17 November 2013

Der stumme Prophet III - Die Verbannung

Ein kleiner, rundlicher Mann mit einem schwarzen Bärtchen stand plötzlich neben Friedrich. »Schöne Nacht«, sagte er, »nicht wahr?« »Ja«, sagte Friedrich, »eine schöne Nacht.« »Ich verhafte Sie, mein lieber Kargan«, sagte der Mann freundlich. Er hatte eine rundliche, weiße, fast weibliche Hand mit kurzen Fingern. »Pascholl!« kommandierte er. Zwei Männer, die plötzlich zum Vorschein kamen, nahmen Friedrich in die Mitte. Er fühlte nur den Wind wie einen Trost aus der unermeßlichen Ferne. [...]
»Wenn ich die Menschen während der Fütterung betrachte«, sagte Friedrich zu Berzejew, einem früheren Oberleutnant, »bin ich überzeugt, daß sie nichts mehr nötig haben als eine Kugel am Bein, einen Löffel in der Rechten und ein Blechgeschirr in der Linken. Das Herz ist so nahe dem Darm, Zunge und Zähne grenzen so hart an das Gehirn, die Hände, die Gedanken niederschreiben, können so gut ein Lamm erwürgen und einen Bratspieß drehen, daß ich ratlos vor den Menschen stehe wie vor einem legendären Drachen.« »Sie sprechen wie ein Dichter«, erwiderte Berzejew, lächelte und zeigte zwischen dem schwarzen Bart zwei Reihen leuchtender Zähne, die wie ein Beweis für Friedrichs Behauptung aussahen. »Ich kann solche Worte nicht finden. Aber ich habe auch gesehn, daß der Mensch rätselhaft ist, und vor allem: daß man ihm nicht helfen kann.« Beide erschraken sie. Waren sie nicht hier, weil sie ihnen helfen wollten? Sie wandten sich voneinander ab. [...]
Nach vier Tagen wurden sie ausgeschifft, in eine große Halle geführt und einwaggoniert. Sie waren erfrischt, als sie wieder das Land betraten, und ihre Ketten hatten einen hurtigeren Klang. [...]
Die Freiheit war nicht wie ein Eigentum, das jeder einzelne verloren hatte. Sie war ein Element wie die Luft. [...]
Die Erfahrenen, die schon dort gewesen waren, begannen, die Schrecknisse dieses Kerkers zu schildern. Zuerst schauderten sie bei ihren eigenen Worten und machten die Zuhörer schaudern. Aber allmählich, während sie erzählten, wurde die Begeisterung, die sie nur aus dem Erzählen bezogen, stärker als der Inhalt ihrer Rede und die Neugier der Zuhörer größer als der Schrecken. Sie saßen da wie Kinder, die Märchen von gläsernen Palästen hören. Panfilow und Sjemienuta, zwei alte, weißbärtige Ukrainer, schilderten die Einzelzellen sogar mit einer Art Wehmut, und vergeßlich, wie das menschliche Herz ist, und weil der Weg noch allen unendlich vorkam und das Ziel trotz der Versicherungen der Erfahrenen noch ungewiß blieb, glaubten alle für ein paar kurze Stunden nicht, sie selbst führen dem Elend der Gefängnisse entgegen, sondern ganz andre, Fremde. [...]
Nur Berzejew warf nichts weg. Sein umfangreiches Gepäck trugen die Soldaten. Er konnte ihnen ein gutes Wort sagen, eine Zigarette in den Mund stecken und zuschnalzen wie Pferden. [...]
Nach dem Gesetz sollte ihr Bestimmungsort zehn Werst von einer Stadt, zehn Werst von einem Fluß und zehn Werst von einer Landstraße entfernt sein. Es gelang ihnen dennoch, an einen Fluß zu kommen, an den Fluß Kolyma. Er ist größer als der Rhein, nur drei Städte sind an ihm gelegen. Die eine hatte neun Einwohner, die andere hundert Einwohner in dreißig Militärbaracken. Friedrich, Berzejew und Lion entschlossen sich für die dritte Stadt, Sredni Kolymsk. Dort gab es weit auseinanderliegende Hütten und nur drei Häuser mit gläsernen Fenstern. Aber es war in einem Umkreis von vielen Meilen der einzige Ort mit einer Kirche, einem Turm und Glocken; Glocken, die man in der zivilisierten Welt gegossen hatte und deren Klang war wie eine Muttersprache. [...]
Mehl war unerschwinglich. In dieser Gegend konnten die Hausfrauen nur dreimal im Jahr backen. Das Brot war seltener als das Fleisch. Zum erstenmal fühlte Friedrich die unmittelbare Beziehung zwischen Sonne und Erde. Zum erstenmal verstand er den einfachen Sinn des Gebets, das man an den Himmel richtet um das tägliche Brot. An dem brotlosen Tisch, an den er sich zweimal täglich setzte, gedachte er der Bäckerläden in den lebendigen Städten. Er schloß die Augen. Er stellte sich die verschiedenen Farben des Mehls und die verschiedenen Formen der Brote vor. »Wovon träumst du?« fragte Berzejew. »Von Broten. Wenn ich mir die Welt vorstelle, von der wir abgeschlossen sind, denke ich an ganz lächerliche Dinge, z. B. flache Streichhölzer für die Westentasche und runde Pappendeckel für Biergläser, Tintenfässer, die man durch Druck aufklappen kann, Papiermesser aus Zelluloid und an ganz gewöhnliche Sachen, wie z. B. eine Ansichtskarte. [...]

Das Leben ist kurz. Sechzig Jahre Freiheit sind weniger als zehn Jahre Sibirien. [...]

(J. Roth: Der stumme Prophet , Kapitel 14-20)

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