18 April 2014

Lesen und leben

»Sie lesen doch sehr viel, nicht wahr?« »Gewiß.« »Was tun Sie da? Ich will gleich die Antwort geben: Ihre Auffassung läßt aus, was Ihnen nicht paßt. Das gleiche hat schon der Autor getan. Ebenso lassen Sie im Traum oder in der Phantasie aus. Ich stelle also fest: Schönheit oder Erregung kommt in die Welt, indem man fortläßt. Offenbar ist unsere Haltung inmitten der Wirklichkeit ein Kompromiß, ein mittlerer Zustand, worin sich die Gefühle gegenseitig an ihrer leidenschaftlichen Entfaltung hindern und ein wenig zu Grau mischen. Kinder, denen diese Haltung noch fehlt, sind darum glücklicher und unglücklicher als Erwachsene. Und ich will gleich hinzufügen, auch die Dummen lassen aus; Dummheit macht ja glücklich. Ich schlage also als erstes vor: Versuchen wir einander zu lieben, als ob Sie und ich die Figuren eines Dichters wären, die sich auf den Seiten eines Buchs begegnen. Lassen wir also jedenfalls das ganze Fettgerüst fort, das die Wirklichkeit rund macht.« [...]
Es ist unmöglich, den Gedanken eines Buchs aus der Seite zu lösen, die ihn umgibt. Er winkt uns wie das Gesicht eines Menschen, das in einer Kette anderer an uns vorbeigerissen wird und für kurze Weile bedeutungsvoll auftaucht.
Robert Musil:  Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 114 Die Verhältnisse spitzen sich zu. Arnheim ist sehr huldvoll zu General Stumm. Diotima trifft Anstalten, sich ins Grenzenlose zu begeben. Ulrich phantasiert von der Möglichkeit, so zu leben, wie man liest

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