckte mich allmählich irgend etwas ähnlich einem Leichentuch. Es fehlte Brinke, es fehlte das weitverzweigte Gutsleben. [...]
Das neue Dasein schien mir anfangs idyllisch und recht angenehm. Ich unterdrückte das Gefühl der Beängstigung, sooft es in mir aufsteigen wollte. Gewiß, um mich in die neue Lage zu finden, mußte ich mir einen kleinen Ruck geben. Unausgesprochen, nur halb bewußt, war irgendein Widerstreben in mir, verbunden mit einer Empfindung von Sinnlosigkeit. Der Sohn eines Bauern war ich nicht, ebensowenig wie Onkel Schubert ein Bauer. Und doch war dies Gütchen, das erkannte ich selbst sofort, nur von einem Bauern und seinem Sohne, Leuten, die selber zugriffen, zu bewirtschaften. Und ebendiese Erkenntnis mit dem Schluß, daß wir beide nun wirkliche Bauern werden müßten, wurde mir eines Tages von Onkel Schubert vorgetragen. Dabei mußte ich merken, wie wenig er mit mir zufrieden war. »Wenn du nicht das und das und das und das und das und das gelegentlich verrichtest«, sagte er, »muß ich mir einen Großknecht anschaffen.« Seltsam fiel es mir in den Sinn, daß ich nun nach den Ausblicken des Dominialbetriebes, den ornithologischen Anfängen, den Bestrebungen zur Wiedererweckung der Reiherbeize und Falkenjagd als höchstes Ziel den vollendeten Großknecht in mir sehen sollte, eine Möglichkeit, die mir zu keiner Zeit ins Bewußtsein getreten war. [...]
Aber um ernsthaft über die Torheit einer solchen Bestimmung bei meiner knabenhaft zarten Konstitution nachzudenken und dagegen zu protestieren, ruhte ich noch zu sehr im Gefühl blinder Anhänglichkeit. Es dauerte noch geraume Zeit, bevor ich das Selbstbestimmungsrecht des Menschen erkannte und mir zubilligte. Ich versuchte zu einem Großknecht heranzureifen. Um Onkel und Vater nicht zu enttäuschen und mich womöglich untauglich zu erweisen für einen Beruf, an den ich mich nun für immer gebunden glaubte, unterzog ich mich einer strengen, selbstgesetzten Disziplin: einer Regel, die einzuhalten nicht weniger anstrengend war als die irgendeines Mönchsklosters. Überm Bett meines ebenerdigen Schlafzimmers, eines dumpfen Raumes des alten bäuerlichen Wohnhauses – der Neubau war noch nicht ausgetrocknet –, brachte ich eine Schelle an, deren Schnur durchs Fenster auf die Straße ging, wo sie, und zwar um dreiviertel drei des Nachts, der Nachtwächter, um mich zu wecken, ziehen mußte. Dann stand ich auf – es war Spätherbst und kalt –, in welcher Verfassung ist leicht zu ermessen, und machte mich durch das Wecken von Knechten und Mägden unbeliebt. Nun gab ich im Dunkel fröstelnd und frierend Heu und Hafer in vorgeschriebenen Mengen heraus und mußte mich von den mißgelaunten und geärgerten Leuten angrobsen lassen. Um fünf Uhr waren die Pferde angeschirrt, die Gespanne begannen ihre Tätigkeit. Die Knechte bestiegen jeder sein Sattelpferd und ritten auf die Felder, um zu pflügen, oder es wurde Dünger geladen und hinausgebracht. Jetzt begann das Melken, dem ich gelangweilt beiwohnte. Die Mägde zogen im Halbschlaf die Zitzen oder brachen, wenn die Kuh sich unangemessen bewegte, in unflätiges Schimpfen aus. Der Stall war dunkel bis auf das Licht einer kleinen Ölfunsel. Diese Frühstunden waren überhaupt in Nacht getaucht. Aber im Kuhstall war es warm, und man konnte womöglich ein kleines Nickerchen nachholen. [...]
