01 April 2014

Ovids Metamorphosen: Pyramus und Thisbe


»Thi'sbe und Py'ramus einst, der Jünglinge schönster der eine,
Hoch die andre berühmt vor allen den Mädchen im Osten,
Wohnten als Nachbarn dort, wo die prächtige Stadt nach der Sage
Hatte Semiramis rings mit Backsteinmauern umgeben.«
Umgang brachte zuweg' und vertrautes Gewöhnen die Nähe;
Liebe erwuchs mit der Zeit, und sie wären vereint von den Fackeln,
Ohne der Väter Verbot. Was die nicht konnten verbieten:
Beider Gemüt war gleich entzündet von heißem Verlangen.
Jeglicher Zeuge ist fern. Sie reden mit Winken und Zeichen,
Und je enger beschränkt, je mächtiger wallet die Flamme.
Von kaum merklichem Riß, den schon beim Bau sie bekommen,
War durchspalten die Wand, die gemein jedwedem der Häuser.
Dieses Gebrechen, erkannt noch nie seit Reihen von Jahren,
Ward – was merkt nicht Liebe? – zuerst euch Liebenden sichtbar,
Dann als Weg für die Stimme gewählt, und in leisem Geflüster
Pflegten verstohlen hindurch zu gehn liebkosende Worte.
Oft, wenn sie standen davor, hier Thisbe, Pyramus drüben,
Und jedwedes den Hauch auffing von des anderen Munde,
Sprachen sie: »Neidische Wand, was bist du der Liebenden Hemmnis?
Wieviel hätt' es bedurft, daß ganz du uns ließest vereint sein
Oder, wenn dieses zuviel, uns Raum doch gäbest zum Küssen!
Doch nicht weigern wir Dank. Dir sind wir mit Freuden erkenntlich,
Daß zu befreundetem Ohr Durchgang du gewährest den Worten.«
Wenn von einander getrennt sie solches vergeblich geredet,
Sagten sie gegen die Nacht Lebwohl und gaben ein jedes
Küsse der scheidenden Wand, die nicht hinüber gelangten.[109]
Früh nun hatte verscheucht die nächtlichen Leuchten Aurora,
Und das betauete Gras mit Strahlen die Sonne getrocknet,
Als der gewöhnliche Ort sie vereint. Mit leisem Geflüster
Klagen sie lang und beschließen sodann die Hüter zu täuschen
Mitten in schweigender Nacht und sacht aus der Thüre zu schleichen,
Wenn sie entkommen dem Haus, die Gebäude der Stadt zu verlassen,
Dann, daß draußen sie nicht fehlgingen im weiten Gefilde,
Beide zu kommen zum Grabe des Ninus und sich zu verbergen
Unter dem schattigen Baum. Dort ragte beladen mit weißen
Früchten ein Maulbeerbaum ganz nahe bei kühlendem Borne.
So ist bestimmt, und das Licht, das langsam schien zu entweichen,
Sinkt in die Wogen hinab, und die Nacht steigt auf aus den Wogen.
Sacht dreht Thisbe die Thür in der Angel und schlüpft in dem Dunkel
Leise hinaus, von keinem bemerkt, und verhüllet das Antlitz
Langt bei dem Hügel sie an und setzt an dem Baume sich nieder.
Liebe machte sie stark und beherzt. Da nahet ein Löwe
Frisch von dem Morde der Rinder befleckt den schäumenden Rachen,
Daß er sich lösche den Durst im nahen Gewässer der Quelle.
Diesen gewahrte von fern im Mondschein Babylons Tochter
Thisbe und floh mit ängstlichem Fuß zur finsteren Höhle;
Aber sie ließ auf der Flucht das Gewand entfallen dem Rücken.
Als mit reichlichem Tranke der grimmige Leu sich gesättigt,
Sieht er, während zum Wald er zurückkehrt, ohne die Jungfrau
Liegen das dünne Gewand und zerfetzt es mit blutigem Maule.
Später entschritten dem Haus nimmt wahr in dem lockeren Sand
Sichere Spuren des Tiers und erblaßt im ganzen Gesichte
Pyramus. Wie er das Kleid auch findet vom Blute gerötet,
Spricht er: »Dieselbige Nacht wird Tod zwei Liebenden bringen;
Ach, und die würdigste war doch sie vieljährigen Lebens!
Ich nur trage die Schuld; ich habe dich, Ärmste, gemordet,
Der ich kommen dich hieß bei Nacht an grausige Stätte,[110]
Und als der Spätere kam. Reißt unseren Körper in Stücke,
Und mit dem grimmen Gebiß zehrt auf die verruchten Geweide,
All ihr Löwen zumal, die ihr haust hier unter dem Felsen!
Aber den Tod zu wünschen ist feig.« Und die Hülle der Thisbe
Hebt er vom Boden und nimmt sie mit in den Schatten des Baumes.
Wie dem bekannten Gewand er Thränen gegeben und Küsse,
Spricht er: »Empfange denn nun auch unseres Blutes Beströmung«;
