15 April 2014

Vom Verschwinden der Persönlichkeit

»Nein. Überlegen Sie einmal: Wenn Gott alles vorher bestimmt und weiß, wie kann der Mensch sündigen? So wurde ja früher gefragt, und sehen Sie, es ist noch immer eine ganz moderne Fragestellung. Eine ungemein intrigante Vorstellung von Gott hatte man sich da gemacht. Man beleidigt ihn mit seinem Einverständnis, er zwingt den Menschen zu einer Verfehlung, die er ihm übelnehmen wird; er weiß es ja nicht nur vorher – für solche resignierte Liebe hätten wir immer Beispiele –, sondern er veranlaßt es! In einer ähnlichen Lage zu einander befinden wir uns heute alle. Das Ich verliert die Bedeutung, die es bisher gehabt hat, als ein Souverän, der Regierungsakte erläßt; wir lernen sein gesetzmäßiges Werden verstehn, den Einfluß seiner Umgebung, die Typen seines Aufbaus, sein Verschwinden in den Augenblicken der höchsten Tätigkeit, mit einem Wort, die Gesetze, die seine Bildung und sein Verhalten regeln. Bedenken Sie: die Gesetze der Persönlichkeit, Kusine! Es ist das wie ein gewerkschaftlicher Zusammenschluß der einsamen Giftschlangen oder eine Handelskammer für Räuber! Denn da Gesetze wohl das Unpersönlichste sind, was es auf der Welt gibt, wird die Persönlichkeit bald nicht mehr sein als ein imaginärer Treffpunkt des Unpersönlichen, und es wird schwerhalten, für sie jenen ehrenvollen Standpunkt zu finden, den Sie nicht entbehren mögen...«

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, 


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