16 Juni 2016

Kaum aus dem Käfig befreit, stürzt sich Don Quijote in neuen Streit

Bei einer Rast wird Don Quijote  aus seinem Käfig herausgelassen. Da gesellt sich ein Ziegenhirte zu der Gesellschaft und erzählt eine Geschichte von einer jungen Frau, die er liebt und die ins Kloster gesteckt worden ist.

Alle erzeigten sich gegen Eugenio freundlich, am großmütigsten aber vor allen andern Don Quixote, welcher sprach: »Wahrlich, Freund Ziegenhirt, wär es mir zur Stunde möglich, irgendein neues Abenteuer anzufangen, so würde ich mich augenblicklich und stracks auf den Weg machen, um mich Euch gefällig zu erzeigen; denn aus dem Kloster, in welchem sie sich ohne Zweifel gegen ihren Willen befindet, würde ich Leandra herausnehmen, trotz der Äbtissin und aller, die mich daran hindern wollten, und sie Euch übergeben, um mit ihr nach Eurem Wohlgefallen zu schalten, vorausbedungen, daß die Gesetze der Ritterschaft nicht verletzt würden, welche gebieten, daß keiner Jungfrau irgend Gewalt und Mißhandlung widerfahre. Doch hoffe ich zu Gott dem Herrn, daß ein boshafter Zauberer nicht so gar gewaltig sein wird, daß nicht ein anderer, gut denkender Zauberer noch mehr Macht besitzen sollte, und auf diesen Fall verspreche ich Euch meine Gunst und meinen Beistand, wozu mich überdies mein Handwerk verpflichtet, welches in nichts anderm besteht, als Unglücklichen und Notgedrängten Hülfe zu leisten.«
Der Ziegenhirt schaute ihn an, und da er Don Quixote von so schlechtem Faden und Gespinste fand, verwunderte er sich und fragte den Barbier, der neben ihm saß: »Mein Herr, wer ist denn der Mann, der solch Ansehen hat und dergleichen Sprache führt?«
»Wer wird es anders sein«, versetzte der Barbier, »als der berühmte Don Quixote von la Mancha, der Vernichter jeglicher Ungebühr, der Gerademacher aller Ungeradheit, der Beschützer der Jungfrauen, der Vertilger der Riesen und Sieger in den Schlachten?«
»Das klingt ja«, antwortete der Ziegenhirt, »wie das, was man in Büchern von den irrenden Rittern lieset, die alles das getan haben, was Ihr von diesem Manne sagt; ich halte aber dafür, daß Ihr entweder spaßt oder daß dieser feine Mann kein Gehirn in seinem Kopfe haben muß.«
»Ihr seid der lumpigste Halunke«, rief Don Quixote plötzlich aus, »Ihr habt kein Gehirn und keinen Kopf, ich aber habe mehr, als jemals die Hure gehabt, die Euch zur Welt geboren hat!« Und mit diesen Worten nahm er ein Brot, welches neben ihm lag, und warf es dem Ziegenhirten mit solcher Wut ins Angesicht, daß ihm das Blut aus der Nase stürzte. Der Ziegenhirt aber, der keinen Spaß verstand und gewahr wurde, mit welchem Ernste man ihn mißhandelte, nahm nun weder auf den Teppich noch auf die Gedecke, noch auf alle die, welche speisten, weitere Rücksicht, sondern stürzte sich auf Don Quixote und griff ihm mit beiden Händen nach der Kehle, so daß er ihn gewiß erdrosselt hätte, wenn Sancho Pansa nicht alsbald herbeigekommen, jenen bei den Schultern gepackt und ihn mitten auf den Tisch geworfen hätte, so daß Schüsseln und Gläser zerbrachen und alles, was auf dem Tischtuche stand, umgeworfen und verschüttet wurde. Als sich Don Quixote frei sah, warf er sich wieder über den Ziegenhirten, der, das Gesicht voll Blut und von Sancho mit Fußtritten gepeinigt, nach einem Messer auf dem Tische herumtappte, um eine blutige Rache zu nehmen; aber der Canonicus und der Pfarrer verhinderten ihn daran; doch richtete es der Barbier so ein, daß der Ziegenhirt den Don Quixote unter sich bekam, worauf er diesem mit so heftigen Maulschellen zusetzte, daß aus dem Gesichte des armen Ritters nicht weniger Blut als aus dem seinigen strömte.
