12 September 2017

Johnson: Jahrestage 7.- 8. September 1967

"[...] Aus dem Untergrund der Halle fädeln sich verschlafene Pendler in Richtung Osten zur Lexington Avenue, noch nicht munter genug für den Kampf um die Taxis. Inzwischen sind von den siebenhundert Gesichtern, die sie an diesem Morgen gesehen hat, fast alle vergessen. Jetzt beginnt das Lächeln.
Sie hat es gelernt. Selten noch erschrickt sie vor dem Lächeln, das jeden Morgen gleich auf dem Gesicht des Mädchens am Empfang der Abteilung aufzieht, verrutscht, abstürzt. Sie fühlt sich zu langsam für den ausführlichen, unveränderbaren Austausch der Begrüßung, der Frage nach dem Ergehen, der Antwort, der Gegenfrage, der Gegenantwort, der Verabschiedung; sie hat Mühe, damit in den vier Schritten einer Begegnung auf den Korridoren zu Ende zu kommen. Das hat sie nicht gelernt. Jedoch von diesem Lächeln fühlt sie sich gedeckt und putzt es auf bis ins Ausgelassene.

Das ist unsere Deutsche; Deutsche sind aber anders.

Die Abteilung besteht aus einem inneren Kern von Räumen aus Milchglasscheiben, einem offenen Raum mit Schreibtischgruppen, einem äußeren Rand von Büros, die Fenster zur Außenseite haben. Nach der stählernen Tür, die in ihrem Rücken zuschnappt, passiert sie den Schreibtisch des Empfangs, vier Tische auf der linken Seite, drei Innenbüros auf der rechten Seite. An den Maschinen von Mrs. Agnolo geht sie wie vergeßlich vorbei, ein Gespräch mit dem nächsten Tisch vortäuschend; Mrs. Agnolo hat einen Sohn in Viet Nam. Bei Danang starben gestern 36 Amerikaner, 142 Vietnamesen. Sie fürchtet sich vor dem Morgen, an dem die Todesnachricht hierher mitgebracht wird; der Junge hat noch vier Monate abzuleisten. Die meisten Innenbüros sind schon weißlich von Neonlicht, die Stühle im offenen Raum sind sämtlich besetzt, aber noch packen die Mädchen Arbeit aus, kramen in den Handtaschen, zeigen sich Inserate in der Zeitung. In Brownsville, Brooklyn, haben die Neger Polizisten mit Flaschen und Steinen beworfen. Plünderung, Brandstiftung; auf der anderen Seite des East River. Im Central Park ist ein fünfzehnjähriges Mädchen vergewaltigt worden von zwei Männern, die ihren Freund so zertrampelten, daß er vielleicht sterben wird. In zwei Minuten wird verflochtener Tastenlärm in der Luft hängen, plötzlich wie angeschaltet. Neben ihrer Zelle ist ein Schild aus braunem Kunststoff angebracht, auswechselbar in einer Schiene, mit dem Namen »Miss Cresspahl« in weißer Einprägung. Die Zelle mißt dreieinhalb mal drei Meter, ist mit Teppichboden ausgelegt, versehen mit einem Stahlschrank, Schreibtisch, dem Maschinenbock, Tonbandgerät, Telefon, fahrbarem Sessel, Ablagedecks, Besucherstuhl. [...]" (7.9.1967)

8. September, 1967    Freitag
Der Kriegsminister erläutert die Mauer, die er bauen will an der Nordgrenze Süd-Viet Nams. Er spricht von Stacheldraht, Landminen und eleganter Elektronik; er schweigt sich rein aus.
In den vier Tagen der Kämpfe um Danang sind 114 Marine-Infanteristen getötet und 283 verwundet worden. Auf der anderen Seite fielen 376, aber bei denen zählt die New York Times die Verletzten nicht eigens.[...]

 Vor dreißig Jahren fiel ein Kind von Cresspahl in die Regentonne hinter seinem Haus.
Sie haben ein Gedächtnis wie ein Mann, Mrs. Cresspahl! sagt James Shuldiner zerstreut. [...] James Shuldiner ist ein schmächtiger Herr, feuchtäugig, vergrübelt, von ungelenken Bewegungen, steif, unter schwärzlichem Schopf noch dem Oberschüler ähnlich, der er vor elf Jahren war, ein Junge aus Union City, den keine Bande brauchen konnte, der von beiden Banden Prügel bekam und aus den letzten Ferien stracks in die Armee ging, Mr. Shuldiner, ein versorgter Steuerfachmann, der bereit wäre, stolz zu sein auf ein männliches Gedächtnis. [...] 
 
– Schönen Dank, mein Herr: sagt sie.
 
Mrs. Cresspahl ist nicht stolz auf ihr Gedächtnis. [...] Das Depot des Gedächtnisses ist gerade auf Reproduktion nicht angelegt. Eben dem Abruf eines Vorgangs widersetzt es sich. Auf Anstoß, auf bloß partielle Kongruenz, aus dem blauen Absurden liefert es freiwillig Fakten, Zahlen, Fremdsprache, abgetrennte Gesten; halte ihm hin einen teerigen, fauligen, dennoch windfrischen Geruch, den Nebenhauch aus Gustafssons berühmtem Fischsalat, und bitte um Inhalt für die Leere, die einmal Wirklichkeit, Lebensgefühl, Handlung war; es wird die Ausfüllung verweigern. Die Blockade läßt Fetzen, Splitter, Scherben, Späne durchsickern, damit sie das ausgeraubte und raumlose Bild sinnlos überstreuen, die Spur der gesuchten Szene zertreten, so daß wir blind sind mit offenen Augen. Das Stück Vergangenheit, Eigentum durch Anwesenheit, bleibt versteckt in einem Geheimnis, verschlossen gegen Ali Babas Parole, abweisend, unnahbar, stumm und verlockend wie eine mächtige graue Katze hinter Fensterscheiben, sehr tief von unten gesehen wie mit Kinderaugen.
 
Dor kann se ruich sittn gån.
 
Mr. Shuldiner hat sich unterbrochen in seiner Darlegung der neuesten Verstöße gegen das Völkerrecht, als Mrs. Cresspahl ihre Handtasche aufnahm, die Hand im Rücken des fetten schwarzen Beutels wie im Nacken einer Katze, sich die Tasche über die Hand setzte und dazu etwas aussprach in einem deutschen Dialekt. Er läßt es sich erklären, unbeleidigt, vorgebeugt wie ein aufmerksamer Zuhörer:
Das sagte mein Vater, als ich Angst hatte vor einer Katze unter dem Tisch. Sie legte sich über das Leder seiner Holzpantoffeln zum Schlafen. Das muß auch 1937 gewesen sein. An dem Tag war ich in die Regentonne gefallen.
Und Ihre Mutter, Ihre Mutter stand dabei? sagt Mr. Shuldiner eifrig.
 
Lisbeth ick schlå di dot.
 
Meine Mutter stand nicht dabei. Entschuldigen Sie. Es war ein Tagtraum, Mr. Shuldiner.
James Shuldiner begleitet Mrs. Cresspahl pflichtbewußt entlang der Zweiten Avenue in einen Laden nach dem anderen und beobachtet geniert ihre Versuche, einen Apfel zu kaufen. [...] 
Wenn da eine Katze innen am Küchenfenster lag, bin ich auf einen umgestülpten Eimer gestiegen und von da auf die Regentonne. Wenn auf der Tonne der Deckel fehlte, war meine Mutter in der Nähe. Wenn Cresspahl mich herauszog, hat sie zugesehen. Was soll ich dagegen tun! (8.9.1967)

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