22 Oktober 2016

Bruno Frank: Cervantes

Bruno Frank: Cervantes 
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Frank schildert eine abschreckende Welt. Madrid ein Drecknest mit Philipp II. als sich hinter Akten versteckender religiöser Eiferer. Rom regiert von einem Asketen, der Sinnenlust bekämpft, ohne Ausschweifungen verhindern zu können. Die Schlacht von Lepanto, ein Sieg für die Geschichtsbücher, aber ohne Folgen. Der Sieger, Juan d'Austria, eitel und bald todkrank angesichts der Nichtachtung, die Philipp II.  ihm bereitet. Die arabische Welt um Algier prachtvoll und von unübertreffbarer Grausamkeit. Überall wird die Religion zum obersten Maßstab erklärt, und die Handlungen strafen das Lügen. Die Elite lebt von Ausbeutung und Menschenhandel. Dazwischen geht Cervantes voll Ehrgeiz zunächst, als Sklave wundersam verschont und in der Freiheit in Spanien ausgestoßen.

 [...] Mochte der asketische Papst predigen lassen und Kleider- und Sittengesetze verkünden, noch war viel übrig von einstiger Lebensheiterkeit. Mochte Spanisch Mode sein, die römischen Frauen wandelten die Madrider Tracht ins weiblich Lose und Lockere. Farbige, schmiegsame Seide modellierte den Wuchs, die Krause umstand als offener Spitzenfächer reizvoll das Haupt mit dem freigetragenen, natürlich frisierten Haar, das nicht blond genug sein konnte. Man zeigte den Hals, freigebig auch den Ansatz der Brüste. [...]
Da brachte in diesem Winter eine Denunziation den Dominikaner aufs neue in eifernden Zorn. Er verlangte genauen Bericht, sah, wie es stand, und griff abermals zu. Listen wurden gefertigt. Von einer Stunde zur andern, auf einen Schlag, drang die gemaßregelte Polizei in die Wohnungen, ergriff die Nichtsahnenden und trieb sie zusammen. Dem Hausherrn, der künftig noch eine von ihnen zu herbergen wagte, wurde Kerker auf Lebenszeit angedroht. Das Ghetto beim Augustusgrab sollte ummauert werden. Pius zog einen Pestkordon um die fleischliche Lust. Der junge Miguel Cervantes hatte jene Liste selbst in der Hand gehabt, und sie seinem Kardinal hingereicht, der das Bleisiegel anlegte. Er hatte sie nicht beachtet, die Liste, was ging sie ihn an! Nun sah er das Blatt wieder vor sich, in furchtbarer Vergrößerung, mit jedem Schnörkel des Schreibers. »Die Dirnen Panada, Toffoli, Scappi, Zucchi, Zoppio ...« Regina Toffoli, das war sie. Seine Natur parierte den furchtbaren Einbruch von Scham und Gram, sie wich aus, er wurde krank. Als kleinem Bübchen daheim in Alcala war es ihm einmal ähnlich ergangen: als ihn zwei größere und stärkere Knaben überfielen, ihm die Hände banden und den Wehrlosen durchprügelten. Fast wäre er daran gestorben. Es war damals wie heute ein starkes Fieber, unter Erlahmen wichtiger Leibesfunktionen, subjektiv ein durchaus erträglicher Zustand: Schmerzen fehlten zunächst, und ein sanftes Delirium hob ihn aus der Realität. So lag er in seiner Turmstube auf schlechtem Bett. Niemand bekümmerte sich um ihn. [...]
Er gesundete und wollte aufstehen. Der Kanonikus erlaubte es nicht. Der alte Mann war glücklich bei dieser Pflege. Von näheren Kriegsereignissen war jetzt zwischen ihnen die Rede. Fumagalli brachte die Nachrichten. 