Der Canonicus und der Pfarrer wollten fast vor Lachen bersten, die Häscher sprangen vor Freuden umher und hetzten bald diesen, bald jenen an, wie man es wohl mit den Hunden zu machen pflegt, wenn sie in Balgerei verwickelt sind; nur Sancho Pansa war wütend, weil er sich nicht von dem einen Diener des Canonicus losmachen konnte, der ihn festhielt, so daß er seinem Herrn nicht Hülfe zu leisten vermochte. Kurz, alle waren noch voller Freude und Lustigkeit, außer die beiden Kämpfenden, die aufeinander droschen, als alle einen so kläglichen Ton einer Trompete vernahmen, daß sie die Gesichter umwandten, um zu sehen, woher dieser Klang komme; wer sich aber über dieses Geräusch am meisten entsetzte, war Don Quixote, der, noch unter dem Ziegenhirten gegen seinen Willen liegend und mehr als billig zerprügelt, sprach: »Freund Teufel, denn dieses mußt du sein, da du mich mit solcher Gewalt unterworfen hast, ich bitte dich, laß uns einen Stillstand schließen, wenn es auch nur auf eine Stunde sein sollte, denn dieser klägliche Ton einer Trompete, der jetzt in unsre Ohren dringt, scheint mich zu einem neuen Abenteuer aufzurufen.«
Der Ziegenhirt, der schon müde war, zu prügeln und geprügelt zu werden, ließ ihn im Augenblicke los; Don Quixote stellte sich sogleich auf seine Füße und wandte das Gesicht dahin, von wo der Schall gekommen war, worauf er sah, daß von dem Abhange eines Berges eine große Anzahl Menschen, in Weiß gekleidet nach Art der Büßenden, herunterkam.
Die Sache war nämlich diese, daß in diesem Jahre die Wolken ihren Regen der Erde versagt hatten, deshalb stellten die umliegenden Dörfer Prozessionen an, mit Gebeten und Bußübungen, um Gott zu bewegen, daß er seine barmherzigen Hände öffnen und Regen herunterschicken möchte; zu dieser Absicht[438] zogen auch die Leute eines benachbarten Dorfes nach einem frommen Einsiedler, der in einer Schluft des Tales wohnte. Don Quixote, der die wunderbare Tracht der Büßenden sah, erinnerte sich gar nicht mehr, daß er sie schon oftmals gesehen hatte, sondern bildete sich ein, daß dies ein Abenteuer sei, zu welchem er aufgemuntert werde, und ihm als dem einzigen daseienden irrenden Ritter komme es deshalb zu, es zu unternehmen. In dieser Einbildung wurde er dadurch noch mehr bestätigt, daß sie ein Bild trugen, welches mit Trauergewändern behangen war; sogleich glaubte er, daß dies eine vornehme Dame sei, die von diesen Schelmen und nichtswürdigen Bösewichtern mit Gewalt entführt werde. Sowie er dieses mit seinen Sinnen begriffen hatte, sprang er mit großer Behendigkeit zu Rozinante hin, der auf der Weide ging, nahm den Zaum und den Schild vom Sattel herunter, zäumte ihn augenblicklich auf, forderte vom Sancho sein Schwert, bestieg den Rozinante, faßte den Schild und sprach mit lauter Stimme zu allen Gegenwärtigen: »Nun, edle Gesellschaft, sollt Ihr gewahr werden, wie notwendig es sei, daß es Ritter in der Welt gebe, die sich zum Orden der irrenden Ritterschaft bekennen; nun, sage ich, sollt Ihr gewahr werden, wie ich jener edlen Dame die Freiheit erstreiten will, die dort gefangen geführt wird, und ob man also die irrenden Ritter hochschätzen müsse.