15 August 2017

Wieland: Die Geschichte vom Emir 2. Teil - Die Lehren des Psammis (in: Der goldene Spiegel)

Am nächsten Tag hat sich der Emir so weit über seine mangelnde Fähigkeit, sich mit dem Mädchen zu vergnügen, beruhigt, dass er daran geht, sich zu erkundigen, woher es kommt, dass der achtzigjährige Greis so munter und lebendig ist, während es ihm an Lebenskraft fehlt:


 Ich bitte dich, erkläre mir dieses Rätsel. Was für ein Geheimnis besitzest du, welches solche Wunder wirken kann?‹
›Ich kann dir mein Geheimnis mit drei Worten sagen‹, erwiderte der Alte lächelnd: ›Arbeit, Vergnügen und Ruhe, jedes in kleinem Maße, zu gleichen Teilen vermischt, und nach dem Winke der Natur abgewechselt, wirken dieses Wunder, wie du es zu nennen beliebst, auf die begreiflichste Weise von der Welt. Eine nicht unangenehme Mattigkeit ist der Wink, den uns die Natur gibt, unsre Arbeit mit Ergetzungen zu unterbrechen, und ein ähnlicher Wink erinnert uns von beiden auszuruhen. Die Arbeit unterhält den Geschmack an den Vergnügungen der Natur, und das Vermögen sie zu genießen; und nur derjenige, für den ihre reinen untadelhaften Wollüste allen Reiz verloren haben, ist unglücklich genug, bei erkünstelten eine Befriedigung zu suchen, welche sie ihm nie gewähren werden. Lerne an mir, werter Fremdling, wie glücklich der Gehorsam gegen die Natur macht. Sie belohnt uns dafür mit dem Genuß ihrer besten Gaben. Mein ganzes Leben ist eine lange, selten unterbrochne Kette von angenehmen Augenblicken gewesen; denn die Arbeit selbst, eine unsern Kräften angemessene und von keinen verbitternden Umständen begleitete Arbeit, ist mit einer Art von sanfter Wollust verbunden, deren wohltätige Einflüsse sich über unser ganzes Wesen verbreiten. [...]
›Eine alte Überlieferung sagt uns, daß unsre Vorfahren von griechischer Abkunft gewesen, und durch einen Zufall, an dessen Umständen dir nichts gelegen sein kann, vor einigen Jahrhunderten in diese Gebirge geworfen worden. Sie pflanzten sich in diesen angenehmen Tälern an, welche die Natur dazu bestimmt zu haben scheint, eine kleine Anzahl von Glücklichen vor der Mißgunst und den ansteckenden Sitten der übrigen Sterblichen zu verbergen. Hier lebten sie, in zufriedener Einschränkung in den engen Kreis der Bedürfnisse der Natur, dem Anschein nach so armselig, daß selbst die benachbarten Beduinen sich um ihr Dasein wenig zu bekümmern schienen. Die Zeit löschte nach und nach den größten Teil der Merkmale ihres Ursprungs aus; ihre Sprache verlor sich in die arabische; ihre Religion artete in einige abergläubische Gebräuche aus, von welchen sie selbst keinen Grund anzugeben wußten; und von den Künsten, die der griechischen Nation einen unverlierbaren Rang über alle übrige gegeben haben, blieb ihnen nur die Liebe zur Musik, und ein gewisser angeborner Hang zum Schönen und zu geselligen Vergnügungen, welcher die Grundlage abgab, worauf der weise Gesetzgeber ihrer Nachkommen einen kleinen Staat von glückseligen Menschen aufzuführen wußte. [...]
Er fand unsre kleine Nation fähig, glücklich zu sein; ›und Menschen‹, sagte er zu sich selbst, ›welche etliche Jahrhunderte sich an dem Unentbehrlichen begnügen lassen konnten, verdienen es zu sein: ich will sie glücklich machen.‹ Er verbarg sein Vorhaben eine geraume Zeit, weil er weislich glaubte, daß er die ersten Eindrücke durch sein Beispiel machen müsse. Er pflanzte sich unter uns an, lebte in seinem Hause so, wie du uns hast leben gesehen, machte unsre Leute mit Bequemlichkeiten und Vergnügungen bekannt, die ihre Begierden reizen mußten, und kaum ward er gewahr daß er diesen Zweck erhalten habe, so legte er die Hand an seinen großen Entwurf. Ein Freund, der ihn begleitet hatte und von allen schönen Künsten in einem hohen Grade der Vollkommenheit Meister war, half ihm die Ausführung beschleunigen. Viele von unsern Jünglingen, nachdem sie die nötige Vorbereitung von ihnen erhalten hatten, arbeiteten unter ihrer Aufsicht mit unbeschreiblicher Begeisterung. Wilde Gegenden wurden angebaut; künstliche Wiesen und Gärten voll fruchttragender Bäume blühten in Gegenden hervor, die mit Disteln und Heidekraut bedeckt gewesen waren; und Felsen wurden mit neu gepflanzten Weinreben beschattet. [...]
