10 April 2016

Zeitgenossen über Platons erste Schrift (Wieland: Aristipp)

Aristipp:
Inzwischen unterschreibe ich, ohne daß es mir die mindeste Gefälligkeit kostet, alles, was du Rühmliches von diesem sonderbaren prosaischen Gedichte gesagt hast. Denn eine Art von Gedicht ist es am Ende doch, und zum Dichter wäre Plato geboren gewesen, wenn ihn nicht sein böser Genius, neben seinem natürlichen Hang zum Fabulieren und Allegorisieren, noch mit einem unwiderstehlichen Trieb sich selbst und andre in dialektische Spinneweben zu verfangen gestraft hätte. Da ihm die schlichte populäre Filosofie des Sokrates kein Genüge that, vertiefte er sich schon früh in den Grübeleyen der Eleatischen und Pythagorischen Schule, die sich damit abgeben, das Innerste der Natur und den ersten Grund der Dinge, das Unendliche, den Ursprung der Welt, das Wesen der Materie und des Geistes, kurz, alles ergründen zu wollen, was nicht zu ergründen ist. [...] Denn warum sollte er nicht Bücher schreiben, da er das Talent, seinen Gedanken jede beliebige Gestalt zu geben, und eine Fülle Attischer Redseligkeit in seiner Gewalt hat, und, sobald er nur will, den Verstand, die Einbildungskraft und das Gemüth seiner Leser zugleich in Bewegung zu setzen und zu unterhalten weiß? – Aber wenn er fortfahren wollte dem guten Sokrates die Hauptrolle in seinen filosofischen Dramen aufzudrängen, und gerade dem Manne, der die Filosofie vom Himmel oder vielmehr aus dem windigen Reiche der »regenbeladenen Jungfrauen« des Aristofanes, wieder auf die Erde herabhohlte und in das häusliche und bürgerliche Leben der Menschen einführte, kurz sich ausschließlich mit einer Lebensweisheit beschäftigte, die für jedermann verständlich und brauchbar war, wenn Plato fortfahren wollte, seine Liebhaberey, abgezogene Begriffe bis zu einem unbrauchbaren Grad von Feinheit auszuspinnen, und die Leute mit Zweifelsknoten, die er selbst nicht aufzulösen weiß, zu beunruhigen, gerade diesem Manne vor die Thür zu legen; dieß, ich bekenn' es, würd' ich ihm nicht wohl verzeihen können. Freylich muß es jedem erlaubt seyn, das Wahre, zu welchem so vielerley Wege führen, auf demjenigen zu suchen, den er für den nächsten oder anmuthigsten hält; nur stelle jeder sich selbst vor, und nehme sich nicht heraus, das Gesicht eines andern zu einer Larve vor sein eigenes zu machen.

Hippias:
Was wird die Nachwelt (wofern dieses Platonische Machwerk seinen Schöpfer überleben sollte) von Sokrates und von denen, die ihn für einen Weisen hielten, denken müssen, wenn sie liest, daß er ein paar Stunden vor seinem Tode seine besten Freunde, lauter gesetzte und zum Theil schon bejahrte Leute, mit so läppischen Fragstücken, wie man sie etwa an ein Kind von drey Jahren thun könnte, unterhalten habe; und sollte sie wohl glaublich finden, daß so verständige junge Männer, wie Cebes und Simmias, sich diese kindische Art von Belehrung hätten wohlgefallen lassen? Oder was denkst du daß man zu einem Dialog, im Geschmack der kleinen Probe, die ich mir (Wunders halben) abzuschreiben die Mühe geben will, sagen werde? 
SOKRATES ZU CEBES. Was meinst du, Cebes, ist irgend etwas dem Leben so entgegengesetzt als das Schlafen dem Erwachen?
 CEBES. Allerdings. 
SOKRATES. Was denn? 
CEBES. Gestorben seyn. 
SOKRATES. Entstehen nicht beide aus einander entgegen gesetzten Dingen, und muß es nicht mit ihren respektiven Entstehungen (γενεσεις) eben dieselbe Bewandtniß haben? 
CEBES. Wie könnt' es anders? 
SOKRATES. Ich will dir nur das eine Paar der so eben genannten Dinge sagen, so wohl sie selbst als ihre Entstehungen; und du sagst mir dann das andere. Ich setze also, schlafen, und wachen, und nun sag' ich: aus dem Wachen entsteht das Schlafen, und umgekehrt aus dem Schlafen das Wachen, und ihre Entstehungen sind, vom einen das Einschlummern, vom andern das Aufwachen. Hab' ich es deutlich genug gesagt oder nicht? 
CEBES. Sehr deutlich. 
SOKRATES. Nun sage du mir auch, wie es sich mit dem Leben und dem Gestorben seyn verhält. Sagst du nicht, daß Leben das Gegentheil sey von Gestorben seyn? 
CEBES. Allerdings. 
SOKRATES. Und daß sie aus einander entspringen? 
CEBES. Ja. 
SOKRATES. Was wird also aus dem Lebenden? 
CEBES. Das Gestorbene. 
SOKRATES. Und aus dem Gestorbenen? 
CEBES. Nothwendig muß man bekennen, das Lebende.
 SOKRATES. Diesem nach, mein lieber Cebes, entstehen die Lebenden aus den Gestorbenen? [...]
Nun frage ich dich, Aristipp, ob das unauslöschliche Lachen der seligen Götter im ersten Buch der Ilias hinlänglich wäre, eine solche Manier zu filosofieren nach Würden zu belachen?

Wieland: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen

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