17 April 2016

Gespräch über das Schöne (Wieland: Aristipp)

Lais berichtet Aristipp über ein Gespräch bei ihren Einladungen:

Mich dünkt (sagte Epigenes, der zu dieser Erörterung den Anlaß gegeben hatte), ehe wir uns auf die Frage »was das Schöne sey?« einlassen, wäre wohl gethan, den Sprachgebrauch um die Bedeutung des Wortes zu fragen, da es so vielerlei, zum Theil ganz ungleichartigen Dingen beigelegt wird, daß der allgemeine Begriff, der mit diesem Worte verbunden zu werden pflegt, nicht leicht zu finden seyn dürfte. Wir sagen: ein schöner Himmel, eine schöne Gegend, ein schöner Baum, eine schöne Blume, ein schönes Pferd, ein schönes Gebäude, ein schönes Gedicht, eine schöne That. Man sagt: dieser Wein hat eine schöne Farbe, dieser Sänger eine schöne Stimme, diese Tänzerin tanzt schön, dieser Reiter sitzt schön zu Pferde. Ich würde nicht fertig, wenn ich alle die körperlichen, geistigen und sittlichen Gegenstände, Bewegungen und Handlungsweisen herzählen wollte, denen das Prädicat schön beigelegt wird. Was ist nun die ihnen allen zukommende gemeinsame Eigenschaft, um derentwillen sie schön genannt werden? Ich kenne keine allgemeinere als diese, daß sie uns gefallen. Die Menschen nennen alles schön was ihnen gefällt.
Speusipp. Ich gebe gern zu, daß das Schöne allen gefällt, deren äußerer und innerer Sinn gesund und unverdorben ist: aber daß alles, woran ein Mensch Wohlgefallen haben kann, darum auch schön sey, kann schwerlich deine Meinung seyn.
Lais. Sonst wäre nichts Schöneres als ein mit Fässern und Kisten wohl beladenes Lastschiff voll morgenländischer Waaren! wenigstens in den Augen des Korinthischen Kaufmanns, vor dessen Hause sie abgeladen werden, und der in diesem Augenblick gewiß mehr Wohlgefallen an seinen ohne Symmetrie über einander hergewälzten Fässern, Kisten und Säcken hat, als an dem schönsten Gemälde des Parrhasius.
Speusipp. Sollte damit zu Erhaltung des Begriffs vom Schönen etwas gewonnen seyn? Was gefällt, ist (deinem eigenen Geständniß nach) nicht immer schön; aber das Schöne gefällt immer, bloß weil es schön ist. Die Frage was ist schön? bleibt also noch unbeantwortet.
Euphranor. Könnte uns nicht irgend ein Werk der Kunst am leichtesten zu der Antwort verhelfen, die wir suchen?
Euphranor. Zum Beispiel, der junge Bacchus dort, dem der lachende Faun den rosenbekränzten Becher reicht, indem er mit dem linken Zeigefinger schalkhaft auf die neben ihm an einem Weinschlauch eingeschlafne Mänas hinweiset. Euphranor. Lassen wir diesen Bacchus für schön gelten, oder hat jemand etwas Wesentliches an ihm auszusetzen?
Speusipp. Ewige Jugend in ewig fröhlicher Wollusttrunkenheit kann unmöglich schöner dargestellt werden.
[78] Euphranor. Das möchte ich nun eben nicht behaupten; genug, wir alle geben zu, daß er nicht häßlich ist.
Alle. Unstreitig.
Euphranor. Was mag wohl die Ursache dieses einstimmigen Urtheils seyn?
Lais. Unser Gefühl vermuthlich.
Epigenes. Aber warum wir es alle fühlen, und fühlen müssen, wir mögen wollen oder nicht, das ist es wohl was Euphranor hören möchte?
Euphranor. Und worin könnte dieß liegen, als in der Gestalt des jungen Gottes, in der bestimmten Form eines jeden seiner Glieder, in ihren Verhältnissen gegen einander, und in ihrer Verbindung zur harmonischen Einheit des Ganzen?
Ich und Epigenes und die übrigen alle waren sogleich mit unserm Ja bei der Hand. Nur Speusipp lächelte beinahe unmerklich und schwieg.
Euphranor. Aber die schlummernde Mänas zu seinen Füßen – kann man läugnen daß sie schön ist?
Learchus. Ich glaube in aller Männer Namen kühnlich sagen zu dürfen, sie ist sehr schön.
Euphranor. Und der junge Faun?
Lais. Ich wenigstens habe noch keinen schönern gesehen.
