31 Oktober 2014

Die Bildungsgrundsätze des Edukationsrates

»Wie ich Ihnen schon gesagt habe, ist es mein Grundsatz, die mir anvertrauten Zöglinge auf dem kürzesten Wege zu Menschen, welche dem wirklichen Leben angehören, auszubilden«, erwiderte der Edukationsrat. »Ich wünsche sie ohne Umschweife zu dem zu machen, wozu man nach der alten Manier nur infolge der schmerzlichsten Pilgerschaft wurde, nämlich zu Bürgern. Deshalb ist in meinen Lehrplan nur das aufgenommen, was sie in ihrem künftigen Berufe unmittelbar brauchen: Länder-und Völkerkunde, Gewerbe, Naturwissenschaft, Geschichte der neuesten Zeit. Von Sprachen, namentlich von den toten, nur das Notdürftigste. Ich leugne die Würde des Gelehrten nicht, aber die Menschen so erziehen, als ob sie alle Gelehrte werden sollen, heißt das Bette des Prokrustes von neuem in Anwendung bringen. Am günstigsten steht die Aufgabe des Jugendbildners, wenn früh sich entschiedne Neigungen zeigen, die den künftigen Stand vorbedeuten. Denn der Stand ist eigentlich der Mensch. Dieses Glück hatte ich bei meinen Söhnen. Sobald die beiden ältesten nur auf ihren Füßen stehn konnten, schleppten sie an Steinen, Pflanzen, toten Tieren herbei, dessen sie habhaft wurden. Ich bemerkte indessen, daß der eine sich mehr mit dem Erbeuten, der andre mehr mit dem Trocknen und Aufbewahren abgab. Auch verließ den ersten bald die Lust am Mineralreiche; er wandte sich ganz zum Vegetabilischen und Animalischen. Steckte nun also nicht in jenem der geborne Jäger, und in diesem der Naturforscher? Der Kleine dort, der Baumeister, schnitt, seitdem er die Hände zu regen vermochte, Figuren in Papier und Pappe aus, und der Pastor, über den ich am längsten unklar gewesen bin, hat mich endlich dadurch von seiner Anlage überzeugt, daß er stundenlang still sitzen, und dann plötzlich aus dem Stegreife anfangen kann, Verse zu deklamieren. Anfangs gaben wir die Namen, welche Ihre Aufmerksamkeit erregt haben, den Knaben zum Scherz, nach und nach ist bei uns und ihnen, ja in der ganzen Anstalt daraus Ernst geworden, und sie werden nun in jeder Hinsicht so behandelt, als seien sie das schon, was sie werden sollen.«

Immermann: Die Epigonen


Mein Eindruck ist, dass Immermann hier die pädagogische Provinz aus Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahren parodiert und zwar in durchaus kritischer Absicht gegenüber dem selbstgerechten Ton, der dort von den Erziehern angeschlagen wird. 


Unserm Wanderer fiel der Ernst auf, die wunderbare Strenge, mit welcher sowohl Anfänger als Fortschreitende behandelt wurden; es schien, als wenn keiner aus eigner Macht und Gewalt etwas leistete, sondern als wenn ein geheimer Geist sie alle durch und durch belebte, nach einem einzigen großen Ziele hinleitend. Nirgends erblickte man Entwurf und Skizze, jeder Strich war mit Bedacht gezogen, und als sich der Wanderer von dem Führer eine Erklärung des ganzen Verfahrens erbat, äußerte dieser: die Einbildungskraft sei ohnehin ein vages, unstätes Vermögen, während das ganze Verdienst des bildenden Künstlers darin bestehe, daß er sie immer mehr bestimmen, festhalten, ja endlich bis zur Gegenwart erhöhen lerne.
Man erinnerte an die Notwendigkeit sicherer Grundsätze in andern Künsten. »Würde der Musiker einem Schüler[249] vergönnen, wild auf den Saiten herumzugreifen oder sich gar Intervalle nach eigner Lust und Belieben zu erfinden? Hier wird auffallend, daß nichts der Willkür des Lernenden zu überlassen sei; das Element, worin er wirken soll, ist entschieden gegeben, das Werkzeug, das er zu handhaben hat, ist ihm eingehändigt, sogar die Art und Weise, wie er sich dessen bedienen soll, ich meine den Fingerwechsel, findet er vorgeschrieben, damit ein Glied dem andern aus dem Wege gehe und seinem Nachfolger den rechten Weg bereite; durch welches gesetzliche Zusammenwirken denn zuletzt allein das Unmögliche möglich wird.
Was uns aber zu strengen Forderungen, zu entschiedenen Gesetzen am meisten berechtigt, ist: daß gerade das Genie, das angeborne Talent sie am ersten begreift, ihnen den willigsten Gehorsam leistet. Nur das Halbvermögen wünschte gern seine beschränkte Besonderheit an die Stelle des unbedingten Ganzen zu setzen und seine falschen Griffe, unter Vorwand einer unbezwinglichen Originalität und Selbstständigkeit, zu beschönigen. Das lassen wir aber nicht gelten, sondern hüten unsere Schüler vor allen Mißtritten, wodurch ein großer Teil des Lebens, ja manchmal das ganze Leben verwirrt und zerpflückt wird. (Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, 2. Buch, 8. Kapitel)

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