09 Dezember 2016

Der Proceß um des Esels Schatten

Veranlassung des Prozesses und Facti Species. 
Kaum hatten sich die guten Abderiten von dem wunderbaren Theaterfieber, womit sie des ehrlichen, arglosen Euripides Götter- und Menschenherrscher Amor heimgesucht hatte, wieder ein wenig erholt; kaum sprachen die Bürger wieder in Prosa mit einander auf den Straßen, kaum verkauften die Drogisten wieder ihre Niesewurz, schmiedeten die Waffenschmiede wieder ihre Rapiere und Transchiermesser, machten sich die Abderitinnen wieder keusch und emsig an ihr Purpurgewebe, und warfen die Abderiten ihr leidiges Haberrohr weg, um ihren verschiednen Berufsarbeiten wieder mit ihrem gewöhnlichen guten Verstande obzuliegen [...]
Die Sache fing sich (wie alle große Weltbegebenheiten) mit einer sehr geringfügigen Veranlassung an. Ein gewisser Zahnarzt, namens Struthion, von Geburt und Voreltern aus Megara gebürtig, hatte sich schon seit vielen Jahren in Abdera häuslich niedergelassen; und weil er vielleicht im ganzen Lande der einzige von seiner Profession war, so erstreckte sich seine Kundschaft über einen ansehnlichen Teil des mittäglichen Thracien. [...]
Struthion mietete sich also einen andern Esel, bis zu dem Orte, wo er sein erstes Nachtlager nehmen wollte, und der Eigentümer begleitete ihn zu Fuße, um das lastbare Tier zu besorgen und wieder nach Hause zu reiten. Der Weg ging über eine große Heide. Es war mitten im Sommer und die Hitze des Tages sehr groß. Der Zahnarzt, dem sie unerträglich zu werden anfing, sah sich lechzend nach einem schattigen Platz um, wo er einen Augenblick absteigen und etwas frische Luft schöpfen könnte. Aber da war weit und breit weder Baum noch Staude, noch irgend ein andrer Schatten gebender Gegenstand zu sehen. Endlich, als er seinem Leibe keinen Rat wußte, machte er Halt, stieg ab, und setzte sich in den Schatten des Esels. «Nu, Herr, was macht Ihr da», sagte der Eseltreiber, «was soll das?» «Ich setze mich ein wenig in den Schatten», versetzte Struthion, «denn die Sonne prallt mir ganz unleidlich auf den Schädel.» «Nä, mein guter Herr», erwiderte der andre, «so haben wir nicht gehandelt! Ich vermiete Euch den Esel, aber des Schattens wurde mit keinem Worte dabei gedacht.» «Ihr spaßt, guter Freund», sagte der Zahnarzt lachend; «der Schatten geht mit dem Esel, das versteht sich.» «Ei, beim Jason! das versteht sich nicht», rief der Eselmann ganz trotzig; «ein andres ist der Esel, ein andres ist des Esels Schatten. Ihr habt mir den Esel um so und so viel abgemietet. Hättet Ihr den Schatten auch dazu mieten wollen, so hättet Ihrs sagen müssen. Mit Einem Wort, Herr, steht auf und setzt Eure Reise fort, oder bezahlt mir für des Esels Schatten was billig ist.» [...]
Der ungeschlachte Mensch bestand darauf, daß er für den Schatten seines Esels bezahlt sein wollte; und da Struthion eben so hartnäckig dabei blieb nicht bezahlen zu wollen, so war kein andrer Weg übrig, als nach Abdera zurückzukehren, und die Sache bei dem Stadtrichter anhängig zu machen.  [...]
Allein diesmal kamen so viele besondere Ursachen zusammen, der Sache einen schnellern Schwung zu geben, daß man sich nicht darüber zu verwundern hat, wenn der Prozeß über des Esels Schatten binnen weniger als vier Monaten schon so weit gediehen war, daß nun am nächsten Gerichtstage das Endurteil erfolgen sollte. Ein Rechtshandel über eines Esels Schatten würde sonder Zweifel in jeder Stadt der Welt Aufsehen machen. Man denke also, was er in Abdera tun mußte! Kaum war das Gerücht davon erschollen, als von Stund an alle andre Gegenstände der gesellschaftlichen Unterhaltung fielen, und jedermann mit eben so viel Teilnehmung von diesem Handel sprach, als ob er ein Großes dabei zu gewinnen oder zu verlieren hätte. Die einen erklärten sich für den Zahnarzt, die andern für den Eseltreiber. Ja, sogar der Esel selbst hatte seine Freunde, welche dafür hielten, daß derselbe ganz wohl berechtigt wäre, interveniendo einzukommen, da er durch die Zumutung, den Zahnarzt in seinem Schatten sitzen zu lassen und unterdessen in der brennenden Sonnenhitze zu stehen, offenbar am meisten prägraviert worden sei. [...]