Jeder von uns empfängt beim Antritt seines vierzehnten Jahres, an dem Tage, da er in dem Tempel der Huldgöttinnen das Gelübde tun muß, der Natur gemäß zu leben, einige Täfelchen aus Ebenholz, auf welchen diese Sittenlehre mit goldnen Buchstaben geschrieben ist. Wir tragen sie immer bei uns, und sehen sie als ein Heiligtum und gleichsam als den Talisman an, an welchen unsre Glückseligkeit gebunden ist. Wer sich unterfinge andre Grundsätze einführen zu wollen, würde als ein Vergifter unsrer Sitten und als ein Zerstörer unsers Wohlstandes auf ewig aus unsern Grenzen verbannt werden. Höre, wenn es dir gefällt, was ich dir davon vorlesen will.   ›Das Wesen der Wesen‹, so spricht Psammis im Eingange seiner Gesetze, ›welches, unsichtbar unsern Augen und unbegreiflich unserm Verstande, uns sein Dasein nur durch Wohltaten zu empfinden gibt, bedarf unser nicht, und fodert keine andre Erkenntlichkeit von uns, als daß wir uns glücklich machen lassen. Die Natur, die zu unsrer allgemeinen Mutter und Pflegerin von Ihm bestellt ist, flößet uns mit den ersten Empfindungen auch die Triebe ein, von deren Mäßigung und Übereinstimmung unsre Glückseligkeit abhängt. Ihre Stimme ist es, die durch den Mund ihres Psammis mit euch redet; seine Gesetze sind keine andern als die ihrigen. Sie will, daß ihr eures Daseins froh werdet. Freude ist der letzte Wunsch aller empfindenden Wesen: sie ist dem Menschen, was Luft und Sonnenschein den Pflanzen ist. Durch süßes Lächeln kündigt sie die erste Entwicklung der Menschheit im Säugling an, und ihr Abschied ist der Vorbote der Auflösung unsers Wesens. Liebe und gegenseitiges Wohlwollen sind ihre reichsten und lautersten Quellen: Unschuld des Herzens und der Sitten das sanfte Ufer, in welchem sie dahin fließen.
Diese wohltätigen Ausflüsse der Gottheit sind es, was ihr unter den Bildern vorgestellt sehet, denen euer gemeinschaftlicher Tempel heilig ist. Betrachtet sie als Sinnbilder der Liebe, der Unschuld und der Freude. So oft der Frühling wieder kommt, so oft Ernte und Herbst angehen und geendigt sind, und an jedem andern festlichen Tage versammelt euch in dem Myrtenhaine; bestreuet den Tempel mit Rosen, und kränzet diese holden Bilder mit frischen Blumen; erneuert vor ihnen das unverletzliche Gelübde, der Natur getreu zu bleiben; umarmet einander unter diesen Gelübden, und die Jugend beschließe das Fest, unter den frohen Augen der Alten, mit Tänzen und Gesang. Die junge Schäferin, wenn ihr Herz aus dem langen Traume der Kindheit zu erwachen beginnt, schleiche sich einsam in den Myrtenhain, und opfre der Liebe die ersten Seufzer, die ihren sanften Busen heben; die junge Mutter mit dem lächelnden Säugling im Arme wandle oft hierher, ihn zu den Füßen der holden Göttinnen in süßen Schlummer zu singen.
Höret mich, ihr Kinder der Natur! – denn diesen und keinen andern Namen soll euer Volk künftig führen.
Die Natur hat alle eure Sinne, hat jedes Fäserchen des wundervollen Gewebes eures Wesens, hat euer Gehirn und euer Herz zu Werkzeugen des Vergnügens gemacht. Konnte sie euch vernehmlicher sagen, wozu sie euch geschaffen hat?
Wär es möglich gewesen, euch des Vergnügens fähig zu machen, ohne daß ihr auch des Schmerzesfähig sein mußtet, so – würde es geschehen sein. Aber so viel möglich war hat sie dem Schmerz[58] den Zugang zu euch verschlossen. Solang ihr ihren Gesetzen folget, wird er eure Wonne selten unterbrechen; noch mehr, er wird euer Gefühl für jedes Vergnügen schärfen, und dadurch zu einer Wohltat werden; er wird in euerm Leben sein was der Schatten in einer schönen sonnigen Landschaft, was die Dissonanz in einer Symphonie, was das Salz an euern Speisen.
Alles Gute löset sich in Vergnügen auf, alles Böse in Schmerz. Aber der höchste Schmerz ist das Gefühl sich selbst unglücklich gemacht zu haben‹, – (hier holte der Emir einen tiefen Seufzer) – ›und die höchste Lustdas heitre Zurücksehen in ein wohl gebrauchtes, von keiner Reu beflecktes Leben.

