15 August 2017

Wieland: Die Geschichte vom Emir 3. Teil - Von der Lebensweise des Volkes (in: Der goldene Spiegel)

»Die Sittenlehre deines – wie heißt er? ist eine vortreffliche Sittenlehre«, sagte der Sultan zu Danischmenden: »ich habe gut auf sie geschlafen! Aber itzt würdest du mir, weil ich noch keine Lust zu schlafen habe, einen Gefallen tun, wenn du deine Erzählung ohne weitere Sittenlehre zu Ende bringen wolltest.«
Danischmend antwortete wie es einem demütigen Sklaven zusteht, und setzte seine Erzählung also fort.
»›Dieses‹, sagte der Alte, indem er seine Täfelchen wieder zusammen legte, ›sind die Grundsätze, nach welchen wir leben. Wir ziehen sie, so zu sagen, mit der Milch unsrer Mütter ein, und durch Beispiel und Gewohnheit müßten sie uns zur andern Natur werden, wenn sie auch an sich selbst der Natur nicht so ganz gemäß wären als sie es sind. Kannst du dich nun noch länger wundern, daß ich in einem Alter von achtzig Jahren fähig bin meinen Anteil an den Vergnügungen des Lebens zu nehmen? [...]
›Den übrigen Teil unsrer Gesetzgebung‹, fuhr der Alte fort, ›welcher unsre Polizei betrifft, werde ich dir am besten durch eine Beschreibung unsrer Lebensart und unsrer Sitten begreiflich machen. Unsre kleine Nation, welche ungefähr aus fünfhundert Stammfamilien besteht, lebt in einer vollkommenen Gleichheit; indem wir keines andern Unterschiedes bedürfen, als den die Natur selbst, die das Mannigfaltige liebt, unter den Menschen macht.[...]
Wir nähren und bekleiden uns von unsern eigenen Produkten, und das Wenige, was uns abgeht, tauschen wir von den benachbarten Beduinen gegen unsern Überfluß ein. Unsrer Jugend überlassen wir die Sorge für die Herden. Vom zwölften bis zum zwanzigsten Jahre sind alle unsre Knaben Hirten, alle unsre Mädchen Schäferinnen, denn der weise Psammis urteilte, daß dieses die natürlichste Beschäftigung für das Alter der Begeisterung und der empfindsamen Liebe sei. Der Ackerbau beschäftigt die Männer vom zwanzigsten bis zum sechzigsten Jahre; und die Gärtnerei ist den Alten überlassen, welche darin von den Jünglingen der mühsamsten Arbeiten überhoben werden. Der Seidenbau, die Verarbeitung der Baumwolle und Seide, die Wartung der Blumen, und die ganze innere Haushaltung gehört unsern Frauen und Töchtern zu. Jede Familie lebt so lange beisammen, als die gemeinschaftliche Wohnung sie fassen und das väterliche Gut sie ernähren kann. Geht dieses nicht mehr an, so wird eine junge Kolonie errichtet, die sich in einem benachbarten Tale anpflanzt. Denn die Araber (deren Schutz wir mit einem mäßigen Tribut erkaufen, und welche die Natur in uns um so mehr zu ehren scheinen, als es ihnen wenig nützen würde uns auszurotten) haben uns einen größern Umfang von Land überlassen, als wir in etlichen Jahrhunderten bevölkern werden. [Hervorhebung von Fontanefan] [...]
Unsre Kinder werden vom dritten bis zum achten Jahre größten Teils sich selbst, das ist, der Erziehung der Natur überlassen. Vom achten bis zum zwölften empfangen sie so viel Unterricht, als sie vonnöten haben, um als Mitglieder unsrer Gesellschaft glücklich zu sein. Wenn sie richtig genug empfinden und denken, um unsre Verfassung für die beste aller möglichen zu halten, so sind sie gelehrt genug. Jeder höhere Grad von Verfeinerung würde ihnen unnütze sein. Mit Antritt des vierzehnten Jahres empfängt jeder angehende Jüngling die Gesetze des weisen Psammis; er gelobet vor den Bildern der Huldgöttinnen, ihnen getreu zu