29 April 2014

Seinesgleichen geschieht. Aber was geschieht da?

Er küßte sie langsam überall hin auf die freie Fläche zwischen Kopfhaar und Kleid und mußte dabei einen leichten Widerwillen überwinden, bis auf die Berührung ihrer Lippen, die den seinen in einer Weise entgegenkamen, die ihn an die schwachen Ärmchen gemahnte, mit denen ein Kind den Nacken eines Erwachsenen umschlingt. Er dachte an das schöne Gesicht Bonadeas, das unter dem Griff der Leidenschaft an eine Taube erinnerte, deren Federn sich in den Fängen eines Raubvogels sträuben, und an Diotimas statuenhafte Huld, die er nicht genossen hatte; statt der Schönheit, die ihm diese beiden Frauen schenken wollten, lag nun seltsamerweise Gerdas inbrünstig verzerrtes, hilflos häßliches Gesicht unter seinem Blick. Gerda verharrte indes nicht lange in dieser wachen Ohnmacht.  [...]
Es waren die ersten Küsse wirklicher, nicht bloß gespielter und eingebildeter Leidenschaft gewesen, die sie soeben gegeben und, wie sie fühlte, auch empfangen hatte, und der Widerhall in ihrem Körper war so ungeheuer, als ob sie schon dieser Augenblick zur Frau gemacht hätte. [...]
Ulrich aber hatte ihr seinen Arm wieder um die Schulter gelegt, weil er seit der Mitteilung über Arnheim fühlte, daß etwas Wichtiges vor ihm liege, aber zuvor dieses Beisammensein mit Gerda zu einem Ende geführt werden müsse. Er empfand nichts anderes dabei, als daß es außerordentlich unangenehm sei, alles das durchführen zu müssen, was dazu gehöre, und darum schlang er den zurückgewiesenen Arm sogleich noch einmal um sie, aber diesmal mit jener stummen Sprache, die ohne Gewalt und eindringlicher als Worte ankündigt, daß jeder weitere Widerstand vergeblich sei. [...]
Er beugte sich hinab und bedeckte es mit den rücksichtslosen Küssen, die das Fleisch in Bewegung setzen. Gerda stand willenlos auf und ließ sich führen. Es waren ungefähr zehn Schritte, die sie bis in Ulrichs Schlafzimmer zurückzulegen hatten, und das Mädchen stützte sich auf, wie ein schwer Verwundeter oder Kranker. Fremd kam ein Fuß vor den anderen, obgleich sie sich nicht schleppen ließ, sondern freiwillig ging. Eine solche Leere trotz solcher Erregung hatte Gerda noch nicht erlebt; sie meinte, ihr Blut habe sie verlassen, es war ihr eiskalt, sie kam an einem Spiegel vorbei, der ihr Bild in viel zu großer Entfernung zu zeigen schien, trotzdem bemerkte sie darin, daß ihr Gesicht kupferrot war, mit blassen Flecken. Und plötzlich, so wie bei Unglücksfällen der Blick oft eine überempfindliche Aufnahmefähigkeit für alles Gleichzeitige hat, sah sie das geschlossene Männerschlafzimmer mit allen seinen Einzelheiten rings um sich. Es fiel ihr ein, daß sie mit mehr Klugheit und Berechnung vielleicht als Frau hätte hier einziehen können; es würde sie sehr glücklich gemacht haben, aber sie suchte nach Worten, um zu sagen, daß sie keinen Vorteil wolle, sondern nur sich schenken; diese Worte fand sie nicht, sagte zu sich: »Es muß sein!« und öffnete den Kragen ihres Kleides. Ulrich hatte sie losgelassen; er brachte es nicht über sich, den zarten Beistand der Liebe beim Entkleiden zu leisten, stand abseits und warf seine eigenen Kleider ab. Gerda gewahrte den schlank aufgerichteten mächtigen Körper des Mannes in seinem Gleichgewicht von Gewalttätigkeit und Schönheit. Erschreckt wurde sie gewahr, daß sich ihr eigener Körper, obgleich sie noch in Unterkleidern dastand, mit einer Gänsehaut überzog. [...]
Gerda flehte um Schonung, wie es ein Kind tut, das eine Strafe empfangen soll oder zum Arzt geführt wird und keinen Schritt weiter tun kann, weil es völlig von Schreien zerrissen und gekrümmt wird. [...]
Ulrich starrte voll Grauen in die kleinen Pupillen der verschleierten Augen, aus denen der Blick merkwürdig steif hervorkam, und betrachtete entgeistert die seltsamen Bewegungen, in denen sich Wunsch und Verbot, Seele und Seelenlosigkeit in einer unausdrückbaren Weise verschränkten. Flüchtig fiel der Eindruck der blassen blonden Haut in sein Auge, mit den schwarzen Härchen, die dort, wo sie sich zu Flächen verdichteten, rot wurden. Es war ihm langsam klar geworden, daß er einen hysterischen Anfall vor sich habe, aber er wußte nicht, was er dagegen tun solle. [...]
er flüsterte unwillkürlich und unaufhörlich Gerda tröstliche Worte zu, versprach, daß er ihr nichts tun werde, erklärte, daß ihr noch nichts geschehen sei, bat sie um Verzeihung, und diese im Grauen zusammengefegte Wortspreu kam ihm so lächerlich und unwürdig vor, daß er sich dabei gegen die Versuchung wehren mußte, einfach einen Arm voll Polster zu nehmen und mit ihnen diesen Mund zu ersticken, dessen Laute nicht aufzuhalten waren. [...]
Dann kehrte das gewöhnliche Bewußtsein in Gerda zurück; in ihren Augen öffnete sich etwas, so wie einer die Augen schon eine Weile aufgeschlagen hat, ehe er aus dem Schlaf erwacht, sie starrte noch eine Sekunde verständnislos geradeaus, dann bemerkte sie, daß sie nackt dasitze, blickte Ulrich an, und das Blut schlug ihr in Wellen ins Gesicht zurück. [...] und sie hatte keinen anderen Wunsch als, ohne ein Wort sagen zu müssen, nicht mehr da zu sein. [...]
Ihre Erinnerung sagte ihr, mit welchen Gefühlen sie das Elternhaus verlassen hatte, in das sie nun zurückkehrte. Sie fühlte, daß sie die Probe nicht bestanden habe, und war tief unglücklich und beschämt. Sie erwiderte kein Wort auf alles, was Ulrich sagte. Ganz weit von allem Gegenwärtigen kam ihr ins Gedächtnis, daß er einmal im Scherz von sich den Ausspruch getan habe, die Einsamkeit verleite ihn zu Ausschreitungen. Sie war ihm nicht böse. Sie wollte bloß niemals wieder hören, was er sagte.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 119

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