05 August 2017

Arundhati Roy: Das Ministerium des äußersten Glücks

"Roy ist eine weltberühmte Kapitalismuskritikerin, und ihr Roman Das Ministerium des äußersten Glücks ist bis zum Platzen vollgestopft mit Protest gegen die Ungerechtigkeit der indischen Gesellschaft und unserer Zeit überhaupt. [...] Dass man sich dem allgemeinen Verderben entgegenstemmt, heißt nicht, dass man einen Straßenköter ignorieren dürfte. Wenn ein Käuzchen, das auf einer Straßenlaterne sitzt, "mit der Eleganz und den tadellosen Manieren eines japanischen Geschäftsmannes" den Kopf neigt, dann lässt Roy das Bild nicht einfach liegen, sondern reicht es weiter, an die Frau, die von ihrem Zimmer aus den Vogel im Blick hat: "In manchen Nächten nickte sie ebenfalls und sagte, Moshi , Moshi . Mehr Japanisch konnte sie nicht." Auf beinahe jeder Seite findet sich diese Poesie des Details, finden sich Humor und Genauigkeit und Liebe. [...]  Arundhati Roys publizistische Aufschreie gegen den Überwachungsstaat oder die multinationalen Konzerne sind keine schlüssige Gesellschaftskritik, und Das Ministerium des äußersten Glücks ist kein gelungener Roman. Die Temperatur ist immer zu hoch, die Distanz zu gering. [...] 
Nicht zufällig lebt Arundhati Roy in Indien und ist Das Ministerium des äußersten Glücks ein Indien-Roman. Indien, mit seinem Chaos und seinen Widersprüchen, mit seiner abenteuerlichen Spannweite zwischen quasimittelalterlichem Landleben und hypermoderner IT-Ökonomie, bedeutet die ultimative Überforderung durch eine bedrängende Realität: Die Versuchung, vor dem Angriff der Tatsachen in Deckung zu gehen, sich aus dem unverdaulichen Ganzen bequeme Teilwahrheiten herauszusuchen, ist fast übermächtig. Aber man kennt sie auch außerhalb Indiens. Dem tritt Arundhati Roy mit ihrem Projekt einer schutz- und filterlosen Wahrnehmung entgegen, die vom Antiterrorkampf des frühen 21. Jahrhunderts bis zu den Teeblättern auf der Schnauze eines Hundes alles umfasst. Das Ministerium des äußersten Glücks ist eine Lektion in der Kunst, die Augen offen zu halten." (Jan Roß: Arundhati Roy: Chronistin des Grauens, ZEIT 32/2017, 3.8.17)

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