29 Juli 2017

Ebner-Eschenbach: Die Kapitalistinnen

Zwei Schwestern, Elise und Johanna leben zusammen. Elise ist sehr auf Ordnung und Reinlichkeit bedacht. Johanna liest gerne und liest gern vor.

[...] Dieselbe Genauigkeit, deren sich Elise im Punkte des Reinhaltens der Wohnung befliß, wurde von Fräulein Johanna in einem andern, im Geldpunkte beobachtet. Die Schwestern hatten nach dem Verlaufe von mehr als drei Dezennien, in denen Elise einer Mädchenschule vorgestanden, Johanna Lehrerin in wohlhabenden Häusern gewesen war, eine hübsche Summe zurücklegen können. Das Glück, das ihnen für redliche Arbeit redliche Entlohnung bescherte, zeigte sich auch darin, daß es sie in der Person ihres Onkels Christian Moser einen tüchtigen Schatzmeister finden ließ, dem sie ihre Ersparnisse anvertraut und der mit ihnen geschickt manipuliert hatte. Als der alte Herr starb, fand sich bei ihm in einem großen Umschlag, auf dem geschrieben stand: »Depot, Eigentum meiner Nichten, der Fräulein Elise und Johanna Moser«, ein Kapital von nicht weniger als zwanzigtausend Gulden in Wertpapieren. Dabei ein Zettel, an die Schwestern gerichtet, des Inhalts: »Rate euch, nach meinem Tode die Verwaltung eures Vermögens meinem Sohne, eurem Vetter Julius, zu übergeben, denn was Geldangelegenheiten betrifft, seid ihr wie die neugeborenen Kinder.« Elise stimmte dieser Behauptung mit vielen freundlich-demütigen Bücklingen zu; Johanna war nicht so ganz von ihrer Richtigkeit durchdrungen, ersuchte aber dennoch, im Vereine mit der Schwester, Herrn Julius Moser, das Kapital in seiner Verwahrung zu behalten. Er wollte jedoch nichts davon wissen; er war ein mürrischer, mit Geschäften überhäufter Mann. »Kauft euch eine kleine Wertheimische Kasse und legt euer Geld hinein«, sagte er. »Alle Jahr zweimal will ich kommen, die Kupons abschneiden und einlösen. Ihr habt euch um nichts als nur darum zu kümmern, daß ihr mit eurem Einkommen auskommt«, er lächelte über seinen Wortwitz, »und die Kassenschlüssel nicht verliert.« Als er ihnen dann die Papiere ausgeliefert hatte, waren die Schwestern nach Hause gewandert, und der Weg, den sie von der Hohenbrücke bis in die Singerstraße zurücklegen mußten, war ihnen lang und gefahrvoll erschienen. Johanna hatte das Paket unter den Arm genommen, und dicht neben ihr, an der Kapitalienseite, marschierte Elise. Mehrmals ermahnte diese ihre Schwester: »Nimm dich zusammen; mach's nicht so auf fällig, mach kein so verstörtes Gesicht.« Sie selbst aber, die Mutigere, fühlte ihr Innerstes erbeben, als zwei Arbeiter vorbeikamen und einer den andern anstieß und fragte: »Was tragen denn die?« Die Frage bezog sich auf einige hinter den Fräulein einherschreitende Marktweiber, ließ diese gleichgültig und versetzte jene in einen fieberhaften Zustand. Die arglose Johanna, die sonst auch den Fremdesten das Beste zutraute, immer in Erwartung von etwas Angenehmem, besonders von angenehmen Überraschungen lebte, war heute eitel Sorge und Verdacht. Bei der Heimkehr empfand sie sogar Mißtrauen gegen den biederen Hausmeister, als er sie an der Treppe begrüßte, und bildete sich ein, er habe das Paket in ihren Armen mit sonderbar verlangenden Blicken angesehen. 
Den Nachmittag und Abend brachten die Damen mit Beratungen über den Ankauf der Wertheimischen Kasse zu, die auf Wunsch des Vetters angeschafft werden sollte. Provisorisch legte man das Geld in den Wäschekasten zwischen die Leintücher, nachdem Elise diese Gelegenheit benützt hatte, um den Schrank von oben bis unten auszuräumen und durchzufegen. Spät kamen die Schwestern zur Ruhe, und kaum eingeschlafen, erwachte Johanna mit Herzklopfen, weil ihr träumte, die Wohnungstür, die Elise doch vor ihren Augen versperrt und verriegelt hatte, sei von selbst aufgesprungen, und herein sei der Hausmeister getreten, im Kostüm Rinaldo Rinaldinis und mit einer Kanone in jeder Hand.
