27 Oktober 2016

Wolf Biermann: Warte nicht auf bessre Zeiten! Die Autobiographie

Ein hervorragendes Kompendium zur Vergegenwärtigung der Geschichte der DDR. Denn es stimmt, was Helmut Schmidt gesagt hat: "Wolf Biermann hat ein Stück deutsche Identität gestiftet."

Biermann bleibt sich selber treu. Er hat immer Recht.
Aber wenn er das nicht geglaubt hätte, wie hätte er sich so in der DDR behaupten können!

Das Lied, dessen Titel Biermann seiner Autobiographie vorangestellt hat:
Warte nicht auf bessre Zeiten

Zitate

"Dialektik der Berühmtheit: Der Knebel im Mund des populären Sängers verwandelt sich in ein Mikrophon." (S.233)
"Ausgerechnet in den elf Jahren meines Totalverbots war ich der wohl am wenigsten isolierte Mensch in der DDR." (S.239)
"Ausgerechnet ich, der arbeitslose Staatsfeind, stellte den Faust nun pro forma an als meinen Privatsekretär - verdrehte Welt!" (S.312)
"Freiheit ist seit je die einzige Ware, deren Preis sinkt, wenn endlich die Nachfrage steigt." (S.324)
Auf dem evangelischen Kirchentag in Hannover sang Biermann sein Lied Ermutigung:
" 'Du, lass dich nicht verhärten, in dieser harten Zeit ...' - die bewährten fünf Strophen in evangelischer Kirchentonart.* Das passte. In Schweden ist das Lied inzwischen sogar ins offizielle Gesangbuch der protestantischen Kirche aufgenommen worden." (S.382)
"Und zum Schluss kam ich den Kirchentagsbesuchern mit einem unbekannten Lied, denn ich wollte in Hannover nicht den gläubigen Christen mimen. Es kulminiert in den Zeilen: 'Und meine ungläubigen Lippen/ Beten voller Inbrunst/ Zu Mensch, dem Gott/ All meiner Gläubigkeit.'
Soweit so gut. Der Sänger hatte seine Schuldigkeit getan und trat ab. [...] In der vorderen Reihe stand der oberste Hirte der Evangelischen Kirche Deutschlands, der greise Präses Kurt Scharf. Ein würdiger Bischof mit weißem Haar, wie ein Heiligenbild von Lukas Cranach. In der Nazizeit war er Mitglied der Bekennenden Kirche gewesen, und aus der DDR war er 1961, kurz nach dem Bau der Mauer, ausgebürgert worden. Pastor Scharf legte väterlich den Arm um meine Schulter. Plötzlich stürmte eine Frau aus dem Publikum auf uns zu. Sie fuchtelte mit den Armen, sie kreischte wutverzerrt. Als sie mit Fäusten auf mich losgehen wollte, hatte ich nur Angst um meine Gitarre. Der alte Mann sprang wie ein Junger dazwischen. Er umarmte die Furie. Er schlug seine Arme fest um sie und umklammerte sie wie eine lebende Zwangsjacke. Die Frau kreischte: 'Das ist eine Gotteslästerung! Der Biermann soll nicht singen! Nicht hier! Biermann betet nicht zu Gott, sondern zu Mensch! Das ist eine Gotteslästerung!' Der Kirchenmann ließ nicht los und brüllte ihr ins Ohr – denn brüllen musste er, weil die Lautsprecher so nah standen: "Meine Liiiebe! Gerade Wolf Biermann soll für uns singen. Und er darf doch zu Mensch beten. Denn Gott hat seinen Sohn als Menschen gesandt, um unsere Sünden zu vergeben! Der Biermann ist vielleicht frommer als wir!' Daraufhin ließ er sie los. Sie glaubte ihm, glaube ich, kein Wort. Was ist 'ne verrückte Szene! Das wütende Schaf tappte zurück zu den Schafen. Und der Wolf stand verwirrt neben dem Hirten." (S. 382/383)
Anti-Stasi-Demonstration nach der Wende:
"Das Volk brüllte mit Schaum vor dem Mund. Es herrschte eine dumpfe Lychstimmung. [...] Ich fingerte ein paar Figuren auf der Gitarre und goss dann Öl ins Feuer: 'Auch ich hasse dieses Stasipack!' - die Leute johlten. [...] Die Wut der Leute war ganz nach meinem Herzen. Und nach meinem Verstand. Denn ich wusste ja, worauf ich hinaus wollte. Wie ein gewiefter Demagoge drehte ich ab in einen brechtschen Break. Ich brüllte ins Mikrophon: 'Das passt zu euch! Ihr brüllt! Ihr wollt Rache! Aber ihr seid Feiglinge! Als Ulbricht und Honnecker und Mielke an der Macht waren, habt ihr alles mitgemacht und alles mit euch machen lassen! ... Da habt ihr geschwiegen und habt euch geduckt! ... Und jetzt, wo es zum Glück nichts mehr kostet, jetzt wollt ihr, dass wir an diesen Mördern zu Mördern werden!? - Nein!' [...]
Mein überraschender Angriff brachte sie zum Nachdenken. Und es besänftigte sie mein Lied 'Ermutigung': 'Du, lass dich nicht verhärten, in dieser harten Zeit ...' " (S.431/32)
"Manche Konflikte, wie der zwischen Abrahams Söhnen Ismael und Isaak haben gar keine Lösung, sondern nur eine Geschichte." (S.460)

* Noten und Text dieses Liedes stehen auf den Einbandinnenseiten des Buches.


Wichtige Passagen

Englische Bomben wie Himmelsgeschenke
Feuersturm in Hamburg S.35-39

Zur Gitarre, zum Klavier
Onkel Kalli schmuggelt 50 Schachteln Zigaretten aus dem Freihafen und tauscht dafür ein Klavier für Wolf ein S.47

Maßnahmepläne zur Zersetzung
Emma Biermann S.239-243

Moskau 1971
Samisdat S.249
Dissidenten in Moskau S.252

Wer sich nicht in Gefahr begibt, der kommt drin um
"Finanzierung des "arbeitslosen" Lebens S.256-264
liebste Gitarre S.269
Streit mit Havemann S.269-271
Kritik an Brandts Ostpolitik S.273

Weltjugendfestspiele. Oma Meime. Realsozialistische Liebe.
Oma Meume S.283-385

Tine Barg S.289-291

 Stasiunterlagenbehörde: Zum allgemeinen Umfeld

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