sein; und dieses Gelübde wiederholt er im zwanzigsten, da er mit dem Mädchen, welches er in seinem Hirtenstande geliebt hat, vermählt wird. Denn die Liebe allein stiftet unsre Heiraten. Im dreißigsten Jahr ist ein jeder verbunden, zu seiner ersten Frau die zweite, und im vierzigsten die dritte zu nehmen, wofern er nicht hinlängliche Ursachen dagegen anführen kann, wovon wir kein Beispiel haben. Diese Vorsicht war vonnöten, weil die natürliche Proportion in der Anzahl der Jünglinge und Mädchen durch Verschickung eines Teils der ersten beträchtlich vermindert wird. Wir haben Sklaven und Sklavinnen; aber mehr zum Vergnügen, als um einen andern Nutzen von ihnen zu ziehen. Wir erkaufen sie in ihrer ersten Jugend von den Beduinen; eine untadelige Schönheit ist alles worauf wir dabei sehen. Wir erziehen sie wie unsre eigenen Kinder; sie genießen des Lebens so gut als wir selbst; ihre Kinder sind frei, und sie selbst sind es von dem Augenblick an, da sie uns verlassen wollen. Sie sind in nichts als in ihrer Kleidung von uns unterschieden, welche zierlicher ist als die unsrige; und das einzige Vorrecht, welches wir uns über sie heraus nehmen, ist, daß sie uns bedienen wenn wir ruhen, und daß ihre vornehmste Beschäftigung ist uns Vergnügen zu machen. [...]
Sind wir zu tadeln, daß wir uns nicht aus allen Kräften der Natur entgegen setzen, die uns glücklich machen will?‹ [...]
Kaum hatten sie hier auf einem Sofa, der rings herum lief, Platz genommen, so sah sich der Alte von einer Menge schöner Enkel umgeben, die, wie schwärmende Bienen, um ihn her wimmelten, ihn zu grüßen und an seinen Liebkosungen Anteil zu haben. Die kleinsten wurden von liebenswürdigen Müttern herbei getragen, unter denen keine war, die in ihrem einfachen und reizend nachlässigen Putze, die weiten Ärmel von ihren schneeweißen Armen zurück geschlagen, und ihren holdseligen Knaben an den leicht bedeckten Busen gelehnt, nicht das schönste Bild einer Liebesgöttin dargestellt hätte. [...]
Der Kontrast des hohen Alters mit der Kindheit, durch die sichtbare Verjüngerung des einen und die liebkosende Zärtlichkeit der andern, und durch eine Menge kleiner Schattierungen, die sich besser empfinden als beschreiben lassen, gemildert; das gesunde und fröhliche Aussehen dieses Greises; die Aufheiterung seiner ehrwürdigen Stirne; das stille Entzücken, das sich beim Anblick so vieler glücklichen Geschöpfe, in denen er sich selbst vervielfacht sah, über alle seine Züge ausgoß; die liebreiche Gefälligkeit, mit welcher er ihre beunruhigende Lebhaftigkeit ertrug, oder womit er die kleinsten auf den Armen der schönen Mütter mit seinen weißen Haaren spielen ließ; – alles zusammen machte ein lebendiges Gemälde, dessen Anblick die Güte der Moral des weisen Psammis besser bewies als die scharfsinnigsten Vernunftsgründe hätten tun können. 
Der Emir selbst, so sehr die ungestüme Herrschaft einer groben Sinnlichkeit die sanftern und edlern Gefühle der Natur in ihm erdrückt hatte, fühlte bei diesem Anblick sein verhärtetes Herz weicher werden, und ein flüchtiger Schimmer von Vergnügen fuhr über sein Gesicht hin; ein Vergnügen, gleich dem himmlischen Lichtstrahl, der plötzlich in den nachtvollen Abgrund einfallend, den verdammten Seelen einen flüchtigen Blick in die ewigen Wohnungen der Liebe und der Wonne gestatten würde, um die Qual ihrer Verzweiflung vollkommen zu machen.
(Der goldene Spiegel 1. Teil 5. Kapitel)

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