Meine Stimme veränderte sich, ich war nicht wenig erstaunt darüber. Mein ganzer Körper unterlag einer Umwandlung. Es war in mir eine seltsame Unruhe, die mit vielen sonderbaren Symptomen befremdend in mein Leben trat. Eine gewisse Scheu stieg in mir auf. Es zog mich überall ins Verborgene. Hatte ich ein schlechtes Gewissen, oder wurde mir halb bewußt, daß der eigene Körper in seinen heimlichen Tiefen schöpferisch ward? Noch war nichts Denken, alles Instinkt, alles Gären, Drängen und Werden im Dunkeln. Das vielleicht größte Wunder des Lebens kam in schwülen Spannungen, irdisch-überirdischen Ahnungen, Süchten und Sehnsüchten über mich. Zugleich eine Furcht, eine Angst, der Ansturm des Neuen könne meine Kraft übersteigen. Natürlich litt ich an heftigem Herzpochen. Diese Zustände hatten ihre Gefährlichkeit. Sie konnten den Sinn des Lebens einleiten, aber ebensogut den Tod. Was da vorging, in mir rang, ich spürte das, war keine Geringfügigkeit. Ich behielt es für mich, ich hätte es niemand verraten mögen. Auf den Gedanken, mein Zustand könne nach außen bemerkbar sein, kam ich nicht. Ich sah überall Dinge, die mir neu waren: die Waden und nackten Arme der Mägde, wenn sie mit Gabeln an langen Stielen das Grünfutter abluden, seltsam reizende Formen in der Natur, betörende Münder, lockende Augen; Kühe wurden zum Stiere gebracht, ein landwirtschaftlicher Akt, dem ich beiwohnen mußte. Er hatte jedesmal etwas Spannendes. Schwüle Träume kamen des Nachts. Es herrschte darin eine im Anfang bestürzende Zuchtlosigkeit. Morgens tauchte die Frage auf, ob das, woran ich mich klar erinnerte, wirklich geschehen sein konnte und wie es überhaupt möglich war. Dem Teufel diese frappanten Ereignisse zuzuschreiben, darauf verfiel ich nicht. Aber ich hatte Gewissensbisse. Körperliche Arbeit ging nebenher. Da ich mir schon in Lohnig die meisten technischen Handgriffe im Bereich des Hof- und Feldbetriebs angeeignet hatte, konnte ich sie auf dem Gütchen ausüben. Ich verstand mit dem Pfluge, der Sense, der Zuckerrübenhacke umzugehen, konnte dreschen und Garben binden und übte nach Maßgabe meiner allerdings schwachen Kräfte dies alles je nach Bedürfnis aus. Ein wirkliches Eingreifen in den Betrieb des Gütchens war das nicht. Und da Knechte, Mägde und Gutsarbeiter das Ihre gewohnheitsmäßig taten, quälte mich allenthalben ein Gefühl der eigenen Überflüssigkeit. Zum Großknecht konnte ich mich nicht entwickeln. Ich hätte nötig gehabt, es als Schwerarbeiter allen voran zu tun. Aber wie hätte ich können einen Sack voll Weizen, der etwa zwei Zentner wog, auf den Oberboden hinaufbuckeln? [...]
Die Jahreszeit wurde immer unwirtlicher. Wir kamen in den Dezember hinein. Onkel Schubert hatte eine Dreschmaschine mit Dampfbetrieb angeschafft, die im ganzen Striegauer Kreise herumreiste. Zuweilen, was eine Art Fest bedeutete, arbeitete die Maschine bei uns. Da war das eiserne Schwungrad, da war der Treibriemen, da war das Geratter und Geklapper, das alle erregte, die Leute schreien und lachen machte, und nicht zuletzt der Lokomotivenpfiff, der die große Welt des Verkehrs vortäuschte. Ich drängte mich zu der wichtigen Arbeit des Einlegens und übte sie eine Weile aus. Eine vom Bunde frei gemachte Garbe wird einem in die Arme gelegt, und man muß sie dem brausenden Maul der Maschine, auf bestimmte Weise gelockert, einschütten. Wieviel die Maschinentrommel in einer Stunde verarbeitet, das hängt von der Schnelligkeit, der Ausdauer und Geschicklichkeit des Einlegers ab. Die Arbeit strengt an, man muß viel Staub schlucken, und da man sie nicht lange hintereinander ausüben kann, wird nach einer mehr oder weniger langen Zeit der Ersatzmann nötig. Aber die Stellung auf dem Maschinendach, der Reiz des Vorgangs und seine Wichtigkeit machten die Arbeit begehrenswert. [...]
Das wachsende Dunkel war in seiner Wirkung recht vielfältig und ebenso mein Verhältnis dazu. Es machte mich traurig einerseits und hatte doch auch mit jenem fruchtbaren Dunkel zu tun, in dem sich Keime aus Samen entwickeln. So sehnte ich mich immer mehr aus dem Dunkel zum Licht, noch mehr aber aus dem Licht zum Dunkel, so daß der Tag und besonders jegliche Art von Geselligkeit als Störung, ja manchmal als Raub empfunden wurden.   Die Essenz und der Kern meines Lebens war Heimlichkeit. Das wahre große Ereignis, in dem ich stand, war das Erwachen des Geschlechtslebens. Eros nistet sich in uns ein. Er nimmt Quartier, gestaltet sich seine neue Wohnung. Der Jüngling fühlt und erkennt und begreift schließlich seine unabwendbare Gegenwart. Er parlamentiert, er verhandelt mit ihm, muß aber schließlich fühlen, daß er diesem Gast gegenüber ohnmächtig ist. Er sieht sich zu unbedingtem Gehorsam gezwungen, zum willenlosen Sklaven gemacht. Nun beugt sich der Sklave und huldigt dem Gott. Und wie er in seinen Mysterien fortschreitet, verachtet er endlich jedes andere irgendwie geartete Glück in der Welt. [...]