In aller Gottesfrüh begann am nächsten Tage die Beratung von neuem. »Eine Kasse anschaffen, – leicht gesagt; aber wie bringt man sie herein, ohne daß die Leute es merken?« meinte Elise. »Und wenn die Leute merken, daß man eine Kasse hat, vermuten sie gleich, daß etwas drin ist. Und das ist sehr gefährlich.«
Dagegen wendete Johanna ein, daß es doch strafbarer Leichtsinn wäre, die Kapitalien dem Wäscheschrank bleibend anzuvertrauen.
Man war noch zu keinem Resultat gelangt, als die in Rede stehende Kasse von selbst erschien. Herr Julius Moser schickte sie seinen Basen zum Präsent, durch zwei kurz angebundene, sehr resolute Männer. Rasch hatten die beiden Zyklopen den besten Platz für die Kasse ausgemittelt: in der Ecke des zweiten Zimmers, zu Füßen von Johannas Bett. Ohne viel zu fragen, stellten sie das schlanke, eiserne Ding dort auf, unterrichteten die Damen im Gebrauch der Schlüssel, überreichten sie samt den Dubletten, nahmen ihr Trinkgeld in Empfang und entfernten sich.
Elise hatte nichts Eiligeres zu tun, als die Spuren wegzutilgen, die die staubigen Stiefel des unerwarteten Besuches auf dem Fußboden hinterlassen hatten. Johanna holte die Kapitalien aus dem Schrank. Sie befreite die Obligationen von ihrer groben Umhüllung, und als sie bemerkte, daß dieselben nachlässig gefaltet waren, ergriff sie das Falzbein. Mit einem Mute, den Elise nur anstaunen konnte, handhabte Johanna die großen, prächtigen Bogen, glättete sie und legte sie wieder vierfach, jetzt aber Kante auf Kante, zusammen. Dann holte sie aus ihrem Vorrat an Schreibpapier das stärkste herbei und verlegte sich auf die Fabrikation von Kuverts, wie sie, so zierlich ausgeschnitten, so fest geklebt, nirgends und um keinen Preis zu kaufen gewesen wären. Jedes derselben hatte eine Aufschrift erhalten: Obligation Nummer Eins, hieß es auf der ersten; Obligation Nummer Zwanzig auf der letzten. Sie bildeten einen erfreulichen Anblick, solange sie auf dem Tische zum Trocknen ausgelegt blieben, und eine stattliche Reihe im Tresor, in dem Johanna sie endlich aufstellte.
Danach hatte sie das Tabernakel verschlossen und die Schlüssel an sich genommen, mit dem Vorsatze, sich in keiner Stunde des Lebens von ihnen zu trennen. Als sie sich zur Ruhe begab, legte sie das kleine Bund unter ihr Kissen, und konnte in dieser Nacht, wie schon in der vorigen, lange nicht einschlafen. Die Worte des Vetters: »Verliert die Schlüssel nicht!« summten ihr im Ohre; das Gefühl der übernommenen Verantwortlichkeit lag ihr schwer auf dem Herzen.
Am Morgen erwachte sie später als gewöhnlich. Die Bedienerin, die täglich kam, um Elise bei der Hausarbeit zu unterstützen, war seit geraumer Weile da und machte sich am Ofen in Johannas Zimmer zu schaffen, als diese die Augen aufschlug.
Sie fuhr empor, – ihr erster Blick fiel auf die Kasse, ihr erster Gedanke war: Wo sind die Schlüssel? ... »Elise«, rief sie plötzlich, »Elise!«
Die Schwester kam herbeigeeilt, und Johanna, die Stimme zum Geflüster senkend, fragte:
»Die Schlüssel?... Hast du sie genommen?«
»Gott bewahre!« erwiderte Elise. »Du hast sie, – unter deinem Kopfpolster hast du sie.«
»Nein!« hauchte Johanna, »ich habe schon gesucht ...«
Elise überlief's, aber sie faßte sich. »Wir wollen noch einmal suchen, besser suchen.«
Es geschah, die Schlüssel wurden gefunden, man lachte, man neckte einander wegen des ausgestandenen Schreckens.
Auf einmal rief's aus der Gegend des Ofens: »Fräul'n, haben Sie mir das zum Unterzünden herg'rieht?« ... Eine kohlengeschwärzte Hand hob sich in die Höhe und schwenkte Papiere in der Luft.
»Was denn, Resi? Was ist's denn?« fragte Elise, von einer unbestimmten Bangigkeit durchzittert.
Resi erhob sich aus ihrer kauernden Stellung, kam auf die Damen zugetrampelt und präsentierte eine Anzahl durcheinandergeworfener Papierbogen, bei deren Anblick den Schwestern der Atem stillstand.
»Johanna!« rief Elise.
»Elise!« rief Johanna.
