22 Mai 2016

Dorothea erzählt die Geschichte, wie sie als Mikomikona ihr Mikomikonisches Reich verlor

Dorothea, die, verständig und witzig, auch schon mit Don Quixotes verschobenem Gemüte bekannt war und sah, daß alle, Sancho Pansa ausgenommen, ihren Spaß mit ihm trieben, wollte auch nicht zurückbleiben und sagte, da sie ihn so heftig erzürnt sah: »Herr Ritter, Ihr wollet Euch der Gabe erinnern, die Eure Gnade mir versprochen, vermöge welcher Verheißung Ihr Euch in kein anderes Abenteuer einlassen dürft, wenn Ihr auch noch so dringend aufgefordert werdet; darum beruhigt Euer tapferes Herz; denn hätte der Herr Lizentiat gewußt, daß durch diesen unüberwindlichen Arm die Ruderknechte wären befreit worden, so hätte er sich wohl lieber dreimal auf den Mund geschlagen, ja dreimal auf die Zunge gebissen, ehe er ein Wort gesprochen, was meines gnädigen Herrn Unwillen erweckt.«
»Das beschwöre ich«, sagte der Pfarrer, »ja ich hätte mir eher den Bart ausgerauft.«
»Ich will mich beruhigen, meine Gebieterin«, sprach Don Quixote, »den gerechten Zorn unterdrücken, der sich in meinem Herzen erhob, und ruhig und friedlich dahinziehen, bis ich Euch die versprochene Gabe gewährt habe; doch zur Belohnung dieses guten Vorsatzes bitte ich Euch demütigst, mir zu sagen, welches Eure Bekümmernis sei, ingleichen wie viele, welche und welcher Gestalt diejenigen Personen, an denen ich die verschuldete, genügende und vollkommene Rache zu nehmen habe.«
»Dieses will ich gern tun«, antwortete Dorothea, »wenn es Euch nicht verdrießlich fällt, traurige Begebenheiten und Unglück zu hören.«
»Niemals wird es mir verdrießlich fallen, meine Gebieterin«, antwortete Don Quixote.
Worauf Dorothea antwortete: »Wenn es sich so verhält, so wollt Ihr mir ein aufmerksames Gehör vergönnen.«
Als sie dies sagte, begaben sich Cardenio und der Barbier ihr zur Seite, neugierig, zu sehen, wie die kluge Dorothea ihre Geschichte ersinnen würde; das nämliche tat Sancho, der so betört wie sein Herr mit ihr zog; sie aber, nachdem sie sich im Sattel zurechtgesetzt, zur Vorbereitung gehustet und andere Bewegungen gemacht hatte, fing sehr zierlich ihren Vortrag auf folgende Weise an:
»So müßt Ihr also, geehrte Herren, zuvörderst wissen, daß ich genannt werde – – –« Hier hielt sie ein wenig inne; denn sie hatte den Namen, den der Herr Pfarrer ihr beigelegt, vergessen; er aber kam ihr sogleich zu Hülfe, weil er die Ursache ihrer Pause erriet, und sagte: »Es ist nicht zu verwundern, gnädige Dame, wenn Eure Hoheit bei der Erzählung Eures Unglücks in Verwirrung und Verlegenheit gerät; denn oft sind die Leiden so groß, daß auch das Gedächtnis derer, die ihnen unterliegen, darunter leidet, so daß die Betrübten sich oft selbst ihres Namens nicht erinnern können, wie es Eurer Durchlauchtigkeit widerfahren, die es in der Tat vergessen, daß sie die Prinzessin Mikomikona ist, rechtmäßige Thronerbin des großen Mikomikonischen Reichs; mit dieser kleinen Erinnerung kann Eure Hoheit nun leicht alles in ihr bekümmertes Gedächtnis zurückrufen, was dieselbe nur hat vortragen wollen.«
»So ist es«, antwortete die Jungfrau, »und ich glaube, daß ich nun ohne weitere Erinnerung mit Leichtigkeit meine wahrhafte Geschichte werde in Worte führen können; mein Vater nämlich, der Tinacrio der Wissende hieß, war ungemein in der Kunst der Magie erfahren und erfuhr durch seine Wissenschaft, daß meine Mutter, die Königin Xamarilla, früher sterben würde als er; daß er aber auch bald darauf das Leben verlassen und mich als vater- und mutterlose Waise zurücklassen müsse; doch bekümmerte ihn dieses nicht so sehr, wie er sagte, als er sich darüber ängstigte, daß er gewiß vorherwisse, wie ein ungefüger Riese, Beherrscher einer großen Insel, die dicht an unser Reich grenzte, und der