12 August 2015

Russische Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts

Es ist eine Ironie der Geschichte, daß sich gerade in der russischen Kirche ein Schmelztiegel der Revolution bildete [...]
Die administrative und militärische Führungsschicht des Staats lieferte der Adel, der nicht nur das Befehlen von Kindheit an gelernt hatte, sondern auch allein im Besitz einer elementaren weltlichen Bildung war. Die Reformen Peters des Großen hatten ihn zu westlicher Bildung gezwungen, in Schulen, in denen der technische und militärische Unterricht die Allgemeinbildung zurückdrängte und in denen westliche Einrichtungen die Vorbilder waren. [...] Wenn der Kern ihrer Mentalität, wenn ihre täglichen Gewohnheiten sich aus einer langen Vergangenheit herleiteten, so speisten sich ihre »Meinungen«, die Vorstellungen, die sie sich über die Gesellschaft und die Welt bildeten, weniger aus der russischen Wirklichkeit als aus ihrer Erziehung. Von der alten Tradition losgelöst, führte sie diese Erziehung auch auf dem Umweg über eine technische Grundunterweisung, zu allgemeinen und abstrakten Begriffen, zu einem utopischen Rationalismus nach dem Geschmack des europäischen 18. Jahrhunderts. Aus dem Schoß des Adels als der einzigen kultivierten Klasse außerhalb der Kirche ging jene intelligencija hervor, die in Opposition zum Regime trat und 1825 den sogenannten »Dekabristenaufstand« auslöste. Gerade ihre starke Bindung an den Staat trieb die besten denkenden Köpfe des Adels dazu, Reformideen aus dem Ausland zu entleihen. Und ihr ganzes Leben, ihre ganze Erziehung spiegelten ihnen die trügerische Illusion eines leichten Erfolgs vor. Die russischen Adligen waren nicht, wie die des Westens, mit dem Boden verbunden, sie hatten vom Zaren weit auseinanderliegende und austauschbare Güter bekommen, auf denen sie nur selten lebten, weil der Dienst sie völlig in Anspruch nahm, der sie als hohe Beamte oder Militärs durchs ganze Reich führte. Ihre Kinder wurden von den Frauen und inmitten einer leibeigenen Dienerschaft erzogen, die sie früh daran gewöhnten, den Herren zu spielen und ihre Autorität auf die Spitze zu treiben. Die Söhne kamen sehr bald von der Familie weg; sie erhielten eine militärisch orientierte Bildung, oft weit entfernt vom Landgut ihrer Kindheit; damit verloren sie die Beziehung zu den Realitäten des Landlebens und entwickelten nur den Sinn und Geschmack fürs Befehlen. Wenn dann die Reihe an sie kam, ihren Grundbesitz zu übernehmen, dann war es ihr Bestreben, ihren Bauern militärischen Gehorsam beizubringen; im Staatsdienst, der ihr Leben weit mehr ausfüllte als die Bewirtschaftung ihrer Güter, beseelte sie das Gefühl, einer heiligen Pflicht ihrem Land gegenüber zu gehorchen. Ohne eine rechte Beziehung zu Grund und Boden, von Jugend an auf den Dienst im Staat ausgerichtet, von klein auf gewohnt, untertänige Bauern im Griff zu haben, übernahmen sie fast alle die Konzeption des auf­geklärten Despotismus, die auch das Regime vertrat. So kam es, daß ihre politischen Anschauungen, wenn sie einmal nonkonformistisch waren, im Abstrakten und Utopischen blieben und sich mit einer sehr ausgeprägten Sorge um ihre materiellen Interessen vereinigen ließen, ja mit großer Härte in der Verteidigung ihrer Rechte; der liberale Adlige stand keineswegs zurück, wenn es galt, das Letzte aus den Leibeigenen herauszuholen.
Roger Portal: Die Slawen, Kindlers Kulturgeschichte Europas, S.277-78

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