28 Oktober 2014

Wir sind Epigonen

Man muß noch zum Teil einer andern Periode angehört haben, um den Gegensatz der beiden Zeiten, deren jüngste die Revolution in ihrem Anfangspunkte bezeichnet, ganz empfinden zu können. Unsre Tagesschwätzer sehen mit großer Verachtung auf jenen Zustand Deutschlands, wie er gegen das letzte Viertel des vorigen Jahrhunderts sich gebildet hatte, und noch eine Reihe von Jahren nachwirkte, herab. Er kommt ihnen schal und dürftig vor; aber sie irren sich. Freilich wußten und trieben die Menschen damals nicht so vielerlei als jetzt; die Kreise, in denen sie sich bewegten, waren kleiner, aber man war mehr in seinem Kreise zu Hause, man trieb die Sache um der Sache willen, und, daß ich bei der Schutzrede für die Beschränkung mit einem recht beschränkten Sprüchlein argumentiere: der Schuster blieb bei seinem Leisten. 

Jetzt ist jedem Schuster der Leisten zu gering, woher es auch rührt, daß kein Schuh mehr uns bequem sitzen will. Wir sind, um in einem Worte das ganze Elend auszusprechen, Epigonen, und tragen an der Last, die jeder Erb-und Nachgeborenschaft anzukleben pflegt. Die große Bewegung im Reiche des Geistes, welche unsre Väter von ihren Hütten und Hüttchen aus unternahmen, hat uns eine Menge von Schätzen zugeführt, welche nun auf allen Markttischen ausliegen. Ohne sonderliche Anstrengung vermag auch die geringe Fähigkeit wenigstens die Scheidemünze jeder Kunst und Wissenschaft zu erwerben. Aber es geht mit geborgten Ideen, wie mit geborgtem Gelde, wie mit fremdem Gute leichtfertig wirtschaftet, wird immer ärmer. Aus dieser Bereitwilligkeit der himmlischen Göttin gegen jeden Dummkopf ist eine ganz eigentümliche Verderbnis des Worts entstanden. Man hat dieses Palladium der Menschheit, dieses Taufzeugnis unsres göttlichen Ursprungs, zur Lüge gemacht, man hat seine Jungfräulichkeit entehrt. Für den windigsten Schein, für die hohlsten Meinungen, für das leerste Herz findet man überall mit leichter Mühe die geistreichsten, gehaltvollsten, kräftigsten Redensarten. Das alte schlichte: Überzeugung, ist deshalb auch aus der Mode gekommen, und man beliebt, von Ansichten zu reden. Aber auch damit sagt man noch meistenteils eine Unwahrheit, denn in der Regel hat man nicht einmal die Dinge angesehn, von denen man redet, und womit beschäftigt zu sein, man vorgibt.«


Immermann: Die Epigonen, 2. Buch, 10. Kapitel
(Hervorhebungen von mir)

 Wir sind, um in einem Worte das ganze Elend auszusprechen, Epigonen


Will sagen: Wir sind keine Originalgenies wie die Stürmer und Dränger Goethe und Schiller, die dann zu den Klassikern wurden. 

Ohne sonderliche Anstrengung vermag auch die geringe Fähigkeit wenigstens die Scheidemünze jeder Kunst und Wissenschaft zu erwerben.

Will sagen: Das 19. Jahrhundert mit seiner Entwicklung von Germanistik, den verschiedenen Philologien, Geschichte ... hat nicht nur geniale Dilettanten wie Goethe, von Arnim und Brentano beim Sammeln von Liedern, Märchen, Sagen ... gesehen wie das Ende des 18. Jahrhunderts, sondern - nicht zuletzt aufgrund des Wirkens der Brüder Grimm (und ihrer heute weitgehend vergessenen Konkurrenten) - die Entwicklung von Geisteswissenschaften und wissenschaftlichem Positivismus, die ihre Erkenntnisse der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stellten. 
Diese freilich sind nicht wirklich wertloses Kleingeld. Scheidemünze waren die ständigen Goethe- und Schillerzitate, mit denen den eigenen beschränkten Vorstellungen der Anschein von Größe gegeben werden sollte ("für das leerste Herz findet man überall mit leichter Mühe die geistreichsten, gehaltvollsten, kräftigsten Redensarten").

Immermann kritisiert sich damit selbst, freilich nicht ohne, den Sprecher dieser Kritik seines Zeitalters, den Gelehrten Wilhelmi, seiner eigenen ironischen Kritik zu unterwerfen. 


Freilich, irgendwie kommt uns die Aussage doch sehr aktuell vor:
"Ohne sonderliche Anstrengung vermag auch die geringe Fähigkeit wenigstens die Scheidemünze jeder Kunst und Wissenschaft zu erwerben."
Haben wir nicht schon hundertmal gehört und gelesen: "Heute erarbeitet sich niemand mehr etwas selbst. Alles wird nur noch gegoogelt oder aus der  Wikipedia abgeschrieben."


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