Pandalifando mit dem schiefen Blicke genannt wurde: denn es ist wahr, daß ihm die Augen zwar gerade und gut stehen, er aber immer in die Quere sieht, als wenn er schielte, was er nur aus Bosheit tut, um die, welche er ansieht, in Furcht und Schrecken zu setzen. Er wußte also, daß dieser Riese kaum erfahren würde, ich sei eine Waise, als er auch schon mit einer großen Macht mein Reich überziehen und es mir ganz entreißen würde, ohne mir zu meinem Aufenthalte auch nur einen kleinen Flecken übrigzulassen; daß ich aber diesem Unglücke entweichen könne, wenn ich mich bequemte, ihn zu heiraten; aber er wußte auch recht gut, daß mir eine solche ungleiche Vermählung niemals in den Sinn kommen würde, und darin hatte er recht; denn es ist mir niemals eingefallen, mich mit diesem oder einem andern Riesen zu verheiraten, wenn er auch noch so groß und ungeheuer wäre; mein Vater sagte mir aber auch zugleich, daß, wenn er tot sei und Pandalifando Miene mache, mein Reich zu überziehen, ich mich nicht verteidigen sollte – denn dieses würde nur zu meinem Untergange gereichen –, sondern daß ich ihm mein Königreich ohne Widerstand überlassen möchte, wenn ich den Tod und das Verderben meiner braven und getreuen Untertanen vermeiden wolle; denn es sei mir unmöglich, mich gegen die Teufelskräfte des Riesen zu verteidigen; daß ich mich aber mit einigen Gefährten sogleich auf den Weg nach Hispania machen solle, denn dort sei meine Hülfe anzutreffen, ich würde nämlich hier einen irrenden Ritter finden, dessen Ruhm sich um diese Zeit schon durch das ganze Land verbreitet hätte und der, wenn ich mich recht erinnere, Don Glühpfote oder Don Kühschoote heißen sollte.«

»Don Quixote wird er gesagt haben, Dame«, fiel hier Sancho Pansa ein, »oder mit seinem zweiten Namen, der Ritter von der traurigen Gestalt.«
»So ist es auch«, sagte Dorothea. »Er sagte mir ferner, daß er groß von Körper sei, von dürrem Antlitz und daß er auf der rechten Seite unter der linken Schulter oder dort herum ein braunes Mal habe, mit einigen borstenähnlichen Haaren.«
Als Don Quixote dies vernahm, sagte er zu seinem Stallmeister: »Hierher, Sohn Sancho, hilf mich entkleiden, damit ich sehe, ob ich der Ritter sei, von dem der weise König prophezeit hat.«
»Warum will sich mein Herr entkleiden?« fragte Dorothea.
»Um zu sehen, ob ich das Mal besitze, von dem Euer Vater gesprochen«, antwortete Don Quixote.
»Es ist nicht nötig, Euch auszukleiden«, sprach Sancho, »denn ich weiß, daß Ihr mitten auf dem Rücken ein solches Mal habt, welches einen tapfern Menschen bezeichnet.«
»Dies ist hinreichend«, sprach Dorothea, »denn Freunde müssen nicht auf Kleinigkeiten achten; ob es nun auf der Schulter oder auf dem Rücken ist, das hat nichts zu sagen, genug, daß sich dort herum das Mal findet: denn alles ist doch ein Fleisch; und gewiß hat mein guter Vater alles richtig getroffen; ich aber ebenso richtig, indem ich mich dem Herrn Don Quixote empfohlen habe, der derselbe ist, von dem mein Vater gesprochen, denn die Anzeigen des Gesichts treffen mit dem großen Rufe vollkommen überein, den dieser Ritter nicht nur in Spanien, sondern auch in der ganzen la Mancha erlangt hat. Denn kaum war ich bei Ossuna ans Land gestiegen, als ich so viel von seinen Unternehmungen erzählen hörte, daß mir mein Geist augenblicklich sagte, er sei derselbe, den ich zu suchen gekommen.«
»Wie seid Ihr aber zu Ossuna ans Land gestiegen, meine Dame«, fragte Don Quixote, »da es doch kein Seehafen ist?«
Ehe aber noch Dorothea antworten konnte, nahm der Pfarrer das Wort und sagte: »Die durchlauchtige Prinzessin muß es wohl so meinen, daß, nachdem sie zu Malaga ans Land gestiegen, Ossuna der erste Ort gewesen, wo sie den Ruf von Euer Gnaden vernommen.«
»Das habe ich sagen wollen«, sagte Dorothea.