Ich sah das Leiden der Kreatur: der Kühe, wenn das Kalb seine Hinterhufe wie zwei Stöcke aus der Mutter hervorstreckte. Daß ein ganzes, großes, vierbeiniges Tier durch eine so kleine Öffnung nachdringen sollte, schien ein Ding der Unmöglichkeit. Einige Stunden später war es da, lag neben der Mutter und wurde von ihr zärtlich und eifrig abgeleckt. Dann stand es auf, dann wurde es an das Euter gelegt und wieder einige Tage später vom Fleischergesellen abgeholt und zur Schlachtbank geführt. Der ganze Kuhstall geriet außer sich. Die verwaiste Mutter tobte, riß an der Kette und brüllte verzweifelt tagelang. Ich konnte beobachten, ich hatte Zeit, über die Mysterien der Zeugung, der Geburt und des Todes nachzudenken, da mir der ganze Tag dafür zu Gebote stand. Natürlich bewegte sich mein Denken nicht über den mir zugewiesenen Raum. Dagegen sah ich mich eines Tages auf dem Wege meiner Beobachtungen wiederum dahin gedrängt, Eindrücke, die sich mir immer wiederholten, mit Papier und Bleistift festzuhalten, was mir mit den Kühen sowie den übrigen landwirtschaftlichen Haustieren über alles Erwarten gelang. Das Zeichnen brachte meinen dumpfen Stunden Erleichterung. Es kam mir vor, als könne diese mir in den Schoß gefallene Tätigkeit irgendwie und -wann ein Glück für mich sein, ganz abgesehen von der Freude, die mir schon jetzt dadurch zuteil wurde. Eine schwache Regung von Ehrgeiz mochte dabei im Spiele sein. Er würde sich dann auf meine Zukunft als Landwirt nicht bezogen haben, und schon darum gehörte, das Zeichnen ins Gebiet meiner Heimlichkeit. In ihrem Schutze habe ich auch meine ersten Gedichte gemacht, die gleich den Zeichnungen unerwartet und plötzlich da waren. Ich sage deshalb, daß es meine ersten gewesen sind, weil ich die früheren nicht dafür halte.   Lederose war für mich eine Sackgasse. Ich empfand es dumpf, ohne mir dessen bewußt zu sein. Sicher ist, daß der kurze Vorstoß von Rittergut Lohnig ins Große, Freie in sie mündete. Leider brachen in ihrem Halblicht, ihrer Aussichtslosigkeit alle überwunden geglaubten hemmenden Mächte, die Erbschaft der Schule, wieder herein. Der Schlag, den mir die ersten Breslauer Schulstunden versetzt hatten, brachte sich durch eine Schwäche des Rückgrats in Erinnerung. Ich unterlag, womöglich verstärkt, meinem Kleinheitswahn. Ich hielt nichts von mir. Und wann hätte ich mir auch während der Breslauer Schulzeit irgend etwas diese Überzeugung Entkräftendes beweisen können? Noch sah ich die Schule als etwas Gottgegebenes, Infallibles, etwas furchtbar Vollkommenes an, dessen Anforderungen ich ganz einfach nicht gewachsen war. Ich wurde mit Recht deshalb ausgeschieden. [...]
Da ich, auch wenn ich gewollt hätte – einen Freund oder Kameraden hatte ich nicht –, mich niemand eröffnen konnte, wühlte ich mich immer tiefer in mich selbst hinein, in dem gefährlichsten Zeitraum zwischen Knaben- und Jünglingsalter allen Zwiespältigkeiten seelisch-sinnlicher Regungen preisgegeben. Dem natürlichen Zustand der Vereinsamung folgte die Verfinsterung.

Sechsundvierzigstes Kapitel 
Ein harter Winter brach herein. Da mein Zimmer ohne Ofen war, gefror das Wasser in der Waschschüssel. Ein übler Husten quälte mich, der aber von den Verwandten nicht beachtet wurde.  [...]
