29 August 2014

Aus dem Leben einer Hansestadt

Wer hinter einem Ladentisch stand, war ein Krämer und gehörte in die Kategorie des Handwerks. Die alten Unterschiede zwischen Kaufleuten und Krämern, die einen Laden hatten, bestanden also immer noch. Als Mitte der fünfziger Jahre meine älteste Tochter, die als Studentin bei mei­ner in Hamburg verheirateten Cousine wohnte, sagte, sie gehe zum Kaufmann, um einzuholen, korrigierte diese: »Das heißt 'Krämer'.« [...]
Die Tradition in den Hansestädten war eine andere als in den monarchisch regierten Gliedstaaten des deutschen Reiches. [...]
Höfisches Leben hatte es nie gegeben. Ein Herrscherhaus fehlte und wurde nicht entbehrt. Die Obrigkeit war der Rat, später der Senat; Mitglieder waren Handelsherren, nach und nach auch Juristen. Die Ratsgeschlechter, wie sie ehedem hießen, kamen und vergingen. Sie beruhten auf Herkunft und Bewährung zugleich. Die materielle Existenz der Handelsher­ren hing auch von der Obrigkeit ab, sie achteten deshalb bei Bestellung der Senatoren auf deren Leistungsfähigkeit. Nepo­tismus war zu teuer.
[...] Das Universitätsstudium war bis ins 19. Jahrhundert hinein sehr kostspielig. Eine Ausnahme machte die Theologie. Für sie flossen beachtliche Stipendien, die als gottgefällige Leistung galten. Der erste Handwerkersohn, der auf die Universität ging, wurde meist Pastor, dessen Sohn Lehrer, Arzt oder Jurist. Letzteres vielfach erst der Enkel. Dagegen spielte das Militärische in Lübeck — im Unterschied zu seiner Hochschätzung im übrigen Deutschland — kaum eine Rolle. [...] Ein reicher Handelsherr aus unserer Familie, auch er Senator, hatte in seinem Testament diejenigen Töchter, die Offiziere heirateten, auf den Pflichtteil beschränkt, und das wurde nach seinem Tod 1921 strikt eingehalten. Er war kein Gegner des Militärs, aber er mißtraute diesem Beruf, der »eben doch nicht ganz solide« sei.

(Theodor Eschenburg: Also hören Sie mal zu, 1995)

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