»Wo haben Sie das hergenommen?« preßte Elise, zur Bedienerin gewendet, hervor.
Die Frau wunderte sich über die Frage und besonders über die Art, in der sie gestellt wurde. Wo sollte sie »das« hergenommen haben? Vom Sessel halt, auf dem »das« gelegen, vom Sessel beim Ofen, neben dem Kanapee.
»Gut«, murmelte Elise, »gehen Sie jetzt nur in die Küche.« Resi gehorchte.
Regungslos bis zur Unheimlichkeit starrte Johanna vor sich hin: »Sessel!... Dort habe ich sie hingelegt«, sprach sie abgebrochen und tonlos, »hingelegt, – um sie dann hineinzulegen in die ... Du weißt.«
»Hast du's denn nicht getan?« fragte Elise.
»Es scheint, – nein«, erwiderte Johanna und drückte das Haupt in die Kissen.
Elise setzte sich; ein kalter Schauer nach dem andern lief ihr über den Rücken. »Schwester«, sagte sie, »so hätten wir denn vergessen, die Kapitalien in die Kuverts zu tun, bevor wir die Kuverts in die Kasse taten.«
Johanna sah die Schwester dankbar an für dieses großmütige »Wir«. »Es scheint so, – obwohl ich es mir nicht denken kann. Viel eher schiene es mir möglich, liebe Schwester...« Die tiefe Zerknirschung, unter deren Last sie eben noch geseufzt hatte, machte einer freundlichen Ahnung Platz, »daß unsre Obligationen im Tresor liegen und daß diese hier andre sind, mit denen uns jemand« – ihre Augen begannen zu leuchten, und sie schloß innigst gerührt – »eine angenehme Überraschung gemacht hat.« Elise fuhr zürnend empor: »Mit deinen Überraschungen – das ist eine fixe Idee! Überraschung – ja! Die Resi war nahe dran, uns eine Überraschung zu machen, – aber eine, von der wir uns unser Lebtag nicht mehr erholt hätten.«
»Du hast recht«, versetzte Johanna, »und wir sind diesem Weibe zu ewigem Danke verpflichtet. Wenn die Klugheit uns auch rät, ihr zu verschweigen, wie groß der Dienst ist, den sie uns geleistet hat – weil sie sonst allen Respekt vor uns verlieren könnte –, wollen wir sie doch belohnen. Wir wollen ihren Gehalt erhöhen.« –
So aufregend waren für die Schwestern die ersten Tage nach dem Antritt der Selbstverwaltung ihres Vermögens gewesen. Und noch gar manche böse Stunde folgte. Den Kassenschlüsseln schien eine eigene satanische Kunst innezuwohnen, sich unsichtbar machen zu können; sie verschwanden einem unter der Hand, – aus der Hand. Und die Raubattentate, die Einbruchdiebstähle, von denen man täglich hörte, die waren auch nicht danach angetan, viel beizutragen zur Seelenruhe alleinstehender Kapitalistinnen. [...]

Die beiden Schwestern erfahren, dass ihre Wertpapiere enorm im Wert gesunken sind, und wenden sich in ihrer Not an einen Grafen, den sie kennen und der Bankpräsident ist. Der gibt ihnen ein Schreiben an einen der ihm unterstellten Direktoren mit.

 [...] Alle Türen öffneten sich vor den Überbringerinnen eines Schreibens des Herrn Präsidenten an den Herrn Direktor.
Dieser, Herr Eduard Plößl, ein kleiner, breiter, feierlicher Mann mit langem, braunem Bart und einer Glatze, die sogleich Elisens Vertrauen und Sympathie erregte, weil sie so schön glänzte, empfing die Schwestern in seinem Bureau und bot ihnen Sitze an, auf die sie sich niederließen, während er den Brief seines Chefs aufmerksam durchstudierte. Nach einer Weile sprach er: »Der Graf empfiehlt mir dringend, mich Ihrer Sache anzunehmen, meine Damen. Mein Rat soll Ihnen bestens zugehen, – bedaure nur den geringen reellen Nutzen. Sie haben böhmische Bodenkreditaktien?«
»Jawohl«, erwiderte Johanna, »Böhmische Bodenobligationen, Herr Direktor.«
Er sah die Schwestern eine Weile prüfend an. Der Anteil, den er ihnen anfangs nur pflichtgemäß geschenkt hatte, steigerte sich und bekam allmählich etwas Inniges, etwas Väterliches.