Der Feldzug gegen die Türken

Es handelte sich um die Türken, um Zypern und um das Mittelmeer. Schwer vollzog sich die Einigung zwischen den christlichen Staaten. Man war fromm und ergrimmt, aber zäh und verschlagen und äußerst genau. Frankreich sperrte sich völlig, in Wien der Kaiser hatte Bedenken, zwischen Philipp, dem Papst und Venedig, die übrigblieben, erhob sich ein Feilschen um die Ausrüstung jeder Galeere, um jede Getreidelieferung. Philipp vor allem war ein höchst kaufmännischer Partner. Er schob auf und wog ab und gab nicht Bescheid. Jede Beihilfe zu der gottgefälligen Unternehmung ließ er sich abkaufen. Um den Zwieback jedes Ruderknechts wurde gemarktet. Aber jede entweichende Woche machte die Lage kritischer. Schon war auf Zypern Nicosia gefallen, die Hauptstadt Famagusta ohne Hoffnung bedroht, Kreta, Korfu und Ragusa in naher Türkengefahr. Endlich hieß es, es sei so weit: von den Kriegskosten werde der Papst ein Sechstel übernehmen, Venedig zwei Sechstel, Spanien die Hälfte. Wenn der Kanonikus derlei berichtete und gegen die Knauser und Zauderer loszog, hörte der genesende Miguel kaum hin. Diese trübe und lächerliche Realität bestand nicht für ihn. Das Innerste seiner Natur kehrte sich ab von ihr. Glaube und Heldentum, ungebrochen und strahlend, das war seine Wirklichkeit. Und der kriegerische Bauer im Priesterkleid war nicht der Mann, das zu tadeln. Aus dem Elternhause in Alcala kam in diesen Tagen ein lang erwarteter Brief. Nach umständlichen Ratschlägen und Segenswünschen enthielt er auch Nachricht über Bruder Rodrigo. Rodrigo war wirklich Soldat geworden. In den Kämpfen gegen die letzten spanischen Mauren, im wilden Gebirge südlich Granadas, hatte er sich Ansehen verdient und würde nun seinem Feldherrn zur Flotte folgen, in den Entscheidungskampf gegen den Sultan. Wer war dieser Feldherr? Don Juan d'Austria. Prächtiger Name, für Miguel nur ein Schall. Er fragte den Priester. Der wußte Bescheid. Es war erstaunlich, wie er Bescheid wußte, es war gefährlich. »Ein Sohn vom Kaiser Carolus ist das, Söhnchen«, erzählte er hitzig. »Ganz jung noch, keinen Tag älter als Du. Ein Halbbruder von Deinem Philipp, den ich Dir schenke. Die Mutter war eine Deutsche. Schön soll er sein wie ein Gott und nichts träumen als Siege. Dein Philipp hat einen Kardinal machen wollen aus ihm, das versteht sich. Aber jetzt ist er Großadmiral und zieht gegen die Türken, und wenn's nach unserem Oberhaupt im Hause hier geht, dann gibt's einen Kreuzzug, und Don Juan erobert das heilige Grab.« Das Gemüt des jungen Miguel war ein gelockerter Acker. Jedes Wort ging auf. Da er ein Mensch der Phantasie, der sinnlichen Vorstellungskraft war, sah er den Kaisersohn vor sich, in weißem Glanz, seine schönen Züge wurden eins mit denen des Puniers, der unter einem Renaissancehelm mit flatterndem Busch auf sein Lager herabsah. Wäre es möglich, Rom zu verlassen und dieser Standarte zu folgen! Rom war ihm verhaßt nach dem, was geschehen war. Und zum Kleriker war auch er nicht geschaffen, so wenig wie der, der den Kardinalshut ausschlug. Er genas und erwog. Da brachte Fumagalli die Einzelheiten vom Falle Nicosias. Den Verteidigern der venezianischen Feste war freier Abzug zugesagt worden. Aber die Türken brachen das Abkommen, und zwanzigtausend entwaffnete Menschen fielen ihrer Mordlust zum Opfer. Das war entsetzlich. Der fromme Christ und der fühlende Mensch waren in Miguel entflammt. Er wog nicht ab und er fragte nicht. Er dachte auch keineswegs an die Untaten, die sein eigenes Spanien an Andersgläubigen beging, nicht an Folter, Austreibung, Mord, die seit Isabellas und Ferdinands Tagen hunderttausendfach gegen Mauren und Juden gewütet hatten. Da herrschte Gottes Gebot, und der Zweifel war Sünde. Christenmord war ein Anderes. [...]
