06 Januar 2014

Hesperus und Brief an meine Leser


Jean Paul: Hesperus
Ich wollte selber, ich könnte meinen 33sten Hundtag lesen, bevor ich ihn gemacht... [...]
Und er dachte weiter nach, wie die roten Morgenwolken der Hoffnung nur schwebender erhöhter Regen sind und wie oft der Schmerz der bittere Kern der Entzückung ist, gleich dem goldnen Reichsapfel des deutschen Kaisers, der zwar 3 Mark und 3 Lot schwer ist, aber innen mit Erde ausgefüllet... [...]
Es ist allen Empfindungen eigen (aber nicht den Einsichten), daß man sie nur allein zu haben glaubt. So hält jeder Jüngling seine Liebe für eine außerordentliche Himmelerscheinung, die nur einmal in der Welt sei, wie der Stern der Liebe, der Abendstern, oft einem Kometen gleichsieht. [...]
»Bei euch schwör' ich« – sagt' er, als nach und nach immer mehr Lerchen aus ihrem Tau mit Singen in die Morgen-Hora stiegen – »ich will, sogar in der Freude, gelassen bleiben ganze dreißig Jahre lang in einem fort, wenigstens drei ganze Pfingsttage – ich will ein Universität- und Hausfreund, aber nicht ein Wertherscher Liebhaber der Freude sein – Handelt nicht der Mensch, als müßte sein Lebensteig eine Brücke zusammengeschobener Honigwaben sein, durch die er mottenartig sich durchzukäuen habe, als wären seine Hände nur zwei Zuckerzangen der Lust? – Ich will wieder meinen Freuden und meinen Schmerzen den Scherz als einen Zaum anlegen. Die warmen Tränen der Melancholie, besonders die der Entzückung, eine Art heißer Dämpfe, die stärker treiben und zersetzen als Schießpulver und papinische Maschinen, will ich wohl noch vergießen, aber vorher ein wenig kühlen. – Und wenn ich Klotilde nicht jeden Vormittag ansichtig werde: so will ich bloß sagen: ein Mensch kann nicht immer im dritten Himmel sein, er muß auch zuweilen im ersten übernachten.«  [...]
Brief an meine Leser
Ich wollte selber, ich könnte geordneter über meine Lektüre berichten, als ich es hier tue; aber dafür fehlen mir zweierlei: 
1. geordnete Nachrichten vom Leser Fontanefan an den Herausgeber Fontanefan und 
2. die Zeit für mich, den Herausgeber, die eingehenden Nachrichten zu ordnen. 
Während der Berghauptmann Jean Paul mit jeder Hundspost ein neues Stück vom Hesperus bekommt, geht es mir, dem Herausgeber Fontanefan, wie dem Herausgeber der Lebensansichten des Katers Murr, der Leser liefert mir lauter Fragmente aus verschiedenen Werken, mal so viele, dass ich nicht nachkomme, mal versiegt der Strom, als käme gar nichts mehr von dem Werk, und dann taucht plötzlich doch wieder etwas auf, wie jetzt der Hesperus, der schon lange vergessen schien.
Der Leser Fontanefan hält sich nämlich an Musils Devise, den Mann ohne Eigenschaften immer nur in ganz kurzen Abschnitten zu lesen, auch bei Jean Paul. Denn beide Autoren liefern zu schwere Kost, als dass er mehr als kleine Happen auf einmal verdauen könnte. 
Der Herausgeber aber hat längst nicht immer Zeit, zu veröffentlichen, was der Leser ihm bietet. Deshalb macht er eben an der Stelle weiter, wo er dazu kommt. 
Hier aber folgt schon einmal ein Nachtrag aus dem Mann ..., um zu zeigen, mit was für Bruchstücken ich es als Herausgeber  da zu tun habe.  
Mit freundlichen Grüßen
Fontanefan
Dieses österreichisch-ungarische Staatsgefühl war ein so sonderbar gebautes Wesen, daß es fast vergeblich erscheinen muß, es einem zu erklären, der es nicht selbst erlebt hat. Es bestand nicht etwa aus einem österreichischen und einem ungarischen Teil, die sich, wie man dann glauben könnte, ergänzten, sondern es bestand aus einem Ganzen und einem Teil, nämlich aus einem ungarischen und einem österreichisch-ungarischen Staatsgefühl, und dieses zweite war in Österreich zu Hause, wodurch das österreichische Staatsgefühl eigentlich vaterlandslos war. Der Österreicher kam nur in Ungarn vor, und dort als Abneigung; daheim nannte er sich einen Staatsangehörigen der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder der österreichisch-ungarischen Monarchie, was das gleiche bedeutet wie einen Österreicher mehr einem Ungarn weniger diesen Ungarn, und er tat das nicht etwa mit Begeisterung, sondern einer Idee zuliebe, die ihm zuwider war, denn er konnte die Ungarn ebensowenig leiden wie die Ungarn ihn, wodurch der Zusammenhang noch verwickelter wurde. Viele nannten sich deshalb einfach einen Tschechen, Polen, Slowenen oder Deutschen, und damit begannen jener weitere Zerfall und jene bekannten »unliebsamen Erscheinungen innerpolitischer Natur«, wie sie Graf Leinsdorf nannte, die nach ihm »das Werk unverantwortlicher, unreifer, sensationslüsterner Elemente« waren, die in der politisch zu wenig geschulten Masse der Bewohner nicht die nötige Zurückweisung fanden. [...]
43 Erste Begegnung Ulrichs mit dem großen Mann.  In der Weltgeschichte geschieht nichts Unvernünftiges, aber Diotima stellt die Behauptung auf, das wahre Österreich sei die ganze Welt In der Pause bemerkte Arnheim: Je umfassender die Organisation sei, desto weiter würden die Vorschläge auseinander gehen. Dies sei ein Kennzeichen der nur auf den Verstand aufgebauten gegenwärtigen Entwicklung. Aber gerade deshalb stelle es einen ungeheuren Vorsatz dar, ein ganzes Volk zu zwingen, daß es sich auf den Willen, die Eingebung und das Wesentliche besinne, welches tiefer als der Verstand liege. Ulrich antwortete mit der Frage, ob er denn glaube, daß aus dieser Aktion etwas entstehen werde? »Ohne Zweifel;« erwiderte Arnheim »große Geschehnisse sind immer der Ausdruck einer allgemeinen Lage!« [...]
Arnheim sei ein Europäer, ein in ganz Europa bekannter Geist; und gerade weil er kein Österreicher sei, beweise man durch seine Teilnahme, daß der Geist als solcher in Österreich eine Heimat habe, und plötzlich stellte sie die Behauptung auf, das wahre Österreich sei die ganze Welt. Die Welt, erläuterte sie, werde nicht eher Beruhigung finden, als die Nationen in ihr so in höherer Einheit leben wie die österreichischen Stämme in ihrem Vaterland. Ein Größer-Österreich, ein Weltösterreich, darauf habe sie in diesem glücklichen Augenblick Se. Erlaucht gebracht, das sei die krönende Idee, die der Parallelaktion bisher gefehlt habe. – Hinreißend, pazifistisch gebietend stand die schöne Diotima vor ihrem erlauchten Freund. Graf Leinsdorf konnte sich noch nicht entschließen, seine Einwände aufzugeben, aber er bewunderte wieder einmal den flammenden Idealismus und die Weite des Blicks dieser Frau und erwog, ob es nicht doch vorteilhafter wäre, Arnheim ins Gespräch zu ziehen, als gleich auf so folgenschwere Anregungen zu antworten. Arnheim war unruhig, weil er dieses Gespräch witterte, ohne es beeinflussen zu können. [...]
Ulrich liebte diese Art Mädchen, die ehrgeizig sind, sich gut benehmen und in ihrer wohlerzogenen Einschüchterung Fruchtbäumchen gleichen, deren süße Reife eines Tages einem jungen Schlaraffenkavalier in den Mund fällt, wenn er geruht, die Lippen zu öffnen. [...]
In der Erinnerung fiel ihm auf, daß das schwarz-weiße Ornat, in das man diese Mädchen steckt,die gleichen Farben habe wie das der Nonnen; er bemerkte es zum erstenmal, und er wunderte sich darüber. Aber da sprach schon die göttliche Diotima und erklärte: Die Parallelaktion müsse in einem großen Zeichen gipfeln. [...]
(Musil: Der Mann ohne   Eigenschaften, 42.  und 43. Kapitel)
Eine kurze Anmerkung des Lesers Fontanefan: 
Der Brief an die Leser stammt vom Herausgeber, nicht von mir. Fontanefan

Keine Kommentare: