14 Dezember 2015

"jenes keusche, unentweihte innere Leben" (Marlitt:Goldelse)

Fräulein von Walde litt neben der Dame alle jene Qualen, die uns so manchmal die Konvenienz auferlegt; sie mußte mit zuvorkommender Aufmerksamkeit auf tausend Nichtigkeiten hören und antworten, während ein heißer Schmerz ihr Inneres zerriß. Aber auch nur eine Frau, wie die Oberhofmeisterin, die das höchste Erdenglück in einem Gnadenblicke aus fürstlichen Augen suchte und fand, eine Person, deren ganze Seelenthätigkeit sich darauf beschränkte, Schildwache vor dem Reiche der Etikette zu stehen und den Nimbus ihrer sauer genug errungenen Exzellenz ängstlich zu behüten, nur sie konnte wiederholt in das Gesicht der jungen Dame sehen, ohne die tiefe innere Erregung in den Zügen zu bemerken. [...]
Daß er dem jungen Mädchen in Wirklichkeit einen Widerwillen einflößen könne, das fiel ihm nicht im entferntesten ein, ihm, dem Vielbegehrten, von dem ein karges Wort, eine Aufforderung zum Tanze in der gesamten L.schen Damenwelt Sensation machte und oft zur Fackel der Zwietracht wurde. Ihm konnte ein solcher Gedanke gar nicht kommen. Es lag viel näher, daß die Forstschreiberstochter eine Kokette war, die ihm die Eroberung so schwer wie möglich zu machen suchte. An die jungfräuliche Reinheit der Seele, die Elisabeths ganze Erscheinung so unwiderstehlich machte, und deren Zauber gerade auf ihn, wenn auch von ihm unverstanden, hinreißend wirkte – an jenes keusche, unentweihte innere Leben glaubte er nicht, und deshalb konnte er auch nie zu dem Schlusse gelangen, daß das junge Mädchen instinktmäßig vor seiner inneren Zerrüttung und Verdorbenheit zurückbebe. [...]
»Gott behüte uns, daß wir es machen, wie jene, welche die Sünden ihrer Vorfahren aufgraben, um das Alter ihres Geschlechts zu beweisen und die den Adel dadurch unadlig machen: eine größere Widersinnigkeit hat die ganze Welt nicht . . . Mir ist, als müßten sich die Schatten aller derer, die jenes hochmütige, erbarmungslose Geschlecht gequält und durch das Leben gehetzt hat, anklagend erheben, wenn der Name wieder aufleben sollte, unter dessen Deckmantel jahrhundertelang alle erdenklichen Greuel verübt worden sind . . .
Während meine Zitate aus Goldelse, die ich im August vorgestellt habe, zeigten, dass Marlitt anschaulich und mit gelungenen Bildern schreiben kann, zeigen die voranstehenden Zitate, dass sie zwar sozial engagiert, aber mit ihrer Darstellung der Begegnung von Adels- und Bürgerwelt doch sehr trivial und klischeeverhaftet schreibt. 
Sie hat meine Sympathie. Für anspruchsvollere Texte hätte sie weit bessere Voraussetzungen haben müssen und hat auch so Ehrenwertes geleistet.

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