Der Tag der Schlacht hatte mit gewaltigen Griffen an seinem Innern geformt, nie würde jenes Fieber wiederkehren, dem er sich auftaumelnd damals entrissen hatte. Seine Seele war ruhig und stark, er war dem Tod kämpfend so nahe gewesen, hatte ihn so hundertfach neben sich wüten sehen, daß er ihm vertraut war und ihn nicht mehr schreckte. Erstaunlich war es, daß er noch lebte, ein eigentlich unerwartetes Geschenk; eine feste, gleichmäßige Heiterkeit hatte er als Lebensmitgift aus dem trunkenen Gemetzel davongetragen. Jedermann spürte das. [...]
bald nach dem Tod des Propheten, triumphierte der Islam. Er griff weit umher, griff nach Spanien hinüber, fand dort sein schönstes Reich und ward zur Kultur. Aber auf afrikanischer Erde mordeten sich seine Sekten. Noch war Roms Segen nicht völlig zerstört. Noch war das arabische Blut nur ein Tropfen im Mischkrug. [...]
Algerien als Seeräuberstaat im Osmanischen Reich
Man »wurde« Türke. Es war eine Karriere. Hier galt kein Vorurteil. Hier gab es keinen Geburtsadel, dessen Ansprüche der Tapferkeit, dem Talent des Niedrigerzeugten den Weg versperrten. Jeder Rang, jedes Glück stand einem jeden von ihnen offen. Auf diesen Renegaten ruhte das Reich. Als Moslem geboren zu sein, war kein Vorzug, eher raubte es die Anwartschaft auf das Beste. [...]
Dem König gegenüber stand die Gilde der Reïs, der Schiffseigentümer und Raubkapitäne, der eigentliche Nährstand von Algier. Denn dieser ganze Staat war ein Handelsgeschäft mit Menschenleben und geraubten Gütern. Hätten die Piratenfahrten versagt, man wäre Hungers gestorben. Es wurde ja nichts produziert. [...]
Frei gingen zwischen Ämtern und Sklaven die trinitarischen Mönche umher, die den Loskauf vermittelten. Die erlösenden »Almosen« zusammenzubringen, war von Alters her die Funktion ihres Ordens. Sie beförderten auch die Korrespondenz der Gefangenen, sie arbeiteten Hand in Hand mit ihren Familien; vor ihrer geschäftlichen Bedeutung machte der Fanatismus der Renegaten willig Halt. König und Kapitäne verkehrten mit diesen Mönchen wie die Chefs großer Firmen mit Handelsvertretern. [...]
Es ist mit der Genialität eines Mannes bestellt wie mit der Frauenschönheit: das Wort vermag sie nur zu behaupten, nicht sie spürbar zu machen. [...]
Der Mann ist ruhmlos, unbekannt, eine Null im Haufen, und sein Los scheint es, in Ketten zu verkommen. Aber unterdessen ist mit ihm selber etwas Großes und Rätselhaftes geschehen. Aus seiner Person bricht eine wärmende und erhellende Kraft, die jeden anrührt, der ihm nahe kommt, die Vertrauen und Neigung erweckt [...]
Hinrichtung, Verstümmelung, Folter waren tägliche Kurzweil, das Wehgeheul der Gequälten so gewohnt wie Eselgeschrei und Geklingel der Wasserverkäufer, die Prügelstrafe, die fast immer zum Tode führte, eine regelmäßige Einrichtung wie der tägliche Markt.  [...]
Der Reïs mit zwei Trabanten blieb zurück. Nachdenklich spazierte er vor dem stumm wartenden Cervantes auf und ab und ließ elegant seinen elastischen Totschläger wippen. »Daß an Euerm Rang und an Euerm Kaufwert nichts ist, Miguel«, sagte er endlich, »weiß ich längst. Es hat mir gefallen, das bis heute aufrecht zu erhalten. Aber was Ihr nicht habt, das kann Euch werden.« »Erhöhung durch den Strang, meint Ihr. Ich weiß es.« »Unter den Korsaren einer der Größten, Horuk Barbarossa, Chaireddins Bruder, war ein einhändiger Mann so wie Ihr!« Cervantes schwieg. »Was winkt Euch bei den Euern? Was wollt Ihr in Spanien? Nehmet den Turban! Ich gebe Euch frei. Ich geb' Euch ein Schiff. Ihr werdet von Eurer einen Hand guten Gebrauch machen. Schlagt ein!« Und er bot ihm die Rechte. Cervantes nahm sie nicht. »Was hindert Euch? Euer Gott? Er hat Euch bis heute nicht sonderlich begnadet. Euer König? Er kennt Euch nicht. Eure Gefährten? Ihr habt erlebt, wie sie mit Schmähungen über Euch herfielen. Glaubt mir, dies ganze Geschlecht verdient nichts anderes, als daß man ihm die Köpfe zertritt.« »Was wird aus meinen Gefährten, Reïs? Ihr werdet sie schonen?« »Schweigt doch von diesem Geziefer! Besinnt Euch! Ich werd' Euch nicht noch einmal anbetteln.« Er sah dem Cervantes ins Gesicht, machte kehrt, pfiff seinen Leuten, wie man Hunden pfeift, und ging ohne ein weiteres Wort. [...]
