17 August 2013

Über das Leben an einem deutschen Fürstenhof zur Goethezeit

"Mein Held ließ folgenden [Brief] an den Pfarrer ab:

»Mein lieber Herr Adoptiv-Vater! – Ich hatte bisher nicht so viel Zeit übrig, um die Augen aufzuheben und zu sehen, was wir für einen Mond haben. Wahrhaftig, einem Hofe fehlts zur Tugend schon – an Zeit.
Der Fürst führt mich überall wie ein Riechfläschchen bei sich und zeigt seinen närrischen Doktor vor. Mich werden sie bald nicht ausstehen können, nicht weil ich etwan etwas tauge – ich bin vielmehr fest versichert, sie ertrügen den tugendhaftesten Mann von der Welt ebensogut wie den schlimmsten, und das bloß, weil er ein Anglizismus, ein homme de Fantaisie, ein Naturspiel wäre –, sondern weil ich nicht genug rede. Geschäftleute bekümmern sich um keinen Gespräch- und keinen Briefstil; aber bei Hofleuten ist die Zunge die Pulsader ihres welken Lebens, die Spiral- und Schwungfeder ihrer Seelen; alle sind geborne Kunstrichter, die auf nichts als Wendung, Ausdruck, Feuer und Sprache sehen. Das macht, sie haben nichts zu tun; ihre gute Werke sind Bonmots, ihre Meßgeschäfte Besuchkarten, ihre Hauswirtschaft eine Spiel- und ihre Feldwirtschaft eine Jagdpartie, und der kleine Dienst eine Physiognomie. Daher müssen sie fremde Fehler den ganzen Tag in Ohren haben gegen die schlaffe Weile, wie die Ärzte die Krätze einimpfen gegen Dummheit: ein Hofstaat ist das ordentliche Pennypostamt der kleinsten Neuigkeiten, sogar von euch Bürgerlichen, wenn ihr gerade etwas recht – Lächerliches getan habt.
Zu wünschen wäre, wir hätten Festins, oder Spielpartien, oder Komödien, oder Assembleen, oder Soupers, oder etwas Gutes zu essen, oder irgendeine Lustbarkeit; aber daran ist nicht zu denken – wir haben zwar alle diese Dinge, aber nur die Namen davon; der Kammerpräsident würde die Achsel zucken, wenn wir nur des Jahrs viermal so glänzend fröhlich sein wollten, als Sie es des Monats viermal sind. Da unsere Woche aus sieben Sonntagen besteht: so sind unsere Lustbarkeiten nur Kalenderzeichen, Zeit-Abschnitte, auf die niemand achtet, und ein Festin ist nichts als ein Spielraum der Plane, die jeder hat, das Brettergerüst seiner Hauptrolle und die Jahrzeit der fortgesetzten Intrige gegen Opfer der Liebe oder des Ehrgeizes. Hier ist jede Minute eine stechende Moskite, und der Distelsame des schöngefärbten Kummers fliegt weit herum. [...]

Was mir aber dieses glückliche Hofleben oft versalzet, ist der allgemeine Mangel an Verstellung. Denn hier glaubt keiner, was er hört, und denkt keiner, wie er aussieht; alle müssen nach den ordentlichen Spielgesetzen, gleich den Karten, einerlei obere Seite haben und äußere Gesichtstille auf inneres Glühen decken, wie der Blitz nur den Degen, aber nicht die Scheide zerstört. – Folglich kann, da eine allgemeine Verstellung keine ist und da jeder dem andern Gift zutraut, keiner belügen, sondern jeder nur überlisten; nur der Verstand, nicht das Herz wird berückt. Inzwischen ist, die Wahrheit zu sagen, das keine Wahrheit; denn jeder hat zwei Masken, die allgemeine und die persönliche. Übrigens werden die Farben, die auf den wissenschaftlichen, feinen und menschenliebenden Anstrich des Äußern verbraucht werden, notwendig vom Innern abgekratzet, aber zum Vorteil, da am Innern nicht viel ist, und das Studium des Scheins verringert das Sein; [...]"
Jean Paul: Hesperus, 2. Heftlein, 17. Hundsposttag

Hesperus ist 1795 erschienen. 1792 begleitete Goethe seinen Herzog auf dem Feldzug der Fürstenkoalition gegen das revolutionäre Frankreich, 1793 versuchte er sich an Theaterstücken, in denen er sich über die Französische Revolution lustig machte.

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