04 April 2014

Der Großschriftsteller

Der Großschriftsteller ist der Nachfolger des Geistesfürsten und entspricht in der geistigen Welt dem Ersatz der Fürsten durch die reichen Leute, der sich in der politischen Welt vollzogen hat. So wie der Geistesfürst zur Zeit der Fürsten, gehört der Großschriftsteller zur Zeit des Großkampftages und des Großkaufhauses. Er ist eine besondere Form der Verbindung des Geistes mit großen Dingen. [...]
Er muß viel reisen, von Ministern empfangen werden, Vorträge halten; den Chefs der öffentlichen Meinung den Eindruck machen, daß er eine nicht zu unterschätzende Gewissens macht darstelle; er ist charge d'affaires des Geistes der Nation, wenn es gilt, im Ausland Humanität zu beweisen; empfängt, wenn er zu Hause ist, notable Gäste und hat bei alledem noch an sein Geschäft zu denken, das er mit der Geschmeidigkeit eines Zirkuskünstlers machen muß, dem man die Anstrengung nicht anmerken darf. Denn der Großschriftsteller ist keineswegs einfach das gleiche wie ein Schriftsteller, der viel Geld verdient. Das »gelesenste Buch« des Jahres oder Monats braucht er niemals selbst zu schreiben, es genügt, daß er gegen diese Art der Bewertung nichts einzuwenden hat. Denn er sitzt in allen Preisgerichten, unterzeichnet alle Aufrufe, schreibt alle Vorworte, hält alle Geburtstagsreden, äußert sich zu allen wichtigen Ereignissen und wird überall gerufen, wo es zu zeigen gilt, wie weit man es gebracht hat. Denn der Großschriftsteller vertritt bei allen seinen Tätigkeiten niemals die ganze Nation, sondern gerade nur ihren fortschrittlichen Teil, die große, beinahe schon in der Mehrheit befindliche Auserlesenheit, und das umgibt ihn mit einer bleibenden geistigen Spannung. [...]
Die unerläßlichste Voraussetzung, um ein Großschriftsteller zu werden, bleibt also die, daß man Bücher oder Theaterstücke schreibt, die sich für hoch und niedrig eignen. Man muß wirken, ehe man das Gute wirken kann; dieser Grundsatz ist der Boden eines jeden Großschriftstellerdaseins. Und das ist ein wundersames, gegen die Versuchungen der Einsamkeit gerichtetes Prinzip, geradezu das Goethesche Prinzip des Wirkens, daß man sich nur in der freundlichen Welt regen müsse, so komme dann alles andere von selbst. Denn wenn ein Schriftsteller einmal zu wirken anfängt, so tritt eine bedeutsame Wandlung in seinem Leben ein. Sein Verleger hört auf, zu bemerken, daß ein Kaufmann, der Verleger werde, einem tragischen Idealisten gleiche, weil er doch mit Tuch oder unverdorbenem Papier ganz anders verdienen könnte. Die Kritik entdeckt in ihm einen würdigen Gegenstand für ihr Schaffen, denn Kritiker sind sehr oft keine bösen Menschen, sondern, dank den ungünstigen Zeitumständen, gewesene Lyriker, die ihr Herz an etwas hängen müssen, um sich aussprechen zu können; sie sind Kriegs- oder Liebeslyriker, je nach dem inneren Erträgnis, das sie günstig anbringen müssen, und es ist begreiflich, daß sie dazu lieber das Buch eines Großschriftstellers als das eines gewöhnlichen Schriftstellers wählen. [...]
Die eigentliche Schwierigkeit im Dasein eines Großschriftstellers entsteht erst dadurch, daß man im geistigen Leben zwar kaufmännisch handelt, aber aus alter Überlieferung idealistisch spricht, und diese Verbindung von Handel und Idealismus war es auch, die in Arnheims Lebensbemühungen eine entscheidende Stelle innehatte. [...]
Der ehrgeizige Geldmann ist heute in einer schwierigen Lage. Wenn er den älteren Mächten des Seins ebenbürtig sein will, so muß er seine Tätigkeit an große Ideen knüpfen; große Gedanken, die widerspruchslos geglaubt würden, gibt es aber heute nicht mehr, denn diese skeptische Gegenwart glaubt weder an Gott noch an die Humanität, weder an Kronen noch an Sittlichkeit – oder sie glaubt an alles zusammen, was auf das gleiche hinauskommt. [...]