Die Lebenslage des Cervantes in den Jahren, die folgten, war eigentümlich, ja wundersam. Mehrfach des Todes schuldig im Sinne der Machthaber von Algier, ging er frei umher und niemand krümmte ihm ein Haar. Niemand auch zwang ihn zur Arbeit. Er hatte Wohnung im Bagno. Gefiel es ihm, fernzubleiben und anderswo, etwa unter den Sternen, zu nächtigen, so begrüßte ihn bei der Wiederkehr die Wache wie einen entbehrten Bekannten. Höchst vielfältig war sein Verkehr: die Sklaven aller christlichen Zungen, das Schiffsvolk der Reïs, die schmuckbelasteten Weiber unter den Torbögen, Soldaten, Religionspersonal, Handwerker, Beamte, handelnde und gelehrte Juden machten ihn aus. Ihn kannten die Kinder. Er war in der Leute Mund. Daß ein Entsetzlicher wie Dali-Mami ihn schonte, ihn offenbar auf irgend eine Weise in sein düsteres Herz eingeschlossen hatte, erschien so tief erstaunlich, daß manche von Zauber murmelten. Sie waren nicht so weit von der Wahrheit. [...]
Ach, nicht mit dem Kiel, nicht mit dem Schwert war ihm bestimmt, die Größe zu erreichen! Noch immer war er das Schülerlein aus Meister Hoyos' Akademie. Noch immer und für immer ein bettelarmer Invalid. Aber um die Mauern der Djenina brandete und schwoll seine Legende. Die Briefe nach Spanien, Italien und Frankreich sprachen von ihm. Damals war er geliebt und berühmt. [...]
Vom Sklavendasein befreit in Spanien
Am vierundzwanzigsten segelte Miguel Cervantes nach Spanien ab. Fünf Jahre und einen Monat war er in Algier gewesen. Sein Herz war ohne Freude, mühsam nur hoben Hoffnungen noch ihre Flügel. [...]
Luisas Kloster, genannt La Imagen, war eines von der strengsten Regel. Seine Nonnen, barfüßige Karmeliterinnen, lebten nach den Vorschriften der großen Teresa von Avila. Von grobem Tuch war ihr Kleid, ihr Lager eine Matratze aus Stroh, Brot und gesalzener Fisch ihre Nahrung, ihr langer Tag Gebet und Arbeit. Kein Geschenk, keine Freundlichkeit war erlaubt, sie durften einander nicht einmal die Hände reichen im Kloster. Unter dieser Regel lebte Luisa schon viele Jahre. Sie war eine besonders gottesfürchtige Nonne, hoch angesehen für ihre Sinnesart. Als im vorigen Jahr die alte Teresa nach Toledo gereist war, da hatte sie eigens den Umweg gewählt, um in Alcala die fromme Schwester Luisa von Bethlehem zu sehen. Und ihrer verhältnismäßigen Jugend zum Trotz hatte man sie heuer zur Subpriorin ihres Klosters erwählt. Miguel Cervantes betrachtete seine Mutter. Die wundervollen Augen erstrahlten, während sie von den verdienstlichen Entbehrungen ihres Kindes berichtete. Er war lange von Spanien fortgewesen, doch wie gut begriff er auch heute noch, daß nicht er und nicht Rodrigo, sondern allein diese Entrückte in der Klosterzelle die mütterlichen Wünsche stillte ... Das Unbedingte! Das fast Unmögliche! Das war sein Volk. Dieser Teresa und denen, die ihr folgten, genügte nicht Kirchengläubigkeit, auch die strengste nicht. Durch Glut und Verzückung wollten sie Wunder erzwingen gleich denen der Heiligen in christlicher Frühzeit. Zerreißen mußten alle Dämme kühler Vernunft und gelassenen Lebens. Einsame Kasteiung stieß die Pforten des Himmels ein. Grenzenlose Vereinigung mit Gott war das Ziel. [...]