Endlich besann sich der ehrliche Anthrax eines Mittels, wie er vielleicht den Erzpriester ohne Dazwischenkunft der Tänzerin und ihres Kammermädchens auf seine Seite bringen könnte. Das Beste daran deuchte ihm, daß er es nicht weit zu suchen brauchte. Ohne Umschweife – er hatte eine Tochter, Gorgo genannt, die, in Hoffnung auf eine oder andre Weise beim Theater unterzukommen, ganz leidlich singen und die Zither spielen gelernt hatte. Das Mädchen war eben keine von den schönsten. Aber eine schlanke Figur, ein Paar schwarze große Augen, und die frische Blume der Jugend ersetzten (seinen Gedanken nach) reichlich was ihrem Gesicht abging; und in der Tat, wenn sie sich tüchtig gewaschen hatte, sah sie in ihrem Festtagsstaat, mit ihren langen pechschwarzen Haarzöpfen und mit einem Blumenstrauß vor dem Busen, so ziemlich dem wilden Thracischen Mädchen Anakreons ähnlich. Da sich nun bei näherer Erkundigung fand, daß der Erzpriester Agathyrsus auch ein Liebhaber vom Zitherspielen und von kleinen Liedern war, deren die junge Gorgo eine große Menge nicht übel zu singen wußte: so machten sich Anthrax und Krobyle große Hoffnung, durch das Talent und die Figur ihrer Tochter am kürzesten zu ihrem Zwecke zu kommen. Anthrax wandte sich also an den Kammerdiener des Erzpriesters, und Krobyle unterrichtete inzwischen das Mädchen, wie sie sich zu betragen hätte, um wo möglich die Tänzerin auszustechen, und von der kleinen Gartentür ausschließlich Meister zu bleiben. Die Sache ging nach Wunsch. Der Kammerdiener, der durch die Neigung seines Herrn zum Neuen und Mannigfaltigen nicht selten ins Gedränge kam, ergriff diese gute Gelegenheit mit beiden Händen; und die junge Gorgo spielte ihre Rolle für eine Anfängerin meisterlich. Agathyrsus fand eine gewisse Mischung von Unschuld und Mutwillen und eine Art wilder Grazie bei ihr, die ihn reizte weil sie ihm neu war. Kurz, sie hatte kaum zwei- oder dreimal in seinem Kabinette gesungen, so erfuhr Anthrax schon von sichrer Hand, Agathyrsus habe seine gerechte Sache verschiedenen Richtern empfohlen, und sich mit einigem Nachdruck verlauten lassen: wie er nicht gesonnen sei, auch den allergeringsten Schutzverwandten des Jasontempels den Schikanen des Sykophanten Physignatus und der Parteilichkeit des Zunftmeisters Pfriem preiszugeben. [...]
4. Kapitel 
Gerichtliche Verhandlung. Relation des Beisitzers Miltias. Urtel, und was daraus erfolgt. 
Inzwischen war der Gerichtstag herbeigekommen, an dem dieser seltsame Handel durch Urtel und Recht entschieden werden sollte. Die Sykophanten hatten in Sachen geschlossen, und die Akten waren einem Referenten, namens Miltias, übergeben worden, gegen dessen Unparteilichkeit die Mißgönner des Zahnarztes verschiednes einzuwenden hatten. Denn es war nicht zu leugnen, daß er mit dem Sykophanten Physignatus sehr vertraut umging; und überdies wurde ganz laut davon gesprochen, daß die Dame Struthion[Fußnote: Wir wissen wohl daß dies nicht à la Grecque gesprochen ist; aber die Dame Struthion ist wie Frau Damon in unsern Komödien: und was liegt dem Leser daran, wie die Zahnärztin mit ihrem eigenen Namen geheißen haben mag? ], die für eine von den hübschen Weibern in ihrer Klasse galt, ihm die gerechte Sache ihres Mannes zu verschiedenen Malen in eigner Person empfohlen habe. Allein da diese Einwendungen auf keinem rechtsbeständigen Grunde beruhten, und der Turnus nun einmal an diesem Miltias war, so blieb es bei der Ordnung. [...]
Der Erzpriester hingegen hatte den Handel bisher nicht für wichtig genug gehalten, sein ganzes Ansehen zugunsten seines Beschützten anzuwenden. Allein da die Sachen zwischen ihm und der schönen Gorgo ernsthafter zu werden anfingen, indem sie, anstatt einer gewissen Gelehrigkeit die er bei ihr zu finden gehofft hatte, einen Widerstand tat, dessen man sich zu ihrer Herkunft und Erziehung nicht hätte vermuten sollen, ja sich sogar vernehmen ließ: «Wie sie Bedenken trage, ihre Tugend noch einmal den Gefahren eines Besuchs durch die kleine Gartentür auszusetzen», – so war es ganz natürlich, daß er nun nicht länger säumte, durch den Eifer, womit er die Sache des Vaters zu unterstützen anfing, sich ein näheres Recht an die Dankbarkeit der Tochter zu erwerben. Der neue Lärm, den der Eselsprozeß durch die Provokation an den großen Rat in der Stadt machte, gab ihm Gelegenheit, mit einigen von den vornehmsten Ratsherren aus der Sache zu sprechen. «So lächerlich dieser Handel an sich selbst sei, sagte er, so könne doch nicht zugegeben werden, daß ein armer Mann, der unter dem Schutze Jasons stehe, durch eine offenbare Kabale unterdrückt werde. Es komme nicht auf die Veranlassung an, die oft zu den wichtigsten Begebenheiten sehr gering sei; sondern auf den Geist, womit man die Sache treibe, und auf die Absichten, die man im Schilde oder wenigstens in Petto führe. [...]
(Wieland: Die Abderiten, 2. Teil 4. Buch 1.- 4. Kapitel)

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