Groß ist nun, was für groß gilt; allein das heißt, daß letzten Endes auch das groß ist, was durch tüchtige Reklame dafür ausgeschrien wird, und es ist nicht jedermann gegeben, diesen innersten Kern der Zeit ohne Beschwernis zu schlucken, [...]
Ein gebildeter Mann kann da zum Beispiel an das Verhältnis von Forschung und Kirche im Mittelalter denken. Es mußte sich dazumal der Philosoph mit der Kirche vertragen, wenn er Erfolg haben und das Denken seiner Zeitgenossen beeinflussen wollte, und billiges Freidenkertum könnte darum meinen, daß diese Fesseln seinen Aufstieg zur Größe behindert hätten; aber das Gegenteil war der Fall, Nach der Kundigen Meinung ist bloß eine unvergleichliche gotische Schönheit des Denkens daraus entstanden, und wenn man solche Rücksicht ohne Schaden des Geistes auf die Kirche hatte nehmen können, weshalb sollte man sie nicht auch auf die Reklame nehmen dürfen? Kann, wer wirken will, nicht auch unter dieser Bedingung wirken? Arnheim war überzeugt, daß es ein Zeichen von Größe ist, an seiner eigenen Zeit nicht zuviel Kritik zu üben! Der beste Reiter mit dem besten Pferd kommt, wenn er mit ihm hadert, schlechter über ein Hindernis als ein Reiter, der sich den Bewegungen seines Kleppers anpaßt. Ein anderes Beispiel: Goethe! – Er war ein Genie, wie die Erde leicht kein zweites hervorbringen mag, aber er war auch der geadelte Sohn einer deutschen Kaufmannsfamilie und, so wie ihn Arnheim empfand, der allererste Großschriftsteller, den diese Nation hervorgebracht hat.  [...]
Napoleon. Heine schildert ihn in den Reisebildern in einer so sehr mit Arnheims Begriffen übereinstimmenden Weise, daß man es am besten in seinen eigenen Worten wiedergibt, die dieser auswendig wußte. »Ein solcher Geist« sagte Heine, also von Napoleon sprechend, aber er hätte es ebensogut auf Goethe anwenden können, dessen diplomatische Natur er stets mit dem Scharfsinn des Liebhabers verteidigte, der sich heimlich mit dem Gegenstand seiner Bewunderung nicht einverstanden weiß, »ein solcher Geist ist es, worauf Kant hindeutet, wenn er sagt, daß wir uns einen Verstand denken können, der nicht wie der unsrige, sondern intuitiv ist. Was wir durch langsames analytisches Nachdenken und lange Schlußfolgen erkennen, das hatte jener Geist im selben Moment angeschaut und tief begriffen. Daher sein Talent, die Zeit, die Gegenwart zu verstehen, ihren Geist zu cajoliren, ihn nie zu beleidigen und immer zu benutzen. – Da aber dieser Geist der Zeit nicht bloß revolutionär ist, sondern durch den Zusammenfluß beider Ansichten, der revolutionären und contrerevolutionären, gebildet worden, so handelte Napoleon nie ganz revolutionär und nie ganz contrerevolutionär, sondern immer im Sinne beider Ansichten, beider Principien, beider Bestrebungen, die in ihm ihre Vereinigung fanden, und demnach handelte er beständig naturgemäß, einfach, groß, nie krampfhaft barsch, immer ruhig milde. Daher intriguierte er nie im Einzelnen, und seine Schläge geschahen immer durch seine Kunst, die Massen zu begreifen und zu lenken. – Zur verwickelten, langsamen Intrigue neigen sich kleine analytische Geister, hingegen synthetische, intuitive Geister wissen auf wunderbar geniale Weise die Mittel, die ihnen die Gegenwart bietet, so zu verbinden, daß sie dieselben zu ihrem Zweck schnell benutzen können.« Heine dürfte das vielleicht ein wenig anders gemeint haben, als sein Bewunderer Arnheim es auffaßte, aber dieser fühlte sich geradezu durch seine Worte mitbeschrieben.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 95 und 96

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