Einer meiner Träume von damals bleibt mir besonders merkwürdig und, weil er die Aufgestörtheit meines Seelenlebens zeigt, erwähnenswert. Da ich mich um drei des Morgens wecken ließ, schlief ich sehr unruhig. Das alte Gutshaus, in dem ich noch immer aushalten mußte, war recht unheimlich. Der Bauer und letzte Besitzer des Hauses sollte sich an einem Balken des Oberbodens aufgehängt haben. Bei der Arbeit wurde davon erzählt, wie denn überhaupt die alten Tagelöhnerweiber die lebende Chronik des ganzen Landbezirkes sind. Ratten und Mäuse sind von Ställen, Scheunen, Getreideböden und Milchkellern nicht auszuschließen. Sie sprangen, tanzten, quiekten des Nachts auf der niedrigen Decke über meinem Kopf. Es ist von der Schelle die Rede gewesen, die ich mir übers Bett gehängt hatte, um mich von der Dorfstraße aus durch den Nachtwächter wecken zu lassen. Das geschah wie immer eines Nachts. Ich warf wieder die Beine aus dem Bett, während die Schelle noch schrie und schepperte. Mit den Phosphorhölzern zündete ich meine Kerze an. Ich fror, ich zog mir die Beinkleider über, zwängte die Füße in die Schaftstiefel, die noch vom vorigen Tage naß und beschmutzt waren, und erhob mich, die übliche Katzenwäsche zu bewerkstelligen. Als das getan war, noch das klägliche Läppchen Handtuch in der Hand, bemerkte ich in dem herzförmig ausgeschnittenen Loch des Fensterlädchens ein schwaches Licht. Gleich darauf war mir, ich hörte entferntes Singen. Das alles überraschte mich, denn schließlich war es ja draußen tiefe, mondlose Nacht, und ein solcher Gesang – es schien kindlicher Chorgesang – war selbst am Tage in diesem entlegenen Ackerdörfchen kaum je gehört worden. Ich zog die Weste, die Jacke und eine zweite, dickere darüber an, umwickelte meinen Hals mit einem Schal, stülpte mir eine Baschlikmütze auf den Kopf und wollte dann sehen, was draußen los wäre. Ich machte das Lädchen, das Fensterchen auf und sah zu meinem wirklichen Staunen, wie sich ein Kinderfestzug, wie sie bei Schulspaziergängen üblich sind, von der Kretschamseite aus die Dorfstraße herauf bewegte. Das Unwahrscheinliche dieser Tatsache konnte nicht hindern, daß sie eine war. Ich fragte den Wächter, der in altertümlicher Weise mit Horn, Spieß, Schaffell und Schaffellmütze ausgerüstet war und noch wartend vor meinem Fenster stand, wie er sich diesen Aufzug erklären könne. Er fand nichts Sonderbares darin. Ich selbst aber ward durch die Begrüßung eines Salzbrunner Jugendgespielen in unbefangener Weise in eine natürliche Verbindung mit dem seltsamen Vorgang gebracht. Wie kommst du hierher? fragte ich, als mir der Freund in schalkhafter Wiedersehensfreude durchs Fenster die Hand reichte. Es schien, die Sache war, etwa um mir eine Freude zu bereiten, abgekartet. Denn nun erkannte ich Alfred Linke, Gustav Krause, den Fuhrmannssohn; Ida Krause, die längst Verstorbene, schritt unter den Schulkindern, und diese führte, es war kein Zweifel, wie ein Hirt die Herde, der alte Salzbrunner Schullehrer Brendel an,  [...]
So wurden wir denn von Frau Kirchner außen herum um die alte Burg geführt. Der Anblick des Felsentales, auf dessen Klippe sie thronte, war großartig. Wir erreichten eine kleine, versteckte Spitzbogentür, wo Frau Kirchner mit knochigen Händen anpochte. Eine Antwort von innen erfolgte nicht. Da schrie sie mehrmals: Kastellan! Kastellan!, während ich fast verzweifelt erklärte, daß ich auf das Bett der Kaiserin nicht den allergeringsten Wert lege. Ich fühlte, wie ich heftiger wurde. Mich ginge die Kaiserin gar nichts an, die Kaiserin sei mir mehr als gleichgültig, ich hätte wahrhaft anderes zu tun, als das Bett einer Kaiserin anzuglotzen. Ich raste, ich schrie: einer der albernen, kläglichen Gaffer, wie sie Frau Kirchner gewöhnt sei, wäre ich nicht! Ich müsse zu meinem Kinderfest, und wenn sie mich jetzt in Dreiteufelsnamen nicht loslasse – bei diesen Worten entdeckte ich plötzlich einen alten, verrosteten, kunstreich geschmiedeten Klingelzug, der mir eine Erlösung deuchte. Ich hängte mich daran, ich riß daran, um wenigstens den Kastellan zu wecken, um wenigstens zu dem verdammten Bett zu gelangen und dann im Laufschritt davonzustürmen. Ein Donner erscholl, die Schelle schallte durch die Räume der alten Burg, daß der Kalk von den Wänden rieselte. Nie habe ich eine Schelle so ohrenzerreißend schmettern hören ...   Und, bei Gott! es war keine andere Schelle als die über meinem Bett, die der Nachtwächter auf der Dorfstraße zog und die mich eben jetzt erst wirklich aufweckte.   
Unter den Traumerlebnissen, die ich gehabt habe, ist dies wohl das seltsamste. Es unterschied sich zunächst kaum von einer greifbaren Wirklichkeit. Die Schelle des Wächters weckte mich, wie verabredet. Ich erwachte dort, wo ich wirklich lag, machte Licht, stand auf, befand mich in meinem eigenen Zimmer, trat ans Fenster, das ich geöffnet hatte, sprach mit dem Nachtwächter und sah, hörte und fühlte nun alles ganz wie im Leben, was ich geträumt habe. Aber bis ich die Schelle des alten Burgturmes zog, waren höchstens fünf oder sechs Sekunden vergangen. So lange hatte der Wächter gelauscht, ob ich antworte, bevor er die Schelle zum zweiten Male in Bewegung setzte, wo ich denn mit einem lauten »Jawohl!« diesmal wirklich erwachte und aus dem Bette sprang.

