31 Mai 2014

Ulrich und Agathe

Die Textstellen sind des öfteren nicht aus sich allein verständlich. Bei Gelegenheit werden sie durch weitere Hinweise, die sie in den Kontext einbetten, ergänzt. Bis dahin werden Leser hoffentlich angeregt, die vollständigen Kapitel nachzulesen.
Zur allgemeinen Situation: Ulrich hatte 17 Jahre lang keinen Kontakt mehr zu seiner jetzt 27-jährigen Schwester Agathe. 
Jetzt trifft er anlässlich des Todes seines Vaters mit ihr zusammen. Bei den Erledigungen im Zusammenhang mit der Beerdigung wundert er sich einerseits über ihr Verhalten und andererseits darüber, wie nahe er sich ihr fühlt:

Und weil er seinen Einfluß auf Frauen zu oft mit der Lust eines Jägers am Fangen und Beobachten ausgenutzt und mißbraucht hatte, war ihm fast immer auch das dazugehörende Bild begegnet, worin die Frau das Wild ist, das unter dem Liebesspeer des Mannes zusammenbricht, und es saß ihm die Wollust der Demütigung im Gedächtnis, der sich die liebende Frau unterwirft, während der Mann von einer ähnlichen Hingabe weit entfernt ist. [...]
Denn man kann hart sein, selbstsüchtig, bestrebt, gleichsam hinaus geprägt, und kann sich plötzlich als der gleiche Ulrich Soundso auch umgekehrt fühlen, eingesenkt, als ein selbstlos glückliches Wesen in einem unbeschreiblich empfindlichen und irgendwie auch selbstlosen Zustand aller umgebenden Dinge. Und er fragte sich »Wie lange ist es her, seit ich das zuletzt empfunden habe?« Zu seiner Überraschung waren es kaum mehr als vierundzwanzig Stunden. [...]
»Aber die Natur« dachte er »gibt dem Mann Saugwarzen und der Frau ein männliches Geschlechtsrudiment, ohne daß daraus zu schließen wäre, unsere Vorfahren seien Hermaphroditen gewesen. Auch seelisch werden sie also keine Zwitter gewesen sein. Und dann muß die doppelte Möglichkeit des gebenden und des nehmenden Sehens einmal von außen empfangen worden sein, als ein Doppelgesicht der Natur, und irgendwie ist alles das viel älter als der Unterschied der Geschlechter, die sich daraus später ihre seelische Kleidung ergänzt haben ...« So dachte er, aber in der Folge geschah es, daß er sich an eine Einzelheit aus seiner Kindheit erinnerte, und er wurde durch sie abgelenkt, weil es ihm, was lange nicht vorgefallen war, Vergnügen bereitete sich zu erinnern. Es muß vorausgeschickt werden, daß sein Vater früher geritten war und auch Reitpferde besessen hatte, wovon der leere Stall an der Gartenmauer, den Ulrich bei seiner Ankunft zuerst gesehen hatte, heute noch Zeugnis ablegte. Wahrscheinlich war das die einzige adelige Neigung, die sich sein Vater in Bewunderung seiner feudalen Freunde selbst angemaßt hatte, aber Ulrich war damals ein kleiner Knabe gewesen, und das gleichsam Unendliche, jedenfalls Unausmeßbare, das ein hoher, muskulöser Pferdeleib für ein bewunderndes Kind besitzt, stellte sich nun in der Empfindung wieder her wie ein märchenhaft-schauriges Gebirge, von der Haarheide überzogen, durch die das Zucken der Haut wie die Wellen eines Windes lief. Es war das, wie er bemerkte, eine jener Erinnerungen, deren Glanz von der Ohnmacht des Kindes kommt, sich seine Wünsche zu erfüllen; aber das sagt wenig, vergleicht man es mit der Größe dieses Glanzes, die geradezu überirdisch war, oder mit dem nicht weniger wunderbaren Glanz, den der kleine Ulrich ein wenig später mit den Fingerspitzen berührte, als er den ersten suchte. Denn zu jener Zeit waren in der Stadt die Ankündigungen eines Zirkus angeschlagen gewesen, worauf nicht nur Pferde, sondern auch Löwen, Tiger ebenso wie große, prächtige, in Freundschaft mit ihnen lebende Hunde vorkamen, und schon lange hatte er diese Anschläge angestarrt, als es ihm gelang, sich eines dieser bunten Papiere zu verschaffen und die Tiere auszuschneiden, denen er nun mit kleinen Holzständern Steife und Halt gab. Was sich sodann begab, läßt sich aber nur mit einem Trinken vergleichen, das den Durst nicht zu Ende löscht, auch wenn man es noch so lange fortsetzt; denn es hatte weder einen Halt, noch ergab es in wochenlanger Ausbreitung einen Fortschritt, und war ein dauerndes Hinübergezogenwerden in diese bewunderten Geschöpfe, die zu besitzen er mit dem unsäglichen Glück des einsamen Kindes jetzt ebenso stark vermeinte, wenn er sie ansah, wie er fühlte, daß daran etwas Letztes fehle, das durch nichts zu erfüllen war, wovon dann gerade das