« Mit diesen Worten stampfte er mit den Beinen in Rozinante, weil er keine Sporen hatte, und in vollem Galopp – denn in dieser wahrhaften Geschichte findet man niemals, daß sich Rozinante im gestreckten Carriere versucht habe – ritt er auf die Büßenden zu; der Pfarrer, der Canonicus und der Barbier wollten ihn zwar zurückhalten, aber es war nicht möglich; ebensowenig vermochte es Sanchos Rufen, welcher ihm nachschrie: »Wo wollt Ihr denn hin, mein Herr Don Quixote, welcher Teufel reitet Euch denn, so in unsern katholischen Glauben hineinzustürmen? Hört doch, das ist, bei meiner Seele, eine Prozession von Büßenden, und das Frauenbild, das sie auf der Trage haben, ist ja das Bild der gesegneten, unbefleckten Mutter Gottes! Schaut doch, was Ihr tut, denn diesmal kann man doch wohl sagen, daß Ihr nicht wißt, was Ihr vornehmt!« 
Sancho bemühte sich vergebens, denn sein Herr ritt mit so großem Eifer auf die Verschleierten los, um die trauernde Dame frei zu machen, daß er kein Wort hörte, ja auch nicht hingehört hätte, wenn es ihm der König selber befohlen. Als er zur Prozession gekommen, hielt er den Rozinante an, der schon gern ein wenig geruht hätte, und rief mit rauher und heiserer Stimme: »Ihr da, die ihr euch gewiß um nichts Guten willen die Gesichter verhängt habt, seid aufmerksam und hört, was ich euch sagen will!«
Die vordersten waren gerade diejenigen, die das Bild trugen, und einer von den vier Geistlichen, welche die Litanei sangen, der die seltsame Gestalt des Don Quixote, die Dürrheit des Rozinante, nebst andern lächerlichen Dingen, an demselben bemerkte, sagte hierauf: »Lieber Mann, wenn Ihr uns etwas zu sagen habt, so sagt es schnell, denn diese Leute zergeißeln sich die Haut, und darum ist es nicht vernünftig, uns lange zu verweilen, um ein Gespräch anzuhören, wenn sich etwa das, was Ihr zu sagen habt, nicht in zwei Worte fassen läßt.«
»Eins wird hinlänglich sein«, versetzte Don Quixote, »daß ihr nämlich sogleich diese schöne Dame in Freiheit setzen sollt, deren Tränen und trauriger Anstand genugsam zeugen, daß ihr sie gegen ihren Willen entführt und irgendeine schwere Übeltat verbrochen haben müßt; ich aber bin in die Welt gekommen, um aller dergleichen Ungebühr zu steuern, und werde es nicht dulden, daß ihr einen Schritt weiter geht, ohne ihr vorher, wie sie verdient, die erwünschte Freiheit zu geben.«
Alle, die diese Reden hörten, fielen nun darauf, daß Don Quixote ein verrückter Mensch sein müsse, worauf sie mit größter Heftigkeit zu lachen anfingen, welches Lachen Öl zu dem Zornfeuer desselben schüttete; denn ohne ein Wort weiter zu sagen, nahm er das Schwert und hieb auf die Trage ein. Einer von den Trägern überließ seinen Gefährten die Last und stellte sich dem Don Quixote entgegen, indem er seine Gabel oder Stütze aufhob, indes die andern die Bahre trugen; diesem gab Don Quixote einen solchen[439] Hieb, daß die Gabel entzweisprang, mit dem Überreste aber, den jener in der Hand behielt, gab er dem Don Quixote einen so gewaltigen Schlag auf die Schulter, auf der Seite, wo er das Schwert führte – denn unmöglich konnte er sich gegen diese tölpische Kraft mit dem Schilde schirmen –, daß, übel zugerichtet, der arme Don Quixote zu Boden stürzte. Sancho Pansa war keuchend hinter ihm hergelaufen, und da er ihn nun niedergestürzt sah, schrie er dem Prügelnden zu, er möchte ihn nicht weiter schlagen, denn er sei ein armer verzauberter Ritter, der noch zeit seines ganzen Lebens keinem Menschen etwas zuleide getan habe; was aber den Bauer am meisten zurückhielt, war nicht die Stimme Sanchos, sondern weil er sah, daß Don Quixote weder Hand noch Fuß mehr rührte, er glaubte also, er habe ihn umgebracht, hob eilig sein Gewand auf und floh über das Feld wie eine Gemse.