Siebenundvierzigstes Kapitel 
Es war wie der Sturz in eine eisige Gruft. Ich tastete um mich, griff die Zündhölzer, erlebte, was ich schon einmal erlebt hatte, indem es in meinem Grabe Licht wurde. Und nun hielt ich ein langes, erstauntes, mit Flüsterstimme geführtes Selbstgespräch. Das war mir denn doch noch nicht vorgekommen! Ich habe in den folgenden Wochen immer wieder über dies Ereignis nachgedacht, von dem ich natürlich Onkel und Tante, denen ich davon sprach, keinen Begriff geben konnte. Sie sahen in der Sache nichts Merkwürdiges. Überhaupt: wir verstanden uns nicht. Auch was ich sonst hie und da von meinen Gedanken merken ließ, verschwand ohne Widerhall.  [...]
Eines Tages – es war schon im neuen Haus, ich bewohnte bereits mein Zimmer in der Frontspitze – suchte der Onkel nach dem Kaffee ein Gespräch mit mir. Ich war betroffen. Er sagte das Folgende: »Mein lieber Gerhart, ich möchte dir etwas in allem Guten anheimgeben. Du mußt dich auf den nun einmal ergriffenen Beruf beschränken. Es gibt da unendlich viel zu lernen und zu tun, und du mußt es lernen und mußt es tun, wenn du die Hoffnung hast, einmal ein großes Gut etwa als Verwalter oder Inspektor leiten zu können. Ich mache aber gewisse Bemerkungen, die mich befürchten lassen, du zerstreust, du zersplitterst dich.« – Er griff in die Tasche und holte eine große Menge kleiner Zettel heraus, deren Charakter und Bestimmung ich zunächst nicht verstehen konnte. – »Kennst du diese Zettel? Kannst du dir denken, welcher Art diese Zettel sind? und weshalb ich sie nach und nach gesammelt habe?« Nein, wahrhaftig, das wußte ich nicht. Er wiederholte: »Du weißt das wirklich nicht?« Ich konnte das abermals versichern. »Nun, so laß dir sagen«, fuhr er fort, »wo überall wir diese Zettel gefunden haben. Denn auch Julchen, die Tante, hat ihrer fünf oder sechs an den allerverschiedensten Orten entdeckt: in der Mangelkammer, unter der schmutzigen Bettwäsche, im Kehricht, wenn das Mädchen aufräumte. Ich fand den ersten im Futterkasten unter dem Hafer für die Pferde, wo er Gott weiß wie hingekommen ist.« Es dauerte noch eine gute Weile, bevor der Onkel zur Sache kam. Das tat er etwa mit diesen Worten: »Die Kunst des Dichtens ist eine Gnadengabe von Gott. Ein Dichter, der einer ist, ist immer von Gottes Gnaden. Auf allen diesen Papierschnitzeln sind mit Bleistift Verschen geschrieben, deren Autorschaft du gewiß nicht leugnen wirst.« – Ja, nun wußte ich Bescheid, und wahrscheinlich bin ich nicht wenig erschrocken und über und über rot geworden. »Ach, das sind so Scherze, das sind so Späßchen«, sagte ich. »Nein, das sind keine Scherze, das sind keine Späßchen, das ist eine äußerst ernste Sache, die mit dir äußerst ernsthaft durchzusprechen ich mich für verpflichtet halte. Wären in diesen Gedichtchen Talentproben, ich wäre der erste, dich zu ermuntern, auf diesem Wege weiterzugehn. Andernfalls ist dies ein falscher Weg, durch den viel Zeit vertan werden kann und der nicht selten dazu führt, daß der, der ihn geht, in die schlimmste Selbsttäuschung hineingerät, dem Dünkel verfällt und als nutzloses Glied der menschlichen Gesellschaft durch Müßiggang im Elend endet.« Diese Drohung des Onkels ließ mich gleichgültig. Das Weitere ließ mich ebenso gleichgültig. Er könne es mir nicht vorenthalten, erklärte er, daß in diesem Geschreibsel nicht das geringste, nicht das allergeringste Zeichen von Begabung festzustellen sei. Vielmehr springe das Gegenteil in die Augen ..., und so fort, weshalb er mir dringend rate, lieber Berechnungen anzustellen über den und den und diesen und diesen Zweig der Landwirtschaft. Damit ging die Besprechung zu Ende.  [...]
