04 August 2017

John Lanchester: Kapital

Kapital von John Lanchester ist ein Roman über Londoner aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen, an denen aufgezeigt wird, was in der gegenwärtigen britischen Gesellschaft nicht in Ordnung ist (financial crisis of 2007–08immigrationradical Islamcelebrity, and property prices). Er spielt von Dezember 2007 bis November 2008.

Patrick Kamo ist Vater des genialen Fußballers Freddy Kamo und lebt in London, um auf seinen seinen minderjährigen Sohn aufzupassen. Er hasst seine Situation in London, weil er keine Arbeit hat, über die er sich definieren kann, sondern nur als Anhängsel seines Sohnes existiert. Er sehnt sich nach seiner Frau und seinen Kindern und möchte am liebsten sofort zurück.
Aber er verlangt sich ab, dass er das niemandem zu erkennen gibt; denn sein Sohn, der in seiner neuen Situation ganz aufgeht, wo sein Hobby ihn zum reichen Profi gemacht hat, soll nicht erkennen, dass sein Vater dadurch unglücklich gemacht wird.

Die Ungarin Matya Balatu aus Kecskemét arbeitet als Kindermädchen und hat herausgefunden, "dass viele der Kinder, um die sie sich gekümmert hatte, gleichzeitig verwöhnt und vernachlässigt waren. Das war etwas, was sie aus Kecskemét nicht kannte, und deswegen dauerte es auch eine Weile, bis sie es begriffen hatte." (S.291) Die Konsequenz für die Kinder war, dass sie ständig auf sich aufmerksam machen wollten und andererseits nicht verstanden, was es bedeutete, wenn man ernstlich nein zu ihnen sagte. Deshalb wurden die Kinder immer wieder wütend.
Joshua Yount ist auch so ein Kind. Es ist unmöglich seine Launen, was er gerade essen will und was er überhaupt nicht mag vorauszusehen. Aber sie ist in ihn verliebt und er in sie. Deshalb ist die Arbeit trotz des auch nicht einfachen Conrad, seinem älteren Bruder, der in der Schulzeit erst um Viertel vor vier nach Hause kommt, die angenehmste, die sie je hatte.

Die schwarze Politesse Quentina, die illegal arbeitet, weil sie illegal im Land ist, ist die unbeliebteste Frau in der Pepys Road; aber sie hat gelernt, mit dem zu leben, was sie nicht ändern kann, und sich immer auf etwas zu freuen. - Darin unterscheidet sie sich sehr von ihren fast durchweg stark traumatisierten Mitbewohnern in der Unterkunft für illegale Flüchtlinge.

Es gibt auch die Reichen, die Protagonisten, die Hauptpersonen, die sich über ihr Verhältnis zum Geld definieren. Aber die sind keine Individuen. Sie haben zwar Eigenschaften und charakteristische Verhaltensweisen; aber die ergeben sich daraus, wie viel Geld sie zur Verfügung haben. <Das ist natürlich eine problematische Vereinfachung, daher sollte man auch die unten genannten Rezensionen heranziehen.

Weitere Personen (mehr dazu hier):
Die drei muslimischen Brüder Kamel. Ahmed, Händler, Familienvater, pragmatisch. Shahid, idealistisch, war in Tschtschenien, um seinen Glaubensbrüdern zu helfen, jetzt nicht fanatisch, Usman, fanatisch religös.
Roger Yount, Bankmanager und sein Luxusweib Arabella.
Smitty, der anonyme Aktionskünstler, identisch mit Graham, dem Enkel der selbstlosen alten (82 J.) Petunia Howe, ihre Tochter Mary und ihr Mann, Alan, beide in Maldon lebend.
Die polnischen Brüder und Handwerker Zbigeniew (pragmatisch) und Pjotr (idealistisch, ständig kurzverliebt)
Max, der mathematisch hochbegabte, ehrgeizige Stellvertreter von Roger Yount
Parker, Smittys Assistent, der ihn überraschend entlassen wird
Kriminalinspektor Mill, der die Aktion WIR WOLLEN, WAS IHR HABT aufklären soll

Zitate:
"Das Londoner Zentrum für Asyl- und Einwanderungsverfahren, wo über den Einwanderungsstatus von Asylbewerbern im Vereinigten Königreich entschieden wurde [...] hatte die typische Ausstrahlung einer unterfinanzierten Behörde im öffentlichen Sektor: Nichts passte zusammen [...]"
(S.568)
Rogers Gedanken: "Man konnte nicht seinen ganzen Lebensweg als ein Leibeigener der materiellen Ansprüche verbringen und sich ewig dem Kodex der Besitztümer verschreiben. Besitz war einfach nur Besitz." (S.679)  "Ich kann mich ändern, ich  kann mich ändern, [...]" (S.682)

Zum Glück brauche ich hier nicht dem Buch gerecht zu werden. Dazu gibt es gute Rezensionen:

"[...] Zentrum von Lanchesters Roman ist eine Straße namens Pepys Road im südlichen London, eine rot geklinkerte Bastion jahrzehntelanger Mittelstandssolidität, die Anfang des neuen Jahrhunderts rasant an Prestige gewann und prosperierte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Häuser einmal für gehobene Angestellte errichtet worden. Rund hundert Jahre später lassen sich jetzt hier mehr und mehr wohlhabende Akademiker oder Manager nieder, die unablässig die Aufrüstung ihrer Eigenheime betreiben. Wer durch die Pepys Road geht, so heißt es einmal im Roman, hört es immer hämmern und bohren.
Wanddurchbrüche, Dachgeschossausbauten, aufwendige Hightech-Verkabelung: Der Mittelstand streckt sich. Und ist auf einmal Oberschicht. Oder wie Lanchester es auf den Punkt bringt: "Das erste Mal seit Entstehen der Straße waren die Menschen, die in ihr lebten - nach globalen und womöglich auch lokalen Maßstäben - reich. Ihr Reichtum ergab sich einfach und allein aus der Tatsache, dass sie in der Pepys Road wohnten. Sie waren reich, weil wie durch ein Wunder alle Häuser in der Straße nun Millionen von Pfund wert waren." Willkommen im Inneren der Immobilienblase. [...]
"[...] John Lanchester hat eindrucksvolle Bilder für jene tiefgreifenden Umwälzungen im Herzen Londons gefunden. So finden sich seine Figuren am Ende auf jenes ominöse "Los" zurückversetzt, das beim Monopoly den bitteren Neuanfang markiert, den Startplatz für die nächste Runde. Denn das Rattenrennen geht weiter. So oder so."

Wikipediaartikel (englisch)

(zu Arabella u.a.: Don't mix happiness and pleasure.)

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