Euphranor. Also der Gott ist schön, der Faun ist schön, die Bacchantin ist schön, ungeachtet das, warum wir jedes für schön halten, die Formen und Verhältnisse der einzelnen Theile und die Symmetrie des Ganzen, an allen dreien[79] die augenscheinlichste Verschiedenheit zeigt. Würden wir aber zufrieden seyn, wenn der Faun für den Weingott angesehen werden könnte, oder der Weingott für einen Faun? Mit der Form des schönsten Fauns würden wir den Bacchus nicht schön genug, mit den Formen des letztern hingegen jenen allzu schön finden. Und wenn die Mänas ihren hohen Busen gegen die breite Brust des Bacchus, er seine Schultern und Hüften gegen die ihrigen umtauschte, würden nicht beide dabei verlieren, wiewohl sie Schönes um Schönes gäben?
Epigenes. Ganz gewiß. Schön wäre demnach etwas so Verhältnißmäßiges, daß es unter veränderten Umständen häßlich werden könnte; wie z.B. ein schönes Weib einen mißgestalteten Mann, ein schöner Faun einen häßlichen Bacchus abgäbe? Euphranor. Dieß möchte doch wohl zu viel gesagt seyn. Ein Mann mit weiblichen Gliederformen wäre doch immer ein schönes Ungeheuer, und ein Bacchus mit den Formen eines schönen Fauns würde nur unedel, nicht häßlich seyn. Indessen könnte auch aus lauter schönen Theilen ein sehr widerliches Ganzes zusammengesetzt werden, ohne daß die Theile aufhörten schön zu seyn; es braucht dazu nichts weiter, als jedem eine unrechte Stelle zu geben. Der schönste Munde schief auf die Stirn, das schönste Auge an die Stelle des Mundes, und die zierlichste Nase an den Platz des Auges gesetzt, würde aus dem Gesicht einer Lais eine lächerliche Fratze machen.
das ist, was es seiner Natur und seinem Zwecke nach, seyn soll?
Epigenes. Wenn dieß keine Ausnahmen leidet, so würde der Elephant, der Dachs und die Fledermaus eben so wohl an Schönheit Anspruch zu machen haben, als der Onager, das Reh und der Fasan.
Lais. Warum nicht, wenn wir dem unerschöpflichen Erfindungsgeiste der göttlichen Bildnerin Natur nicht unbefugte Schranken setzen, und durch eigensinnige Vorliebe für gewisse uns vorzüglich gefällige Gestalten uns zu kleinlichen einseitigen Urtheilen verleiten lassen wollen?
Euphranor. Mit allem Respect, den ich dir und der göttlichen Bildnerin schuldig bin, verzweifle ich doch es jemals so weit zu bringen, daß mir die Fledermaus oder der Krokodil schön vorkomme, und ich glaube hierin die Augen aller Menschen, und die deinigen zuerst, auf meiner Seite zu haben. Auch sehe ich nicht, warum alles, was die Natur hervorbringt, gerade für unsern Schönheitssinn gebildet seyn müßte; und da es uns an Worten nicht mangelt, warum muß denn etwas, das nur dem Verstande schön ist, mit einem Worte bezeichnet werden, welches in seiner eigentlichen Bedeutung vorzüglich solchen Dingen zukommt, die durch Formen und Farben, harmonische Verhältnisse und Symmetrie unsre Augen, oder vielmehr den innern Sinn, dessen Werkzeug sie sind, vergnügen? Die meisten Schöpfungen der Natur haben diese Eigenschaft in höhern und mindern Graden. Ich zweifle sehr, daß ein Mensch in der Welt ist, der nicht auf den ersten Anblick die Gans schöner als die Ente,[81] den Schwan schöner als die Gans, den Pfau schöner als den Schwan finden sollte: aber vor der Fledermaus schaudert jeder, der sie erblickt, zurück.
Lais. Wiewohl die Unverschämtheit zu Athen eine Göttin ist, so verlasse ich mich doch nicht genug auf ihren Beistand, um dir hierin zu widersprechen; sie könnte mich häßlich im Stiche lassen, wenn einer dieser schönen Nachtvögel unversehens daher geschossen käme, um sich für die unverdiente Ehre zu bedanken, die ich ihm erwiesen habe.
Dieser unzeitige Scherz stimmte sogleich die ganze Gesellschaft auf einen andern Ton.

(Wieland: Aristipp 2. Band 17.Brief)

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