Mit der Einfachheit und Selbstverständlichkeit des höheren Sinns, der belanglose Eingriffsversuche aus unebenbürtiger Sphäre keiner ernsten Beachtung würdigen kann, ging ich über den überflüssigen Vorstoß des Onkels hinweg und las Tante Julien ein Gedicht vor, das ich nicht lange danach gemacht hatte. Das Poem war lang. Nur wenige Zeilen, nämlich die Schlußzeilen, hat mein Gedächtnis aufbewahrt. Es sprach, soviel ist gewiß, Sehnsucht nach der ewigen Heimat aus, wo verklärte Seelen in Liebe vereint in unendlichen Wonnen dahinleben, wo der Kampf, der Schmerz, das Trennende, das häßlich Sündhafte sich in Reinheit, wie Gewölk im Blau des Himmels, verflüchtigt hatte. Dort ist das Nichterkennen in reine Erkenntnis, die Betäubung und Verwirrung in wache Freude, träge Mühe in alldurchdringende glückselige Kraft aufgelöst. Davon heißt es dann:
...
wo aus dem Dumpfen, Hohlen, Leeren
der reinste Harfenton ersteht,
in jener Schöpfung herrlicher Fülle,
wo liebend alles sich umschlingt
und nur ein einziger hoher Wille
mit Donnerton das All durchdringt.
Auch in diesem Gedicht erkannte Frau Julie Schubert, geborene Straehler, nicht das religiöse Gefühl, aus dem es entsprungen war; die so durch und durch musikalische Natur mit der göttlichen Stimme ward von der sehnsuchtsvollen Musik dieser Verse nicht berührt, die sie für unverständlich und überstiegen erklärte.
Ich füge das folgende arme Elaborat dazu, das mit anderen der Konfiskation meines Lehrherrn verfallen war. Es zeigte mich auf dem Wege zu einer allen Philosophen gemeinsamen letzten und höchsten Vorstellung, woraus erhellt, daß schon in jungen Jahren ein Menschenwesen aus sich an der irdischen Zerschiedenheit leiden und den Rückweg zur All-Einheit mit Hilfe einer zunächst irdischen Synthese suchen kann.
Es ist da von einem Gott die Rede, von dem gesagt worden ist:
...
daß, als er Wahrheit schuf, das Götterganze,
sie in Myriaden Splitter ihm zersprungen,
die sich zerstreueten im Wirbeltanze.
Und schließlich heißt es:
›Wenn, Menschen, ihr des Werkes Splitter findet‹,
so sprach der Gott, ›sorgt, daß ihr sie verbindet!‹

Achtundvierzigstes Kapitel 
Der harte Winter ging vorüber. Meine Milchkur und manche hypochondrische Gegenmaßnahme kamen nicht gegen den Husten auf, der mich quälte. Das Frühjahr brachte eine Linderung. Mit den Besuchen von den näheren und ferneren Pastoreien und Gütern kamen jetzt helle Sommerkleider und große Schäferhüte mit Bändern in Sicht, hübsche Mädchen, die sich in Hof, Haus und Garten lachend tummelten. Ich erschrak vor ihnen, ich wich ihnen aus. Ihrem Übermut hatte ich nur die Beängstigungen einer krankhaften Schüchternheit entgegenzusetzen. Sie würden, dachte ich, einen Menschen wie mich verachten, dem seine Verdorbenheit, im Sinne von Untauglichkeit, bis zur Nichtsnutzigkeit, will heißen: seine Jämmerlichkeit, auf der Stirn geschrieben stand. 
Man hat mir später gesagt, daß die Mädchen ihrerseits sich nicht an den sich seltsam isolierenden Träumer heranwagten. Ich wäre gestorben in ihrer Gegenwart. Der überschäumende, allenthalben frei und selbstsicher auftretende Knabe von einst hatte allen heiteren Freimut verloren, das Lachen verlernt und die Fähigkeit, sich in Unschuld zu freuen. 
Da kam etwa zwischen Ostern und Pfingsten das Ehepaar Schütz mit seinem wohl noch nicht siebenjährigen Töchterchen, Annchen Schütz, zu Besuch. Sie waren zwei Wochen unsere Hausgäste. Das Kind erweckte in mir eine heimliche, tief verschlossene Leidenschaft. Gut gehalten und hübsch herausgeputzt, war das Bergratstöchterchen immer von einer würdigen Frau begleitet, mit der ich in gutem Vernehmen stand. 
Von meinem Zustand ahnte sie nichts und konnte natürlich davon nichts ahnen. Ich sah in dieser Siebenjährigen den lichten Boten aus einer anderen Welt, aus jener, auf die meine Verse hindeuteten. Ich genoß ihren Anblick mit ganz gewiß nicht geringerem Staunen, als Dante den der kleinen Beatrice genossen hat. Ich konnte sie öfter und immer wieder sehen, im Schutze meiner erheuchelten Gleichgültigkeit, die mich hinreichend deckte, wie ich vermuten durfte. Dabei vermochte ich nicht zu begreifen, wie alle, die Eltern, die Wärterin, Onkel und Tante, nicht bemerkten, wer sie war, und mit ihr, wenn auch freundlich, so doch wie mit einem gewöhnlichen kleinen Mädchen umgingen. Denn da sie sichtbar und fühlbar aus himmlischem Stoff bestand, gehörte sie nicht unter niedere Menschen. Man mußte ihr einen Tempel errichten und ihr mit Gesängen, Tänzen und heiligem Altarfeuer huldigen. 