»Und somit fahre nun«, sagte der Pfarrer, »Eure Majestät fort, Dero Geschichte zu beendigen.«
»Es ist nichts weiter zu beendigen«, antwortete Dorothea, »als daß mein Schicksal mir endlich so günstig gewesen, daß ich den gnädigen Herrn Don Quixote gefunden und daß ich mich nun schon wieder für die Königin und Beherrscherin meines Reichs ansehe; denn seine Höflichkeit und sein hochadeliger Sinn hat mir versprochen, mir dahin zu folgen, wohin ich ihn führen werde, welches nirgends anders hin sein soll als vor die Augen des Pandalifando mit dem schiefen Blicke, damit er ihn umbringe und mir das wiedergebe, was jener mir gegen alles Recht entrissen hat; auch wird dies alles, von Wort zu Wort, so eintreffen, denn Tinacrio der Wissende, mein edler Vater, hat es so prophezeit, der mir zugleich auch schwarz auf weiß in chaldäischen oder griechischen Buchstaben hinterlassen – denn ich kann sie nicht lesen –, daß, wenn jener prophezeite Ritter, nachdem er den Riesen enthauptet, sich mit mir vermählen will, ich mich ihm sogleich, ohne die mindeste Einwendung, zur rechtmäßigen Gemahlin übergeben muß und ich ihm mit meiner Person zugleich den Besitz meines Königreichs überliefere.«
»Wie dünkt es dir, Freund Sancho?« sagte hierauf Don Quixote; »vernimmst du, was vorgeht? Sagte ich dir dieses nicht? Nun schau doch, ob ein Königreich zur Herrschaft, eine Königin zur Vermählung mangelt.«
»Meiner Seel«, rief Sancho aus, »ein Hundsfott, wer sich nicht gleich vermählt, sowie dem Herrn Pantalonfando das Gurgelchen abgeschnitten ist! denn wenn die Königin häßlich ist, so wollte ich nur, daß sich alle Flöhe in meinem Bette in dergleichen verwandelten!« Bei diesen Worten schlug er zweimal hoch mit den Beinen aus, wodurch er das größte Vergnügen zu erkennen gab; dann faßte er das Maultier der Dorothea beim Zügel, hielt es an, kniete vor ihr nieder und bat, ihm die Hand zum Kusse zu reichen, als einen Beweis, daß er ihr als seiner Königin und Gebieterin huldigte. Wer hätte wohl von den Anwesenden nicht gelacht, da sie diese Tollheit des Herrn und diese Dummheit des Dieners sahen? Dorothea reichte ihm die Hand und versprach, ihn in ihrem Reiche zu einem großen Herrn zu machen, sobald ihr der Himmel so gnädig sei, daß sie es wieder in Ruhe besitze. Sancho dankte mit solchen Redensarten, daß alle von neuem lachen mußten.
»Dieses, meine Herren«, fuhr Dorothea fort, »ist meine Geschichte, es bleibt nur noch das zu erzählen übrig, daß mir von allen den Leuten, die ich zur Begleitung aus meinem Königreiche mit mir nahm, nur dieser großbärtige Stallmeister übriggeblieben ist; denn alle übrigen ertranken in einem heftigen Sturme, der uns im Angesichte des Hafens ergriff; er und ich aber kamen auf zwei Brettern, wie durch ein Wunderwerk, ans Land, wie denn mein ganzes Leben wunder- und geheimnisvoll ist, wie Ihr auch werdet bemerkt haben. Bin ich nun irgendworin zu umständlich oder auch nicht ausführlich genug gewesen, so meßt nur dem die Schuld bei, wovon der Herr Lizentiat gleich im Anfange meiner Erzählung sprach, daß nämlich immerwährende und ungeheuere Leiden dem leicht das Gedächtnis rauben, der ihnen unterliegt.«
(Cervantes: Don Quijote 1. Teil 3. Buch 16. Kapitel)

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