Gearbeitet wurde eigentlich garnichts in der Unica Corte und in den übrigen spanischen Städten nicht viel. Die Schätze von den indischen Inseln, aus Mexico und Peru, flossen durch das Land hindurch, ohne es zu befruchten, und ergossen sich in dynastische Unternehmungen ohne irdisches Maß. Der Bauer aber grub seine steinharte Erde und erlag in unausdenklicher Armut. [...]
Unverdrossen, laut schreiend, so daß sich Miguel vor Verlegenheit zu krümmen begann, zählte er seine Verdienste und Taten auf: Lepanto war, wenn man ihn hörte, ohne das Eingreifen seines Ältesten eine vernichtende Niederlage. Wer aber kümmerte sich heute in Spanien um jene Seeschlacht! Alte Geschichten! Es war eher verdächtig, an ihnen Teil zu haben, seitdem der prinzliche Admiral von damals in mehr als halber Ungnade aus dem Leben geschieden war. Und dann: man hatte Überfluß an Helden. In allen Kneipen aller spanischen Städte standen sie hoch in der Kreide und ödeten die zahlenden Gäste mit ihren Rodomontaden. Tunesische und algerische Abenteuer gar waren wohlfeil wie Zwiebeln. Zu Bergen häuften sich in allen Schreibstuben die Gesuche an den König: »que Vuestra Magestad me haga merced.« Nach drei Wochen wußte Miguel Cervantes genug. [...]
Man glaubt nach langer Abwesenheit in eine Stadt voller Freunde und guter Bekannter zurückzukehren, und ist am dritten Tag schon allein. [...]
Theater 
Als Cervantes gegen die zweite Nachmittagsstunde den »Spielhof zum Kreuz« betrat, war das Theater schon voll. Erstaunt, gefesselt, blickte er sich um. Das war etwas völlig anderes als die Jahrmarktsbuden, darin er als Knabe die verschollenen Komödien Ruedas hatte aufführen sehen. Der Raum war, ganz dem Namen entsprechend, ein richtiger großer gepflasterter Hof, der durch die Hinterwände besonders hoher Häuser gebildet wurde. Die Bühne, um vier Fuß erhöht, nahm die eine Schmalseite ein. Sie war vorn offen und leer. Grob bemalte Vorhänge schlossen sie auf drei Seiten ab und stellten im Hintergrund eine Landschaft mit einem maurischen Schloß, links ein vornehmes Zimmer, rechts einen Garten dar. Eine Versenkung im Boden, mit einer Klappe versehen, repräsentierte den technischen Apparat. [...]
Was in diesen drei Akten vor sich ging, war ein wirbelndes und wirres Versteckspiel aller mit allen, darin in jedem Augenblick jeder die Existenzform tauschte, der Edelmann zum Arzt, zum Stierkämpfer oder zum Müller wurde, das Fräulein zum Zigeunerknaben oder zur Gärtnerin, die Gärtnerin zum Mohren oder Studenten, der Student zum Gespenst, das Gespenst zum buckligen Stummen, bis endlich, nach einer unversieglichen Springflut von Vers und Reim, von Terzinen Quintillen Romanzen Redondillen, durch Dazwischenkunft von Feen Göttern Ministern und Drachen, vier frischverlobte Paare glückatmend dastanden und an der vorhanglosen Rampe ihre heiteren Schlußreime sangen. Miguel Cervantes erschien das alles als ein recht geschickter und bunter, aber doch auch leerer und etwas alberner Zeitvertreib für die großen Kinder im Parterre, die jede Überraschung und jedes Witzwort mit lärmenden Zurufen begrüßten. Dagegen setzten sofort die Pfiffe und Schmähungen wieder ein, wenn eine der Larven da oben sich in längerer Versrede erging. Das wollten sie nicht, die »erzenen Hörer«, die »Infanteristen«, die »Musketiere«, von denen im Vorspruch mit so schmeichlerischer Komik die Rede gewesen war. Rasende Handlung und Verwandlung wollten sie,  [...]

