14 Mai 2015

Wilhelm Raabe: Die Kinder von Finkenrode

Der Mond glitt rund und voll, aber verschleiert, wie eine schöne Frau auf der Umkehr – durch den geheimnisvollen Duft der Novembernacht und verbarg sich nur selten und, wie es schien, sehr ungern, hinter irgendeiner der schwarzen Wolken, die fernern Regen drohend, hier und da am Himmelsgewölbe herumlungerten. Seit zwölf Uhr mittags befand ich mich auf der Reise nach Finkenrode. [...] 
Ich hatte mich in die Kissen meiner Wagenecke zurückgelehnt und blickte halb, geschlossenen Auges in die Nacht hinaus. Meine Mitreisenden taten und sagten nichts, mich in meinen Gedankenspielen zu stören. Die Jungfrau mir gegenüber hatte den grünen Schleier über ihr schönes Gesicht fallen lassen und das Haupt gesenkt, wie eine schlafende Blume – um ein fadenscheiniges Gleichnis wieder hervorzusuchen; der alte dicke Herr, welcher sich auf den Weg gemacht hatte, um einen Taugenichts von Sohn in einer fernen Provinzialstadt seine väterliche Autorität fühlen zu lassen, schlief wirklich, stieß drohende Töne aus und machte bedenkliche Handbewegungen, welche dem schuldenmachenden Sprößling wahrlich nichts Gutes bedeuteten. Das Kind neben mir, welches sein Köpfchen an die Brust der Mutter gelehnt hatte und von dieser sorgsam gehalten wurde, damit es nicht von der Bank gleite, schlief ebenfalls. Die Laterne an der Decks des Wagens warf ihr rötlich trübes Licht über den kleinen Raum, – die Maschine stöhnte, der Zug klapperte und ächzte, rasselte und klirrte – die Nachtlandschaft blieb, wie viele Meilen auch vorbeiflogen, stets dieselbe. [...]

 "Max Bösenberg. Mit der Schnelligkeit, der krampfhaften Hast der Verzweiflung klemmte ich den Fuß zwischen die enge Spalte der Tür, warf meinen Reisesack dazwischen, um das schleunige Zuschlagen zu verhindern, welches mir meine aufgeregte Phantasie gräßlich vormalte – – – ah, ah, ah, nach einer Stunde lag ich zähneklappernd, mit leerem Magen, in einem ungeheizten Zimmer, einem feuchtkalten Bette des Gasthofs zum »goldenen Hahnen«, welchen ich hierdurch allen in dieser Gegend Reisenden, allen nach Sauingen Verschlagenen bestens empfohlen haben will. Meine Gefühle waren ungefähr die eines in einer Eisscholle eingefrorenen Frosches. [...]
Nachdem ich eine Zigarre angezündet und den Schaffner mit einer dito versehen hatte, fing ich allmählich an, mich wieder etwas als Mensch zu fühlen; [...]
»Wenn wir diese Höhe hinauf sind, können wir die beiden spitzen Türme von Finkenrode und den Fluß sehen; jetzt verdeckt der Wald noch die Aussicht.« Ich hatte fast keine Ruhe mehr auf dem Sitze. Alle die so bekannt klingenden Namen, welche der Mann erwähnte, jagten mir das Blut rascher und rascher durch die Adern. Ich drehte mir fast den Hals ab; auf allen Seiten tauchte meine vergessene Jugendwelt um mich her empor. [...]
Krack! krack! seitwärts neigte sich der schwarzgelbe Kutschkasten; der tote Rehbock schoß von dem Verdeck zuerst hinab auf die bodenlose Landstraße. Mönkemeyer, der Schaffner, ließ mich pflichtgemäß auf sich fallen, der Postillon fluchte; die Pferde schlugen scheu aus, da lag der königliche Postwagen auf der königlichen Landstraße. Ein seltener Genuß in dieser Zeit der Kurierzüge mit einem Postwagen umgeworfen zu werden l... [...]
Wo aber Werimar und Mangingelt, die Führer des ersten Sachsenschiffes, ihre Schwerter zuerst in den Boden gestoßen hatten, da steht heute das Rathaus der Stadt Finkenrode, und heute noch sitzen ein Bremer und ein Manegold im Rat der Stadt; der erste ein wackerer Schneider, der andere aber ein sechs Fuß hoher Schmied, der seinen Hammer heute noch vielleicht ebenso gewaltig schwingt, wie sein Vorfahr vor tausend Jahren das Saß, das sassische Schwert. [...]
Es ist Sonnabend, deshalb klingt die Glocke in dem wundervollen Turm dort über dem Wald, und horch, horch – da, die Glocken der Heimat, die Glocken von Finkenrode! ... Hals über Kopf rannte ich den Schillingsberg hinunter, mit der einen Hand den Regenschirm, mit der andern den Hut haltend. Was kümmerte mich der stärker werdende Regen, unter mir hatte ich ja die beiden Turmspitzen der Martinskirche meiner Vaterstadt, die freundlich aus dem Nebel und Dunst heraufschauten und winkten! Platsch, platsch, platsch! über Stock und Stein, glitschend, rutschend, springend und stolpernd, daß mir das Wasser und anderes mehr um die Ohren flog, immer hinab ins Tal, jetzt über den Hurlebach, an der klappernden Paddenmühle vorbei, durch die Wiesen, die Gärten entlang, bis an das Burgtor der alten Stadt Finkenrode! Ah!.. [...]
Alle diese alten vorgeschobenen Giebel, diese Winkel und Ecken, diese hohen Treppenstufen, diese überdachten Haustüren, diese dunkeln Torwege hatten etwas so Bekanntes, freundlich Wirkendes, Heimliches für mich, daß es wahrhaftig kein Verdienst war, gerührt zu werden, und die Wasserströme nicht zu achten, welche die Dachrinnen auf mich heruntergossen.
(Wilhelm Raabe: Die Kinder von Finkenrode, Kapitel 2 und 3)

Die Kinder von Finkenrode (Wikipediaartikel)


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