Im Grunde war ich dann wieder froh, ihre wahre Natur unerkannt zu wissen. Wenn sie ihr gnadenvoll beseligendes Auge mit zuwandte, überredete ich mich, es wäre der heimliche Sinn ihrer Sendung, mir allein erkennbar zu sein. Dies war vielleicht ihr eigener göttlicher Wille. Und so blieb es ihr auch wohl nicht verborgen, welche Hymnen in mir klangen, und ebensowenig die Opferfeuer, die unablässig in mir loderten. Nein, sie war gewiß keine Sterbliche.  [...]
Das engelhafte Kind, das mit irgendeinem bürgerlichen Vor- und Familiennamen zu benennen in meinen Augen schon anstößig war, schien niemand in seiner Umgebung, und so auch nicht mich, eigentlich zu beachten. Es zeigte keinerlei Lebhaftigkeit. Von den Drolerien anmutig zutraulicher Erscheinungen gleichen Alters haftete ihm nichts an. Es war zu schön, um eitel, aus zu reinem Stoff gebildet, um selbst stolz zu sein. Man konnte sein liebliches Antlitz weder heiter noch ernst nennen. Es war wie ein überirdisches Licht, das dem vergleichsweise blinden irdischen Auge das außerirdische Schöne erschloß und dabei den Betrachter auf eine unnennbare Weise beseligte. 
Man sprach kaum von ihm. Geschichten wurden von ihm nicht zum besten gegeben. Wenn auch nicht mit dem tiefen Wissen, das ich besaß, wurde es von seinen Eltern sowie von Onkel und Tante mit einer Art Zurückhaltung, nicht eigentlich wie ein Kind behandelt, sondern wie etwas, dessen besondere Würde nicht unberücksichtigt bleiben kann.   
Dante sah das Kind Beatrice schlafend in Amors Arm. Der Gott hielt dabei ein flammendes Herz in der Hand und sagte zu Dante: »Vide cor tuum!« Ich zögere nicht, diesen altgeheiligten Vorgang auch auf diese Kleine, mich einst Beseligende, und mich selbst umzudeuten. Hätte ich wie Dante vollinnerlich damals im Mysterium einer großen Kirche gestanden, ich hätte dieses Kind, wie er die Tochter Folco Portinaris, zur Tochter Gottes gemacht. [...]
Ich lebte in einer Betäubung, in einer Bestürzung dahin und wußte kaum, was ich aus dieser Begnadung machen sollte. Sicher ist, eine Vita nuova hob damit ebenfalls in mir an. War ich einer solchen Begnadung gewürdigt worden, so hatte das ganz gewiß den Sinn, daß ich im Schlamme des Finsteren und des Gewöhnlichen nicht versinken solle, und selbst die Verdammnis, von der in den religiösen Gesprächen der Verwandten viel die Rede war, konnte mich nicht mehr unglücklich machen. Das hier Angeführte gibt ganz gewiß gefühlsmäßig Richtiges jener himmlischen Liebeserfahrung wieder, die mich mitten in meinen Fegefeuersnöten beglückte. Nur daß ich den Namen Dante weder gehört hatte, noch also mir aus einem ähnlichen altgeheiligten Fall den meinigen zu erklären vermochte. So versuchte ich überhaupt irgendeine Erklärung nicht, hätte sie auch niemand, nicht einmal mir selbst zu geben vermocht. Mir würde dazu jedes Mittel gefehlt haben. Die bloße Beschreibung meiner Zustände ging über mein damaliges Mitteilungsvermögen weit hinaus. Im Gefolge dieser Vita nuova, die allerdings eine unstillbar verzehrende Sehnsucht in sich schloß, richtete sich mein Ehrgeiz auf. Er war immer da, aber nach seinem halben Erwachen auf Lohnig wiederum, wie nach dem ersten Breslauer Schultag, ohnmächtig. Eine Abart davon freilich, wenn auch in verkümmertem Zustand, lebte noch. Eine Art Ingrimm war seine Grundlage. Ich hätte gewünscht und wünschte es brennend, doch hoffnungslos, besonders Tante Auguste und Tante Elisabeth die Geringschätzung heimzuzahlen, die Verachtung zu vergelten, die sie immer noch mir gegenüber an den Tag legten. Hatte ich doch noch beim Begräbnis des kleinen Vetters Georg gespürt, wie ihre Augen mit Kopfschütteln auf mir ruhten, weil sie sich nicht enthalten konnten, den Ratschluß Gottes unbegreiflich zu finden, der jenem den Lebensfaden abgeschnitten und mich, den Hoffnungslosen, am Leben erhielt. Um sie zu demütigen, immer tiefer und tiefst zu demütigen, geriet ich in wahrhaft ausschweifende Vorstellungen von Glanz und Erfolg hinein. Der Zustand war peinlich, war ungesund. Der neue, in dem sich ein anderer Ehrgeiz freilich auch nur in Wünschen und Träumen auslebte, hatte den kindlichen Engel und mein Liebeswerben um ihn zum Gegenstand: ein göttliches Ziel, das unzählige Male in der blühenden Märchenwelt meines Innern erreicht wurde. Bald ritt ich als fahrender Ritter in goldener, bald in schwarzer Rüstung aus, um jeden niederzuwerfen, der meiner glorreichen Herrin nicht huldigen wollte. Auch Bilder aus verflossenen Kriegszeiten tauchten auf, glänzende Reiterregimenter, wobei die Gardekürassiere, deren stolze Umzüge ich in Breslau erlebt hatte, obenan standen. Ich gehörte dazu nicht gerade als Regimentskommandeur, aber doch als Rittmeister, der sich im Kriege besonders mit Ruhm bedeckt hatte. So ritt ich am Hause der Geliebten vorbei, die mir beglückt, ja begeistert zunickte und deren Ja mir nun sicher war. Weil ich mich so ganz einem Zustand der Schwäche verfallen wußte, war es Kraft und wiederum Kraft, was ich mir andichtete. Etwas, das ich nicht überwand und der Gebenedeiten zu Füßen legen konnte, gab es nicht: Königreiche, Juwelen, Gold, Schlösser, Sklaven, fremde Vögel, Gewänder aus Scharlach und Hermelin.