In Madrid hatte ihn niemand kennen wollen, hier in Portugal fand er sich am ersten Abend im Mittelpunkt eines freundwilligen Kreises. Jeder dachte für ihn. Man wies ihm die Wege. Am dritten Tage schon wurde ihm eine Gnadengabe des Königs in Höhe von fünfzig Dukaten überreicht. Sie mochte seinen Empfehlungen zu verdanken sein, einer milden Regung des Königs, ein wenig dem Zufall. Aber eine Woche darauf erfolgte mehr. Er erhielt einen königlichen Auftrag. Der Auftrag war ehrenvoll. Der Gouverneur von Oran sollte zum Ordensritter von Santiago ernannt werden. Cervantes sollte das Handschreiben überbringen. Hundert Dukaten Reisegeld wurden ihm ausbezahlt. [...]
Er trank den ersten Becher des Glücks erhitzt, wie ein ungeduldiger Knabe. [...]
Er trug seine Mütze noch immer zu Recht, sie war mehr als ein Andenken. Er hatte wahrhaftig nur eine Sklaverei gegen die andere eingetauscht. [...]
Nichts von Würde war an dem jungen Mann. Jäh wechselten seine Launen, in nichts hielt er Maß, jeden Augenblick gab es Skandal wegen der schönen Osorio, eitel war er bis zum Absurden, keine Schmeichelei erschien ihm zu plump, gutherzig und freigebig zeigte er sich im einen Moment und gleich darauf von giftiger Bosheit. Stellte man ihn, so kostete es ihn wenig, das eigene Wort zu verleugnen. Schon wußte er nichts mehr davon. Das hatte ein Andrer gesagt ... Ein Andrer war er wirklich von Stunde zu Stunde, ein hundertgestaltiger Proteus. So erschien auch sein Schöpfertum dem Cervantes. [...]
Ana Franca Sie behauptete, die Tochter eines Herrn vom Hofe zu sein, und nannte sich de Rojas, Ana Franca de Rojas. Wahrscheinlich aber war ihr Vater ein deutscher Soldat gewesen, die Leute behaupteten es, und ihr blondes Haar sprach dafür. Ihre Mutter verkaufte unechten Schmuck und billigen Weiberputz in einem Durchgang an der Calle de Toledo. Das wurde Cervantes gleich am ersten Abend ins Ohr geflüstert. Er hütete sich sonst vor den Frauen im »Wappen von Leon«, aus Furcht, eine einladen zu müssen. Heute stieg er ohne Weiteres über zwei Männer hinweg, die neben ihr auf der Bank saßen, schob die Erstaunten beiseite und begann zu reden. Geschmeichelt von einer so augenscheinlichen Wirkung ihrer Person, lächelte die Blonde ihn an. Er ließ sie nicht erst zu Wort kommen, das hatte Zeit, und unterhielt sie in einem erprobten Ton zwischen Huldigung und Ironie. [...]
Es stand nun ein Feind auf gegen Miguel Cervantes, furchtbarer als fanatische Türken und blutlüsterne Renegaten. Ein laut- und gestaltloser Feind, gegen den keine Waffe zur Hand war: Langeweile. [...]
Cervantes kam es mit einem Mal zum Bewußtsein, daß er manche Stände in Spanien gekannt hatte: Soldaten, Beamte, Priester, Gelehrte, ein wenig den Hof und den Adel, aber nichts vom spanischen Volk. Das hatte keine Stimme. Man trat es wie die Erde, über die es gebückt stand. [...]
Er war nicht müßig gewesen. Der Einheit und Reinheit des Glaubens über die Länder hin hatte seine lebenslange, schwere Mühe gegolten. Wo immer gegen den neuen Geist Hände sich erhoben, die Hand mit dem Kriegsschwert, die goldgefüllte Hand der Bestechung, die Meuchlerhand mit dem Dolch, immer hatte der kränkliche, leise Herr im Escorial sie gelenkt. Er allein hatte Frankreich in Bürgerkrieg und Elend gestürzt, die Niederlande zerfleischt und ihren großen Oranien gemordet, immer wieder den Stahl gezückt nach dem Leben der abtrünnigen Königin auf dem Throne von England. Aber sie lebte. Das Mißlingen der letzten Verschwörung hatte Maria Stuart auf dem Schafott bezahlt; auch sie war für Philipp gestorben. Jetzt raffte er, am Abend seiner belasteten Tage, die Kräfte und Schätze der ihm anvertrauten Völker zusammen gegen dies England. [...]