Und er versenkt in die Weichen den Stahl, mit dem er gegürtet;
Rasch dann zieht er ihn sterbend heraus aus der blutenden Wunde.
Hochauf spritzte das Blut, wie er rücklings lag auf dem Boden,
Ähnlicher Art, wie wenn die beschädigte bleierne Röhre
Aufplatzt und mit Gewalt weithin feinstrahliges Wasser
Schleudert aus zischendem Loch und die Luft wegdrängt mit dem Schusse.
Von dem bespritzenden Blut gehn über die Früchte des Baumes
Plötzlich in schwarze Gestalt, und die Wurzel vom Blute befeuchtet
Tränkt sie mit punischem Saft und färbt die hangenden Beeren.
Sieh, da kehrt noch bang, um nicht den Geliebten zu täuschen,
Thisbe zurück und sucht mit Augen und Herzen den Jüngling.[111]
Ihm, wie großer Gefahr sie entging, zu erzählen verlangend.
Während den Ort sie erkennt und am Baum die gesehene Bildung,
Macht sie die Farbe der Frucht doch irr: ob dieser es wäre,
Stutzte sie. Zweifelnd im Sinn sah zuckende Glieder sie plötzlich
Schlagen den blutigen Grund, und sie wich mit dem Schritt, und im Antlitz
Wurde sie bleicher als Bux und schauderte ähnlich dem Meere,
Welches erbebt, wenn leicht hinstreift an dem Spiegel ein Lufthauch.
Aber, sobald sie erkannt nach kurzem Verzug den Geliebten,
Schlägt sie mit hallendem Streiche die schuldlos leidenden Arme,
Rauft sich das Haar und umschlingt den teueren Leib, und die Wunde
Füllt mit Thränen sie an und mischt mit dem Blute der Zähren
Heißen Erguß und bedeckt mit Küssen das eisige Antlitz.
»Pyramus – jammert sie laut – was raubte dich mir für ein Schicksal?
Pyramus, rede zu mir! Sieh, deine geliebteste Thisbe
Nennet dich. Höre mich doch und erhebe das liegende Antlitz!«
Als sie Thisbe gesagt, schlug wieder die brechenden Augen
Pyramus auf und schloß, wie er Thisbe geschaut, sie für immer.
Jetzo gewahrt sie ihr eignes Gewand und die elfene Scheide
Ohne das Schwert. »Dein Arm, Unglücklicher – ruft sie – und Liebe
Haben den Tod dir gebracht. Auch mir ist der Arm zu dem Einen
Stark: auch mir wird Kraft zu Wunden verleihen die Liebe.
Ja, dir folg' ich im Tod; dann heiß' ich deines Verderbens
Grund und Begleiterin auch, und den allein mir entreißen
Konnte der bittere Tod, soll Tod auch nicht mir entreißen.
Um dies einzige nur seid noch von uns beiden gebeten,
O von mir und von ihm ihr viel unglücklichen Väter:
Uns, die entschlossene Lieb' in der Stunde des Todes vereinte,
Uns mißgönnet es nicht, beisammen zu ruhen im Grabe.
Doch du Baum, der du jetzo die klagliche Leiche des einen
Deckst mit deinem Gezweig, bald deckst von zweien die Leichen:[112]
Wahre die Zeichen der That und behalte für immer der Trauer
Ziemende dunkele Frucht als Mal zwiefältigen Mordes.«
Sprach's, und unter die Brust sich stemmend die Spitze des Schwertes,
Stürzte sie sich in den Stahl, der noch von dem Morde gewärmt war.
Aber es rührt' ihr Wunsch die Götter und rührte die Eltern.
»Denn, wenn ganz sie gereift, ist schwarz an den Beeren die Farbe,
Und was die Flammen verschont, das ruht in gemeinsamer Urne.«

Ovid: Metamorphosen, 4. Buch


Weitere bekannte Passagen laut Wikipedia:
Die Weltentstehung, die WeltzeitalterDeukalion und Pyrrha (Sintflut), Pyramus und Thisbedie lykischen BauernDaedalus und Ikarus und PerdixPhilemon und BaucisBattusNarziss und EchoOrpheus und EurydikeApoll und DaphnePhaetonNiobeIphis und IantheKönig Midas mit dem Musikwettstreit zwischen Pan und ApolloPygmalionJupiters Affären mit schönen Frauen (vor allem EuropaIoKallistoLeda und Leto/Latona), die Dioskuren (Castor und Pollux), Perseus undAndromedaIason und MedeaPythagorasCaesar und Augustus.

sieh auch:
Schöpfung und Weltzeitalter (lateinisch und deutsch)
(„Metamorphosen (Ovid)“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 8. Januar 2014, 07:42 UTC. URL:http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Metamorphosen_(Ovid)&oldid=126237339 (Abgerufen: 1. April 2014, 10:03 UTC)

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