Es war eine schwere Prüfung für mich, als eines Tages mein gnädig-gnadenloses Idol entschwunden war. Doch erhielt sie bald in meinem Innern eine zweite Gegenwart, die ihre wirkliche Abwesenheit verbarg. Das Gnadenbildchen herrschte in mir. Sie mußte ja schließlich doch heranwachsen. Ich überredete mich, zu glauben, daß ich nach höchstens zehn Jahren um sie werben und sie zu der Meinigen machen würde. Wieso ich etwas so Unwahrscheinliches annehmen konnte, weiß ich nicht. Mein augenblicklicher Zustand bot weniger Aussichten als mancher frühere, den ich durchlebt hatte. Mein geistiges Vermögen reichte nicht an die Zeit meiner Kindheit hinan oder an jene, in der ich die Meininger Truppe gesehen und hernach vieles von Shakespeare, Schiller und Kleist in mich aufgenommen hatte. Als mir Pastor Gauda den Herder gleichsam aus den Händen nahm und ich Chamisso lieben gelernt hatte, war ich, verglichen mit heut, ein ganz anderer gewesen: geweckt und hell und nicht von schläfrigen Dünsten verfinstert.
Gewissermaßen von Vergangenheit und von Zukunft losgerissen, lebte ich ohne Zusammenhang. Breslau, die Schule, die Familie Gauda, die Familie Mehnert, die Familie Weigelt waren nicht mehr. Mit allen Lichtern und Schatten des Breslauer Lebens waren Shakespeare, Kleist, Schiller, Chamisso, der Zirkus und was sonst unter die Schwelle des Bewußtseins gesunken, gleichsam begraben von einer undurchdringlichen Erdenschicht. Nicht einmal mein Bruder Carl war für mich noch unter den Lebenden. Wie ein Nachtwandler schlich ich dahin.

In diesen fieberhaften Wechsellichtern meiner Aprilzeit, darin Regen, Hagel und Finsternis mit blauem Aufleuchten und stechenden Sonnenblicken abwechselten, wurde meinem Gemüt durch ein gänzlich unerwartetes Erlebnis noch überdies ein harter Stoß versetzt. Eines Sonntags hatte mich mein Weg in die Felder zwischen Lohnig und Dromsdorf geführt, wo mir einige junge Burschen begegneten. Ich traute meinen Ohren nicht, als sie mir klar und deutlich die Worte »Das ist der verfluchte Menschenschinder!« nachschrieen. Einen Zweifel, daß sie mich meinten, gab es nicht, da weit und breit außer uns niemand zu sehen war. Dem Anruf folgten die üblichen Drohungen.
Es waren Verheerungen, die dieser mir zunächst unbegreifliche Schimpf bei meiner Zerflossenheit und meinem Kleinmut in mir anrichtete. Ich hatte mich zu fragen, wie ich zu einem so schrecklichen Ruf unter der ländlichen Bevölkerung kommen, so viel Haß auf mich ziehen konnte. Und wenn ich fand, daß ich eine solche Schande wirklich verdient hatte, so blieb mir nur noch übrig, auf den Rest von Selbstachtung zu verzichten, der mir noch geblieben war, und, trotzdem mein Vater Feigheit darin sah, aus der Welt zu gehen.
Nun wurde mir freilich klar, daß mein übler Ruf mit meinen Versuchen, einem gewissen Schlendrian auf Dominium Lohnig zu steuern, und mit meinem Frühaufstehen in Lederose zusammenhing. Was in Lohnig geschah, entsprang schließlich einer gesunden Tatkraft auf dem naiven Grunde von Unerfahrenheit. Meine Lederoser Praxis, die vor allem doch wohl über meine eigenen Kräfte ging, war Folge eines von meinem Lehrherrn geschürten übereifrigen Pflichtgefühls, da ich ja doch einen Großknecht ersetzen sollte. [...]

(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, 1937)

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