Verlangen das maßlos durch den Körper Strahlende erhielt. Mit dieser sonderbar grenzenlosen Erinnerung stieg aber nun in ganz natürlicher Weise auch ein anderes, wieder nur um wenig späteres, Erlebnis jener jungen Zeit aus der Vergessenheit auf und nahm trotz seiner kindlichen Hinfälligkeit von dem großen, mit offenen Augen träumenden Körper Besitz: Es war das des kleinen Mädchens, das nur zwei Eigenschaften hatte: die, ihm gehören zu müssen, und die der Kämpfe, die er deshalb mit anderen Buben bestand. Und von diesen beiden waren nur die Kämpfe wirklich, denn das kleine Mädchen gab es nicht. Sonderbare Zeit, wo er wie ein fahrender Ritter unbekannten Gegnern, und am liebsten, wenn sie größer waren als er und ihm in einer einsamen und eines Geheimnisses fähigen Straße begegneten, an die Brust sprang und mit dem Überraschten rang! Er hatte nicht wenig Prügel dafür erhalten und manchmal auch große Siege erfochten, aber wie immer es ausging, fühlte er sich um die Befriedigung betrogen. Und auf den naheliegenden Gedanken, daß die kleinen Mädchen, die er wirklich kannte, die gleichen Geschöpfe seien wie jenes, für das er stritt, ging sein Gefühl einfach nicht ein, denn er wurde wie alle... [...]
Er hatte sich nie eine Vorstellung davon gemacht, wie viele Menschen höflich auf den Tod anderer warten und wie viele Herzen man in dem Augenblick in Bewegung setzt, wo das eigene stillsteht; er war einigermaßen erstaunt und sah: ein toter Käfer liegt im Wald, und andere Käfer, Ameisen, Vögel und wippende Schmetterlinge kommen zu ihm heran. [...]
Er stand vor Ulrich wie ein Reflexbogen des Menschheitsgehirns, durch den Reiz und Handlung verbunden waren, ohne daß ein Bewußtsein entstand. Jahrhundertealte Geschichte war diesem Trauergeschäftsmann anvertraut, er durfte mit ihr als Warenbezeichnung schalten, hatte das Gefühl, daß Ulrich eine falsche Schraube gelüftet habe, und bemühte sich, sie rasch mit einer Bemerkung zu schließen, die zur Effektuierung der Lieferung zurückführen sollte. [...]
Die alte Qual der Ermahnungen, die darin bestand, daß in das zarte, verständnislose Gehirn der Kindheit eine harte und ihm fremde Ordnung gepreßt wurde, bereitete ihnen Vergnügen, und sie spielten damit. Und mit einemmal rief, ohne durch das Vorangegangene unmittelbar dazu aufgefordert zu sein, Agathe aus: »Denk dir das nun einfach auf alles ausgedehnt, so ist es Gottlieb Hagauer!« [...]
Er wußte nicht, ob sie den Toten versöhnen wolle, weil ihm Unrecht geschehen sei, oder ob sie ihm etwas Gutes mitgeben wolle, weil er selbst so viel Unrecht getan habe: er hätte fragen können, aber die barbarische Vorstellung, dem frostigen Toten ein Strumpfband mitzugeben, das von dem Bein seiner Tochter warm war, schloß ihm von innen die Kehle und richtete in seinem Gehirn allerhand Unordnung an. [...]
Aber die Züge stoßen zusammen, weil das Gewissen nicht den letzten Schritt tut. Die Welten tauchen nicht auf, wenn man sie nicht zieht. Ein andermal mehr davon. Der geniale Mensch hat die Pflicht anzugreifen! [...]
Das Leben in der Familie ist nicht das volle Leben; junge Menschen fühlen sich beraubt, vermindert, nicht bei sich selbst, wenn sie im Kreis der Familie sind. Sieh dir alte, unverheiratete Töchter an: sie sind von der Familie ausgesogen und ihres Blutes beraubt worden; es sind ganz sonderbare Zwitter zwischen Ich und Wir aus ihnen entstanden.« [...]
Aber zu seiner nicht geringen Überraschung brachte er darauf in den wenigen Stunden eines Vormittags alles, was er monatelang hatte unberührt liegen lassen, bis auf unbedeutende Einzelheiten zu Ende. Es war ihm beim Zustandekommen dieser unerwarteten Lösung einer jener außer der Regel liegenden Gedanken zu Hilfe gekommen, von denen man nicht sowohl sagen könnte, daß sie erst dann entstehen, wenn man sie nicht mehr erwartet, als vielmehr, daß ihr überraschendes Aufleuchten an das der Geliebten erinnert, die längst schon zwischen den anderen Freundinnen da war, ehe der bestürzte Freier zu verstehen aufhört, daß er ihr andere hat gleichstellen können. Es ist an solchen Einfällen nicht nur der Verstand, sondern immer auch irgend eine Bedingung der Leidenschaft beteiligt,  [...]
Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 2 bis 8

(Hervorhebungen von Fontanefan zum besseren Überblick)

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