01 Januar 2015

Freienwalde

Freienwalde ist ein Badeort, eine Fremdenstadt, und trägt es auf Schritt und Tritt zur Schau; was ihm aber ein ganz eigentümliches Gepräge gibt, das ist das, daß alle Bade- und Brunnengäste, alle Fremden, die sich hier zusammenfinden, eigentlich keine Fremden, sondern märkische Nachbarn, Fremde aus nächster Nähe, sind. Dadurch ist der Charakter des Bades vorgeschrieben. Es ist ein märkisches Bad und zeigt als solches in allem jene Leichtbegnüglichkeit, die noch immer einen Grundzug unseres märkischen Wesens bildet. Und zwar mehr noch, einzelne Residenzausnahmen zugegeben, als wir selber wissen. Freienwalde ist kein Roulette- und Equipagenbad, kein Bad des Rollstuhls und des galonierten Bedienten, am wenigsten ein Bad der fünfmal gewechselten Toilette. Der breite Stempel, den die echten und unechten Engländer seit fünfzig Jahren allen europäischen Badeörtern aufzudrücken wußten, hier fehlt er noch, hier ist der komplizierte »Breakfast-Tisch« noch ein kaum geahntes Geheimnis, hier wird noch gefrühstückt, hier sucht noch kein grüner und schwarzer Tee die alte Herrschaft des Morgenkaffee zu untergraben, hier herrscht noch die vaterländische Semmel und weiß nichts von Buttertoast und Muffin, des Luftbrotes (aërated bread) und anderer Neuerungen von jenseit des Kanals ganz zu geschweigen. Und einfach wie die Frühstücksfrage, so löst sich auch die Frage des Kostüms. Der Shawl, der früher eine Mantille, oder die Mantille, die früher ein Shawl war, der Hut mit der neuen »Rüsche«, der Handschuh, der dreimal durch die Brönnerprobe ging – hier haben sie noch Hausrecht, und das zwölf Jahr gediente Leihbibliothekenbuch, hier ruht es noch frei und offen auf dem Antimakassar-Stuhl, mit der ganzen Unbefangenheit eines guten Gewissens. Nichts von Hyperkultur, wenig von Komfort. Während überall sonst ein gewisser Kosmopolitismus die Eigenart jener Städte, die das zweifelhafte Glück haben, »Badeörter« zu sein, abzuschwächen oder ganz zu verwischen wußte, ist Freienwalde eine märkische Stadt geblieben. Kein Wunder. Nicht der Welttourist, nur die Mark selber kehrt hier zum Besuche bei sich ein. [...]
Bei Nachgrabungen, die im Spätherbst 1820 hier angestellt wurden, stieß man, etwa vier Fuß tief unter der Erde, auf Fundamente, die nach sorglicher Ausmessung eine Länge von 136 Fuß ergaben. Es war just die Zeit, wo man hierlandes, über das »wendische Interregnum« hinaus, alles auf Langobarden- und Semnonentum zurückzuführen trachtete. Und das Badecomité, wie alle Badecomités, stand natürlich auf der Höhe seiner Zeit. Die Folge davon war, daß seitens desselben das 136 Fuß lange Fundament ohne weiteres als die Seitenwand eines Freyja-Tempels festgestellt und, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagend, jeder Streit über »Freienwalde« oder »Freyenwalde« ein für allemal zugunsten der letzteren Version entschieden wurde. Das Fundament selbst aber, alsbald ans Licht geschafft, erfuhr eine doppelte Verwendung. Die eine Hälfte ward als Mauerbruchstück aufgerichtet und erhielt eine Tafel mit der Geschichte der Auffindung des Freyja-Tempels, während die andere Hälfte, ebenfalls nach Sitte der Zeit, als künstlicher »Ruinenturm« in eine neue Phase des Daseins trat. Inschrift: »Wie schön ist Gottes Erde.«
S.45 - 47

Keine Kommentare: