24 März 2014

Es gibt nichts, was dem Geist so gefährlich wäre wie seine Verbindung mit großen Dingen.

Es gibt nichts, was dem Geist so gefährlich wäre wie seine Verbindung mit großen Dingen. Ein Mensch wandert durch einen Wald, besteigt einen Berg und sieht die Welt unter sich ausgebreitet, betrachtet sein Kind, das man ihm zum erstenmal in die Arme legt, oder genießt das Glück, irgendeine Lage einzunehmen, die allgemein beneidet wird; wir fragen: was mag dabei in ihm vorgehen? [...]
Draußen überzieht die durchseelte, durchsonnte, vertiefte oder große Stunde die Welt mit einem galvanischen Silber bis in alle Blättchen und Äderchen; an ihrem anderen, persönlichen Ende aber macht sich bald ein gewisser, innerer Stoffmangel merklich, es entsteht dort sozusagen ein großes, leeres, rundes »O«. Dieser Zustand ist das klassische Symptom der Berührung mit allem Ewigen und Großen wie des Verweilens auf den Höhepunkten der Menschheit und Natur. [...]
Man könnte die Gefahr der Verbindung mit großen Dingen darum auch als ein Gesetz von der Erhaltung der geistigen Materie bezeichnen, und es scheint ziemlich allgemein zu gelten. Die Reden hochgestellter, im Großen wirkender Personen sind gewöhnlich inhaltsloser als unsere eigenen. Gedanken, die in einer besonders nahen Beziehung zu besonders würdigen Gegenständen stehen, sehen gewöhnlich so aus, daß sie ohne diese Begünstigung für sehr zurückgeblieben gehalten würden. Die uns teuersten Aufgaben, die der Nation, des Friedens, der Menschheit, der Tugend und ähnlich teuere tragen auf ihrem Rücken die billigste Geistesflora. Das wäre eine sehr verkehrte Welt; aber wenn man annimmt, daß die Behandlung eines Themas desto unbedeutender sein darf, je bedeutender dieses Thema selbst ist, dann ist es eine Welt der Ordnung. [...]
Es gab einflußreiche Industrien, wie die des Fußballspiels oder des Tennis, aber man zögerte noch, ihnen an den technischen Hochschulen Lehrstühle aufzustellen. Alles in allem: ob nun der selige Raufbold und Admiral Drake seinerzeit die Kartoffel aus Amerika eingeführt hat, womit das Ende der regelmäßigen Hungersnöte in Europa begann, oder ob das der weniger selige, sehr gebildete und ebenso rauflustige Admiral Raleigh getan hat oder ob es namenlose spanische Soldaten gewesen sind oder gar der brave Gauner und Sklavenhändler Hawkins – lange Zeit ist es niemand eingefallen, wegen der Kartoffeln diese Männer für bedeutender zu halten als etwa den Physiker Al Schîrasî, von dem man nur weiß, daß er den Regenbogen richtig erklärt hat; aber mit dem bürgerlichen Zeitalter hatte eine Umwertung im Range solcher Leistungen begonnen, und zur Zeit Arnheims war sie schon weit gediehen und wurde nur noch durch ältere Vorurteile gehemmt. Die Quantität der Wirkung und Wirkung der Quantität, als neuer, sonnenklarer Gegenstand der Verehrung, kämpfte noch mit einer veraltenden und erblindeten adeligen Verehrung der großen Qualität, aber in der Vorstellungswelt waren schon die tollsten Kompromisse daraus entstanden, wie gleich die Vorstellung des großen Geistes selbst, die so, wie wir sie im letzten Menschenalter kennen gelernt haben, eine Synthese von eigener und Kartoffelbedeutung sein mußte, denn  [...] man wartete auf einen Mann, der die Einsamkeit des Genies haben sollte, aber dabei doch die Gemeinverständlichkeit einer Nachtigall.
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 88

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