03 April 2016

Roger Willemsen: Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament

Eine Fülle treffender Beobachtungen. Einfühlsame Beschreibung der Einsamkeit von Sprechern, die nah am Thema sind und von der überwiegenden Mehrheit der Anwesenden ignoriert werden. Man möchte zitieren, zitieren und zitieren. Doch zu den treffenden Beobachtungen gehört immer wieder der Kontext, der das Zitieren aufwändig macht. Daher hier zunächst nur eine allgemeine Aussage Willemsens:
"In diesen Reden hat sich die Rhetorik so weit von ihrem Gegenstand entfernt, dass man den Eindruck gewinnt, gewisse parlamentarische Entscheidungen können nur gefällt werden, weil es unter Umgehung der Realitätswahrnehmung geschieht." (S.169 der TB-Ausgabe)
Sehr treffend zusammengefasst.
Andererseits stereotyp immer wieder der Hinweis auf die Nichtachtung der Redner durch die Regierungsbank oder führende Parlamentarier der Opposition.
"Ein Jahr im Parlament". Schon wenn man nur wenige Seiten gelesen hat, fühlt man den Leidensdruck des Beobachters, der die Fülle von Zynismus und Wortgeklapper an sich hat vorüberziehen lassen müssen. Und doch, Willemsen hat die Beobachtungsgabe und den Ausdrucksreichtum, aus drögen Debatten Funken zu schlagen, etwa wenn er einem altgedienten Parlamentsdiener Gerechtigkeit widerfahren lässt.
Und die Minister und führenden Oppositionspolitiker haben zehn, fünfzehn oder mehr Jahre Parlamentserfahrung, wissen um die Hohlheit der Angriffe und die Hohlheit der wie eitle Selbstbespiegelung wirkenden Abwehrmechanismen gegen nur zu treffende Kritik, die im Bundestag Jahr für Jahr immer wieder einmal vorgetragen wird, aber aufgrund von eingespielten Mechanismen ohne Wirkung bleiben wird.
Nur ganz selten müssen sie sich, weil das ernste Thema zu einer wichtigen Sendezeit verhandelt wird, vielleicht sogar, weil es ihnen selbst unter die Haut geht, zu sachangemessener Würde und Aufmerksamkeit aufraffen.
Die Kritik ist nur zu treffend, doch blendet sie aus, dass für die Entscheidungsträger zu Recht der parlamentarische Alltag im Plenum nur Geräuschkulisse neben den Aufgaben des Tages ist, aus der nur ganz selten ein echter Ton auftaucht, der den politischen Instinkt weckt: Hier muss ich ausnahmsweise selbst im Plenum präsent sein, weil es um etwas geht.

Dankbar bin ich dafür, dass Willemsen sich so lange dem Rauschen von Bürokratenlisten und Regierungsparteizynismen ausgesetzt hat, dem ich mich bei der Lektüre der Wortprotokolle der Sitzungen nie über große Strecken hin gestellt habe. Er fasst treffend die Disparität von echter Betroffenheit und Engagement und hohlem Wortgeklapper und zynischer Polemikshow zusammen, die das Plenum kennzeichnet.
Einzelne geschliffene Formulierungen möchte ich bei Gelegenheit noch beisteuern können.

Einschub vom 9.5.16:
"Dies sind die Momente, in denen man sieht, wie systemfremd es ist, vom Parlament Impulse für die Selbsterneuerung der Gesellschaft zu erwarten, weil sich kein guter Gedanke gegen die stumpfe Bewahrung des realpolitischen Status quo wird durchsetzen können." (S.257)

Für jetzt nur noch ein Ausblick: Angela Merkel hat gezeigt, dass die Flüchtlingsfrage ihr tatsächlich unter die Haut ging. Jetzt versucht sie unter Missachtung aller menschenrechtlichen Prinzipien die Folgen ihrer ethischen Entscheidung so weit als möglich ungeschehen zu machen.
Goethe hat einmal differenzierter formuliert, was ich kurz zusammenfasse als "Der Handelnde ist immer im Unrecht". Es fällt schwer, ständig Entscheidungen zu treffen, ohne sich gegen diese Erkenntnis weitgehend zu immunisieren.
So kommt es dazu, dass man sich mit einem "Stück Gerechtigkeit" zufrieden gibt. Einem keinen Stück in einem Meer von Ungerechtigkeiten.

Nachträge:
"Nur Zeiten, die vieles zu wünschen übrig lassen, sind auch stark im Visionären. Diese Zeit ist es nicht, deshalb befindet sich die Zukunft auch eher im Stillstand. [...] Die Utopie hat keine Konjunktur, und wie alle Ressourcen wird auch die Zukunft knapp.. [...] Da aber die wahren Paradiese ohnehin jene sind, die wir verloren haben, stellen sich manche die Zukunft schon als Wiederkehr des Vergangenen vor oder schlicht als Erlösung.  So gesehen hat die Zukunft keine Zukunft, und Tagespolitik fungiert eher als Ablenkung von den Jahrhundertveränderungen. Näherte man sich ihr realistisch, mit der 'Zukunft' ließe sich kaum Wahlkampf führen." (S.263)

Es "trifft den Nerv des Parlaments", wenn Sahra Wagenknecht "das päpstliche Plädoyer für die Armen in den Worten von Franziskus zitiert: 'Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte an der Börse Schlagzeilen macht.'" (S.369)

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