01 Mai 2013

Gorkij


Gorkij beherrschte keine ausländische Sprache, ich wiederum nicht die russische. Nach allen Regeln der Logik hätten wir also einander stumm gegenübersitzen müssen oder ein Gespräch nur dank unserer verehrten Freundin Maria Baronin Budberg durch Verdolmetschung aufrechterhalten können. Aber Gorkij war keineswegs bloß zufällig einer der genialsten Erzähler der Weltliteratur; erzählen bedeutete für ihn nicht nur künstlerische Ausdrucksform, es war eine funktionelle Emanation seines ganzen Wesens. Im Erzählen lebte er in dem Erzählten, verwandelte er sich in das Erzählte, und ich verstand ihn, ohne die Sprache zu verstehen, schon im voraus durch die plastische Tätigkeit seines Gesichts. An und für sich sah er nur – man kann es nicht anders sagen – „russisch“ aus. Nichts war auffallend an seinen Zügen; man hätte den hohen hagern Mann mit dem strohgelben Haar und den breiten Backenknochen sich als Bauer auf dem Felde denken können, als Kutscher auf einer Droschke, als kleinen Schuster, als verwahrlosten Vaganten – er war nichts als „Volk“, als konzentrierte Urform des russischen Menschen. Auf der Straße wäre man achtlos an ihm vorübergegangen, ohne das Besondere an ihm zu merken. Erst wenn man ihm gegenübersaß und er zu erzählen begann, erkannte man, wer er war. Denn er wurde unwillkürlich der Mensch, den er porträtierte. Ich erinnere mich, wie er – ich verstand schon, ehe man mir übersetzte – einen alten, buckligen, müden Menschen beschrieb, den er auf seinen Wanderungen einmal getroffen hatte. Unwillkürlich sank der Kopf ein, die Schultern drückten sich nieder, seine Augen, strahlend blau und leuchtend, als er begonnen, wurden dunkel und müde, seine Stimme brüchig; er hatte sich, ohne es zu wissen, in den alten Buckligen verwandelt. Und sofort, wenn er etwas Heiteres schilderte, brach das Lachen breit aus seinem Mund, er lehnte sich locker zurück, ein Glanz schimmerte auf seiner Stirn; es war eine unbeschreibliche Lust, ihm zuzuhören, während er mit runden, gleichsam bildnerischen Bewegungen Landschaft und Menschen um sich stellte. Alles an ihm war einfach-natürlich, sein Gehen, sein Sitzen, sein Lauschen, sein Übermut; eines Abends verkleidete er sich als Bojar, legte sich einen Säbel um, und sofort kam Hoheit in seinen Blick. Befehlend spannten sich seine Augenbrauen, er ging energisch im Zimmer auf und ab, als erwäge er einen grimmigen Ukas, und im nächsten Augenblick, als er die Verkleidung abgenommen, lachte er kindlich wie ein Bauernjunge. [...]
Zufällig wurde ich in jenen Tagen Zeuge einer solchen, sehr charakteristischen, durchaus neu-russischen Szene, die mir seinen ganzen Zwiespalt enthüllte. Zum erstenmal war in Neapel ein russisches Kriegsschiff auf einer Übungsfahrt eingelaufen. Die jungen Matrosen, die nie in der Weltstadt gewesen, promenierten in ihren schmucken Uniformen durch die Via Toledo und konnten sich mit ihren großen, neugierigen Bauernaugen nicht sattsehen an all dem Neuen. Am nächsten Tag entschloß sich ein Trupp von ihnen, nach Sorrent hinüberzufahren, um „ihren“ Dichter zu besuchen. Sie sagten sich nicht an; in ihrer russischen Bruderschaftsidee war es ihnen ganz selbstverständlich, daß „ihr“ Dichter jederzeit für sie Zeit haben müsse. Plötzlich standen sie vor seinem Haus, und sie hatten richtig gefühlt: Gorkij ließ sie nicht warten und lud sie zu Gast. Aber – Gorkij erzählte es selbst lachend am nächsten Tage – diese jungen Leute, denen nichts höher stand als die „Sache“, gebärdeten sich zunächst recht streng zu ihm. „Wie wohnst du da“, sagten sie, kaum in die schöne behagliche Villa eingetreten. „Du lebst ja ganz wie ein Bourgeois. Und warum kommst du eigentlich nicht nach Rußland zurück?“ Gorkij mußte ihnen alles ausführlich erklären, so gut er konnte. Aber im Grunde meinten es die braven Jungen auch nicht so streng. Sie hatten eben nur zeigen wollen, daß sie vor Ruhm keinen „Respekt“ hatten und jeden zuerst auf seine Gesinnung prüften. Unbefangen setzten sie sich hin, tranken Tee, plauderten, und zum Schluß umarmte ihn einer nach dem andern beim Abschied. Es war wunderbar, wie Gorkij die Szene erzählte, ganz verliebt in die lockere freie Art dieser neuen Generation und ohne im mindesten etwa durch ihre Burschikosität gekränkt zu sein. „Wie anders wir waren“, wiederholte er immer, „entweder geduckt oder voll Vehemenz, aber nie sicher unserer selbst.“ Den ganzen Abend leuchteten seine Augen. Und als ich ihm sagte: „Ich glaube, am liebsten wären Sie mit ihnen heimgefahren“, stutzte er, sah mich scharf an. „Wieso wissen Sie das? Wirklich, ich habe bis zum letzten Augenblick noch überlegt, ob ich nicht alles stehen und liegen lassen sollte, die Bücher, die Papiere und die Arbeit, und mit solchen jungen Burschen vierzehn Tage auf ihrem Schiff ins Blaue fahren. Dann hätte ich wieder gewußt, was Rußland ist. In der Ferne verlernt man das Beste, keiner von uns hat im Exil noch etwas Gutes geleistet.“ Aber Gorkij irrte, wenn er Sorrent ein Exil nannte. Er konnte doch jeden Tag heimkehren und ist auch tatsächlich heimgekehrt.
Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Sonnenuntergang

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