06 März 2016

Liebe (Wieland: Agathon)

Überraschenderweise argumentiert der Erzähler, der zuvor zusammen mit Agathon ganz im Sinne platonischer Tugend argumentiert hatte, erstaunlich ähnlich wie Hippias am Anfang des Romans.
So hatte er doch Stunden, wo er sich selbst gestehen mußte, daß er mitten in der Schwärmerei der Liebe und in den Armen der schönen Danae - glücklich gewesen sei. "Es mag immer viel Verblendung, viel überspanntes und Schimärisches in der Liebe sein", sagte er zu sich selbst, "so sind doch gewiß ihre Freuden keine Einbildung - ich fühlte es, und fühl' es noch, so wie ich mein Dasein fühle, daß es wahre Freuden sind, so wahr in ihrer Art, als die Freuden der Tugend - und warum sollt' es unmöglich sein, Liebe und Tugend mit einander zu verbinden? Sie beide zu genießen, das würde erst eine vollkommne Glückseligkeit sein." Hier müssen wir zu Verhütung eines besorglichen Mißverstandes eine kleine Parenthese machen, um denen, die keine andre Sitten kennen, als die Sitten des Landes oder Ortes, worin sie geboren sind, zu sagen, daß ein vertrauter Umgang mit Frauenzimmern von einer gewissen Klasse, oder (nicht so französisch, aber weniger zweideutig zu reden) welche mit dem was man etwas uneigentlich Liebe zu nennen pflegt, ein Gewerbe treiben, bei den Griechen eine so erlaubte Sache war, daß die strengesten Väter sich lächerlich gemacht haben würden, wenn sie ihren Söhnen, so lange sie unter ihrer Gewalt stunden, eine Liebste aus der bemeldten Klasse hätten verwehren wollen. Frauen und Jungfrauen genossen den besondern Schutz der Gesetze, wie allenthalben, und waren durch die Sitten und Gebräuche dieses Volkes vor Nachstellungen ungleich besser gesichert, als sie es bei uns sind. Ein Anschlag auf ihre Tugend war so schwer zu bewerkstelligen, als die Bestrafung eines solchen Verbrechens strenge war. Ohne Zweifel geschah es, diese in den Augen der Griechischen Gesetzgeber geheiligte Personen, die Mütter der Bürger, und diejenige welche zu dieser Ehre bestimmt waren, den Unternehmungen einer unbändigen Jugend desto gewisser zu entziehen, daß der Stand der Phrynen und Laiden geduldet wurde; und so ausgelassen uns auch der asotische Witzling Aristophanes die Damen von Athen vorstellet, so ist doch gewiß, daß die Weiber und Töchter der Griechen überhaupt sehr sittsame Geschöpfe waren; und daß die Sitten einer Vermählten und einer Buhlerin bei ihnen eben so stark mit einander absetzten, als man dermalen in gewissen Hauptstädten von Europa bemüht ist, sie mit einander zu vermengen. Ob diese ganze Einrichtung löblich war, ist eine andre Frage, von der hier die Rede nicht ist; wir führen sie bloß deswegen an, damit man nicht glaube, als ob die Reue und die Gewissens-Bisse unsers Agathon aus dem Begriff entstanden, daß es unrecht sei mit einer Danae der Liebe zu pflegen. Agathon dachte in diesem Stücke, wie alle andren Griechen seiner Zeit. Bei seiner Nation (die Spartaner vielleicht allein ausgenommen) durfte man, wenigstens in seinem Alter, die Nacht mit einer Tänzerin oder Flötenspielerin zubringen, ohne sich deswegen einen Vorwurf zu zuziehen, in so ferne nur die Pflichten seines Standes nicht darunter leiden mußten, und eine gewisse Mäßigung beobachtet wurde, welche nach den Begriffen dieser Heiden, die wahre Grenzlinie der Tugend und des Lasters ausmachte. [...]
Sie ehrten die ehliche Freundschaft; aber von dieser romantischen Leidenschaft, welche wir im eigentlichen Verstande Liebe nennen, und welche eine ganze Folge von Romanschreibern bei unsern Nachbaren jenseits des Rheins und bei den Engländern bemühet gewesen ist, zu einer heroischen Tugend zu erheben; von dieser wußten sie eben so wenig als von der weinerlich-komischen, der abenteurlichen Hirngeburt einiger Neuerer, meistens weiblicher, Skribenten, welche noch über die Begriffe der ritterlichen Zeiten raffiniert, und uns durch ganze Bände eine Liebe gemalt haben, die sich von stillschweigendem Anschauen, von Seufzern und Tränen nährt, immer unglücklich und doch selbst ohne einen Schimmer von Hoffnung immer gleich standhaft ist. Von einer so abgeschmackten, so unmännlichen, und mit dem Heldentum, womit man sie verbinden will, so lächerlich abstechenden Liebe wußte diese geistreiche Nation nichts, aus deren schöner und lachender Einbildungskraft die Göttin der Liebe, die Grazien, und so viele andre Götter der Fröhlichkeit hervorgegangen waren. Sie kannten nur die Liebe, welche scherzt, küßt und glücklich ist; oder, richtiger zu reden, diese allein schien ihnen, unter gehörigen Einschränkungen, der Natur gemäß, anständig und unschuldig. Diejenige, welche sich mit allen Symptomen eines fiebrischen Paroxysmus der ganzen Seele bemächtiget, war in ihren Augen eine von den gefährlichsten Leidenschaften, eine Feindin der Tugend, die Störerin der häuslichen Ordnung, die Mutter der verderblichsten Ausschweifungen und der häßlichsten Laster. Wir finden wenige Beispiele davon in ihrer Geschichte; und diese Beispiele sehen wir auf ihrem tragischen Theater mit Farben geschildert, welche den allgemeinen Abscheu erwecken mußten; so wie hingegen ihre Komödie keine andre Liebe kennt, als diesen natürlichen Instinkt, welchen Geschmack, Gelegenheit und Zufall für einen gewissen Gegenstand bestimmen, der, von den Grazien und nicht selten auch von den Musen verschönert, das Vergnügen zum Zweck hat, nicht besser noch erhabener sein will als er ist, und wenn er auch in Ausschweifungen ausbrechend, sich gegen den Zwang der Pflichten aufbäumt, doch immer weniger Schaden tut, und leichter zu bändigen ist, als jene tragische Art zu lieben, welche ihnen vielmehr von der Fackel der Furien als des Liebesgottes entzündet, eher die Würkung der Rache einer erzürnten Gottheit als dieser süßen Betörung gleich zu sein schien, welche sie, wie den Schlaf und die Gaben des Bacchus, des Gebers der Freude, für ein Geschenke der wohltätigen Natur, ansahen, uns die Beschwerden des Lebens zu versüßen, und zu den Arbeiten desselben munter zu machen. [...]
Sehen wir nicht den ehrwürdigen Solon noch in seinem hohen Alter, in Versen welche des Alters eines Voltaire würdig sind, von sich selbst gestehen, "daß er sich aller andern Beschäftigungen begeben habe, um den Rest seines Lebens in Gesellschaft der Venus, des Bacchus und der Musen auszuleben, der einzigen Quellen der Freuden der Sterblichen?"
(Wieland: Geschichte des Agathon)

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