In der Verhandlung, die sich nun entspann, legte Herr Plößl eine unerschöpfliche Geduld an den Tag; er gab auf zehnmal wiederholte Erkundigungen zehnmal dieselben Auskünfte und machte es den Damen endlich klar, daß es nur zwei Möglichkeiten für sie gab: ihre Papiere zu behalten und den Verlust des ganzen Vermögens auf die Hoffnung hin zu wagen, daß die Liquidation hintangehalten werden könne, oder sich rasch zum Verkauf zu entschließen und ein kleines, aber sicheres Kapital zu retten. »Ich rate dringend zum letzteren«, sagte der Geschäftsmann, »und zwar rate ich zum allerdings verlustvollen Umtausch Ihrer Papiere gegen Grundentlastungsobligationen.«
»Was Sie uns raten, das werden wir tun«, versicherte Johanna.
«Überlegen Sie's heute noch, und für morgen bitte ich wieder um Ihren Besuch – mit den Papieren –, wenn Sie sich zum Verkauf entschließen.«
»Und unsere Renten in dem Falle?« fragte Elise. »Wie würden sie sich zu den bisher genossenen verhalten?«
»Kaum wie ein Drittel zu einem Ganzen«, erwiderte Herr Plößl.
Im Laufe des Nachmittags kamen die Schwestern heim.
»Es war ein trauriger, aber ein stolzer Tag«, sprach Johanna. »Mein Glaube an die Güte der Menschen ist neuerdings befestigt worden... Dieser Graf!... Hast du bemerkt, wie sein Benehmen gegen uns sogleich viel freundlicher und ordentlich respektvoll wurde, als er vernahm, daß wir in Unglück geraten sind? Und dieser Herr Direktor, ist das ein gewiegter, scharfsinniger Geschäftsmann, und dabei wie teilnehmend und fürsorglich... Er hat ein goldenes Herz.«
»Und seine Glatze glänzt wie Silber«, versetzte Elise.
»Wir haben unser Geld verloren, aber einen alten Gönner erprobt und einen neuen Freund gewonnen«, fuhr Johanna fort; »solche Erfahrungen kann man nicht teuer genug bezahlen.«
»Besonders, wenn man's hat«, meinte die praktische Elise. »Wir haben es aber eigentlich nicht. Wir sind jetzt arm.«
»Tut nichts«, entgegnete Johanna, völlig verzückt vor Hoheit der Gesinnung. »Der fromme Maler, Fra Angelico de Fiesole, nennt arm sein den Schatz, der vor vielen unnützen Bedürfnissen sicherstellt.«
»Er wird vermutlich in seinem Kloster mit Kost und Kleidung versorgt worden sein und dort auch freies Quartier gehabt haben...« Elise sah sich traurig um in der blanken Stube. »Wir – werden unsere liebe Wohnung verlassen müssen.«
»Wer weiß!« sprach Johanna. »Es sollte mich nicht wundern, wenn die Hausfrau uns einen Teil des Mietzinses erließe, sobald sie von unserm Mißgeschick erfährt.«
»Wie bringen wir aber das übrige herein?«
»Wir fangen wieder an, Lektionen zu geben.«
»Wenn wir jemand finden, der sie nimmt.«
»Der Herr Direktor empfiehlt uns seiner Familie.«
»Wenn er eine hat.«
»Der Herr Graf verwendet sich zu unsern Gunsten bei seinen zahlreichen Konnexionen; es wird uns an Beschäftigung nicht fehlen.«
»Aber vielleicht an der Kraft, sie auszuüben. Wir sind nicht mehr jung; wo ist die Zeit, in der wir noch Fünfzigerinnen waren?« warf Elise ein.
Alle ihre Bedenken jedoch vermochten nicht, Johannas Hoffnungsfreudigkeit und Zuversicht zu erschüttern. Den ganzen Abend baute sie an ihren Luftschlössern fort.
Am folgenden Morgen allerdings, als sie die Kuverts mit den Obligationen aus der Kasse nahm und, der Ordnung wegen, auch noch die erst in sechs Jahren fälligen Kupons dazu legte, da wurde sie sehr betrübt und weich, und die Schwestern getrauten sich nicht, einander anzusehen auf dem dornenvollen Wege zur Bank.
Dort angelangt, erhielten sie sogleich Audienz bei ihrem huldreichen Beschützer. Johanna überreichte ihm die Wertpapiere und bat ihn, mit denselben nach seinem Gutdünken zu verfahren, während Elise mit nervösem Kopfnicken ihre Zustimmung erteilte.
»Das heißt so viel, als Sie sind entschlossen zum Verkaufe?«
»Entschlossen« –»Entschlossen«, sprachen die Schwestern nacheinander.
Herr Plößl gab seinen Beifall zu erkennen, setzte sich, öffnete das erste Kuvert, zog Obligation Nummer Eins hervor, –stutzte, sagte lebhaft: »Nu!« und griff nach Obligation Nummer Zwei.  [...] 

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