Jetzt kam auch Don Quixotes Gesellschaft hinzu; da aber die von der Prozession jene herbeilaufen sahen, und mit ihnen die Häscher mit ihren Armbrüsten, so fürchteten sie eine üble Begegnung; sie stellten sich daher alle in einem Kreise um das Bild her, erhoben ihre Kapuzen, nahmen ihre Geißeln und die Priester ihre Leuchter, indem sie den Überfall mit dem festen Entschlusse erwarteten, sich tapfer zu verteidigen, ja selbst, wenn es möglich sei, ihre Feinde anzugreifen; das Glück fügte es aber besser, als sie dachten; denn Sancho tat nichts weiter, als daß er sich auf den Körper seines Herrn warf und über ihn den kläglichsten und lächerlichsten Jammer anstellte, weil er ihn für tot hielt. Der Pfarrer wurde von dem andern Pfarrer, der mit der Prozession ging, erkannt, wodurch denn der übrige Haufe völlig beruhigt wurde. Der erste Pfarrer erzählte dem andern, wer Don Quixote sei, und er sowie die ganze Schar gingen nun hinzu, um zu sehen, ob der arme Ritter wirklich tot wäre; sie hörten hierauf den Sancho Pansa mit Tränen in den Augen folgendes sagen: »O du Blume der Ritterschaft, der du mit einem einzigen Knüppelschlage die Laufbahn deiner glorreichen Tage geendigt hast! O du Preis deines Geschlechtes, Ehre und Ruhm von la Mancha, ja der ganzen Welt, denn wenn du darin fehlen wirst, wird sie von Bösewichtern erfüllt, die nun keine Strafe mehr für ihre Bubenstücke fürchten! O du, so freigebig wie Alexander, denn für acht Monate Dienstbarkeit hast du mir die schönste Insel geschenkt, um die nur das Meer mit seinen Wellen fließt! O du Demütiger unter den Stolzen, du Hochmütiger unter den Demütigen, du Verächter der Gefahren, du Erdulder des Unglücks, Verliebter ohne Ursache, Nachahmer der Guten, Geißel der Bösen, Feind der Gemeinheit, kurz, du irrender Ritter, denn das heißt alles gesagt, was man nur sagen kann!«
Über das Geschrei und die Seufzer Sanchos kam Don Quixote wieder ins Leben, und das erste, was er sprach, war: »Derjenige, der von dir entfernt lebt, o süßeste Dulcinea, ist noch größern Unglücksfällen unterworfen. Hilf mir, lieber Sancho, auf den verzauberten Karren, ich bin jetzt nicht dazu gemacht, mich auf Rozinantes Sattel zu halten, denn ich glaube, die Schulter ist mir in Stücke geschlagen.«
»Das will ich gar gern tun, gnädiger Herr«, antwortete Sancho, »wir wollen nach unserm Dorf in der Gesellschaft dieser Herren zurück, die Euer Bestes wünschen, und von da wollen wir auf einen neuen Auszug denken, der uns mehr Nutzen und Ruhm eintragen soll.«
»Du sprichst gut, Sancho«, antwortete Don Quixote, »denn es wird sehr klug getan sein, den bösen Einfluß der Gestirne vorüberzulassen, der jetzt regiert.«
(Cervantes: Don Quijote 1. Teil 5. Buch 11. Kapitel)

So kehren Don Quijote und Sancho Pansa in ihre Heimat zurück. Ihre Angehörigen beklagen sich sehr, dass sie von ihren Abenteuern nichts mitbringen als geschundene Körper und Erzählungen von höchst fragwürdigen Unternehmungen.

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