Niemals möge unter euch, ihr Kinder der Natur, das Ungeheuer geboren werden, das eine Freude darin findet, andre leiden zu sehen, oder unfähig ist sich ihrer Freude zu erfreuen! Nein, ein so unnatürliches Mißgeschöpf kann nicht zum Vorschein kommen, wo Unschuld und Liebe sich vereinigen, den Geist der Wonne über alles was atmet auszugießen. Freuet euch, meine Kinder, eures Daseins, eurer Menschheit; genießet, so viel möglich, jeden Augenblick eures Lebens: aber vergesset nie, daß ohne Mäßigung auch die natürlichsten Begierden zu Quellen des Schmerzes, durch Übermaß die reineste Wollust zu einem Gifte wird, das den Keim eures künftigen Vergnügens zernaget. Mäßigung und freiwillige Enthaltung ist das sicherste Verwahrungsmittel gegen Überdruß und Erschlaffung. Mäßigung ist Weisheit, und nur dem Weisen ist es gegönnt, den Becher der reinen Wollust, den die Natur jedem Sterblichen voll einschenkt, bis auf den letzten Tropfen auszuschlürfen. Der Weise versagt sich zuweilen ein gegenwärtiges Vergnügen, nicht weil er ein Feind der Freude ist, oder aus alberner Furcht vor irgend einem gehässigen Dämon, der darüber zürnte wenn sich die Menschen freuen; sondern, um durch seine Enthaltung sich auf die Zukunft zu einem desto vollkommnern Genusse des Vergnügens aufzusparen. [...]
Psammis hat euch neue Quellen angenehmer Empfindungen mitgeteilt: durch ihn genießet ihr, von der täglichen Arbeit ermüdet, einer wollüstigen Ruhe; durch ihn ergetzen liebliche Früchte, in diesen fremden Boden verpflanzt, euern Gaumen; durch ihn begeistert euch der Wein, zu höherer Fröhlichkeit, zu offenherzigem Geschwätze und geistreichem Scherz, ohne welche dem geselligen Gastmahle seine beste Würze fehlt. In der Liebe, die ihr nur unter der niedrigen Gestalt des Bedürfnisses kanntet, hat er euch die Seele des Lebens, die Quelle der schönsten Begeisterung und der reinsten Wollust des Herzens bekannt gemacht. O meine Kinder! welche Lust, welches angenehme Gefühl sollt ich euch versagen? Keines, gewiß keines das euch die Natur zugedacht hat! Ungleich den schwülstigen Afterweisen, welche den Menschenzerstören wollen, um – eitles lächerliches Bestreben! – einen Gott aus seinen Trümmern hervor zu ziehen! Ich empfehle euch die Mäßigung; aber aus keinem andern Grunde, als weil sie unentbehrlich ist, euch vor Schmerzen zu bewahren, und immer zur Freude aufgelegt zu erhalten. Nicht aus Nachsicht gegen die Schwachheit der Natur erlaub ich, – nein, aus Gehorsam gegen ihre Gesetze befehl ich euch, eure Sinne zu ergetzen. [...]
Vervielfachet euer Wesen, indem ihr euch gewöhnet in jedem Menschen das Bild euerer eigenen Natur und in jedem guten Menschen ein andres Selbst zu lieben.
Schmecket so oft ihr könnt das reine göttliche Vergnügen andre glücklicher zu machen; – und du, Unglückseliger, dem von diesem bloßen Gedanken das Herz nicht zu wallen anfängt, fliehe, fliehe auf ewig aus den Wohnungen der Kinder der Natur!‹«
Schach-Gebal war über der Sittenlehre des weisen Psammis unvermerkt so gut eingeschlafen, daß die schöne Nurmahal für ratsam hielt, die Fortsetzung der Geschichte des Emirs auf die künftige Nacht auszusetzen.
(Der goldene Spiegel 1.Teil 4. Kapitel)

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