Geld! Geld! Aber nichts ist genug. Dieser König, der das gesamte Silber und Gold der Welt kontrolliert, muß mehr als einmal seine nächtliche Aktenarbeit vorzeitig abbrechen, weil kein Geld mehr vorhanden ist, um neue Kerzen zu kaufen. [...]
Auf ihren Maultieren durchreiten die Proviantkommissare des Königs das erliegende Land, sie pressen aus den Ausgepreßten das Letzte. Wo sie auftauchen, ist dumpfe Verzweiflung und Wut. Sie erbrechen Scheuer, Schuppen und Keller. Sie lassen dem Bauern nicht Korn mehr für seine Aussaat. So will es Gott. Und einer von ihnen ist Miguel Cervantes. [...]
Tiefer ging es nun nicht. Er hatte den Boden erreicht. Leuteschinder und Armenpresser: er machte sich keine Illusionen über sein Amt. Entschuldigungen gab es, gewiß. [...] Solch ein Blutsauger war er jetzt selbst.  [...] Er hatte die Hölle, für zwölf Realen am Tag. Er war gar kein Mensch mehr. Er war ein Werkzeug in diesem klappernden, schadhaften Staatsmechanismus. [...]
Im Gefängnis
An diesem ersten Tag rührte sich Miguel Cervantes viele Stunden lang nicht von seiner Bettstatt. Starb man nicht Hungers hier oder wurde von den Läusen aufgefressen, so hatte man für Wochen zu schauen. Es war ein ungeahntes Menschengemisch. Denn hier existierte kein Unterschied nach dem Grunde der Haft. Sträfling, Untersuchungsgefangener oder Schuldhäftling – alles galt völlig gleich. Der Kaufmann, der einen Wechsel nicht einlösen konnte, schlief neben dem abgeurteilten Räuber. Der Stutzer, der seinem Schneider schuldig geblieben, wurde vom Muttermörder gehänselt, für den im Hof schon der Galgen gerichtet war. Einbrecher und Raufer, Fälscher und Falschmünzer, Sodomiten und Kinderschänder lebten mit Leuten, die garnichts getan hatten und das erst beweisen sollten, in phantastischer Gemeinschaft. [...]
Lieber Himmel, sah er so aus! Waren sein Kinnbart und der lange, hängende Schnurrbart nicht kürzlich noch golden gewesen? Jetzt waren sie trübes Silber. Und diese langen, tiefen, schlaffen Falten neben der Nase. Der Mund ... Er wies sich selber die Zähne. Wenn er noch acht oder zehn besaß, war es viel, und nicht zwei davon bissen recht aufeinander, alle standen sie in eigensinniger Isolierung umher. Die Augen allein schienen wie ehedem, in denen wohnte noch mutiges Leben.  [...]
Er begann in dem geräumigen Gemach auf und ab zu wandern, bemüht, Vergangenes zu sichten, zu klären. Aber es war zu viel. Alles ging wirr durcheinander. Ein ununterscheidbares Wogen von Hoffnung, Entschluß und Enttäuschung, neuem Anlauf, neuer Enttäuschung. [...]
Er durchlief seine Jahre der Länge und Quere nach. Immer wieder kam er die selben Straßen, der Ritter schien sich selber entgegenzureiten wie ein Gespenst. Illusion und Traum! Traum vom indischen Amt, Gouverneur oder Richter. Traum vom Dichterruhm, der entschwebte. Traum vom ländlichen Frieden im Mancha-Dorf ... Aber hier stockte er. [...]

Wenn er allenthalben Kampfesehren ersah und zu erlösende Unschuld, als ein rührender Narr, der ewig zu fassen meint, was ewig entschwebt und zergeht. Und der überall seine Schläge bezieht, niedergeworfen wird, sich aufrichtet, weiterzieht, unenttäuschbar, mit starrem Greisenblick entgegen dem unverlöschlichen Schimmer der Illusion [...]
Philipp II.
Er blieb des Gedankens fähig, diese äußerste Heimsuchung sei Gottes Unterpfand für die ewige Herrlichkeit. Wer am schärfsten geprüft wird, der wird am höchsten erhöht. Er zog aus Leiden und Körperschmach die triumphale Bestätigung seines Glaubens, dem er sein Glück und das Glück seiner Staaten geopfert. [...]
Philipp über Heinrich IV.
Es war unausdenkbar und doch offenbar: dieser König glaubte an nichts. Was Philipps Herz und Geist in siebzig Lebensjahren erfüllt hatte, für diesen Heinrich zählte es nicht. Die Herrschaft zählte, die Einheit des Landes zählte, die Wohlfahrt seines Volkes zählte. Dafür würde er Türke werden, Feueranbeter. Sein berühmtes Edikt, das den Glaubensfrieden verkündete, Rechtsgleichheit der Konfessionen – was war es anderes als das Achselzucken eines gottfremden Menschen, dem irdisches Glück über alles galt. [...]
Philipps Vertrag mit Heinrich
Paix, Amitié, Réconciliation – wahrhaftig, so hatte kein Druckwerk je noch gelogen. Wie oft hatte Philipp versucht, ihn ermorden zu lassen! [...]
Dieses Heinrich ganze Existenz war ein Hohn auf sein eigenes siebzigjähriges Königsdasein, auf sein ganzes strenges, entsagungsvoll dunkles Leben im Dienste der einen, der erhabenen, der ja doch einzig wahren Idee. Wie konnte Gott es zulassen, daß frecher Unglaube so triumphierte! [...]
Cervantes und sein Don Quijote
Alles kommt in der Kunst auf den Ausgangspunkt an. Sein Ausgang war gut. Er war auf gesegnetem Wege. Längst schon war Don Quijote nicht der einfache Narr mehr, dem die Ritterbücher das Hirn verrückt haben. Er war ein höher Besessener. Unsinn trieb er noch immer wie zehn Verrückte, doch seine Rede war weise. Längst zog er nicht mehr allein. [...]
In dem Rahmen, den sein glücklicher, erster Griff gespannt hatte, war für alles Raum, für Sklavengeschichten, Liebesgeschichten, Landfahrergeschichten, alles fügte sich ein wie im glücklichen Traum. [...]
Und auch den mönchhaft Schweigenden im Escorial nicht, der in diesen Herbsttagen verloschen war, und für dessen lebenslange, gewaltige Illusion die Gefangenen in diesem Hause noch immer bezahlten. [...]
Würde man hinter seinem Hidalgo den Geist Spaniens erkennen, der großmütig blind hinter Gewesenem her war, während ringsum die Welt zu neuer Wirklichkeit aufwachte? [...]
»Wie Don Quijote viele Unglückliche befreit, die man gegen ihren Willen führt, wohin sie nicht wollen.« Es war die Geschichte von den zwölf Galeerensträflingen, die, mit langer Kette an den Hälsen aufgereiht, unter scharfer Bedeckung dem Hafen zuwandern. Die Don Quijote aufhält und ausfragt und zu befreien beschließt: »denn mein Ritteramt macht mir's zur Pflicht, die Gewalt zu bekämpfen und allen Hilflosen beizustehen. Und, es könnte doch sein, liebe Brüder, daß bei dem einen von euch die Folter, bei dem andern die Not, Mangel an Protektion bei dem dritten und bei den übrigen ein ungerechter Spruch des Gerichts an allem die Schuld trägt.« [...]
»Der Esel, Rosinante, Sancho und sein Herr blieben allein auf der Walstatt zurück. Der Esel stand mit hängendem Kopf in tiefen Gedanken da und schüttelte von Zeit zu Zeit die Ohren, als glaubte er, der Steinregen daure immer noch fort. Rosinante, die ein Steinwurf zu Boden geschlagen hatte, lag neben ihrem Herrn dahingestreckt. Sancho stand im bloßen Wamse da, zitternd aus Angst vor der Polizei. Don Quijote aber wollte vor Unmut fast vergehen, daß die, denen er sich hilfreich erzeigt, ihn nun so häßlich behandelten.« [...]

Ja, so sollte nach Jahr und Tag sein Buch einmal enden, mit diesem einfachen Schlüssel- und Zauberwort gut.

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