23 April 2013

Walther Rathenau


Unsere freundschaftlichen Beziehungen waren alte und herzliche; sie hatten auf sonderbare Weise begonnen. Einer der ersten Männer, denen ich schon als Neunzehnjähriger Förderung verdankte, war Maximilian Harden, dessen „Zukunft“ in den letzten Jahrzehnten des wilhelminischen Kaiserreichs eine entscheidende Rolle spielte; Harden, von Bismarck, der sich seiner gern als Sprachrohr oder Blitzableiter bediente, persönlich in die Politik hineingeschoben, stürzte Minister, brachte die Eulenburg-Affäre zur Explosion, ließ das kaiserliche Palais jede Woche vor anderen Attacken und Enthüllungen zittern; aber trotz all dem blieb Hardens private Liebe das Theater und die Literatur. Eines Tages erschien nun in der „Zukunft“ eine Reihe von Aphorismen, die mit einem mir nicht mehr erinnerlichen Pseudonym gezeichnet waren und mir durch besondere Klugheit sowie sprachliche Konzentrationskraft auffielen. Als ständiger Mitarbeiter schrieb ich an Harden: „Wer ist dieser neue Mann? Seit Jahren habe ich keine so gut geschliffenen Aphorismen gelesen.“ Die Antwort kam nicht von Harden, sondern von einem Herrn, der Walther Rathenau unterschrieb und der, wie ich aus seinem Briefe und auch von anderer Seite erfuhr, kein anderer war als der Sohn des allmächtigen Direktors der Berliner Elektrizitätsgesellschaft und selber Großkaufmann, Großindustrieller, Aufsichtsrat zahlloser Gesellschaften, einer der neuen deutschen (um ein Wort Jean Pauls zu benutzen) „weltseitigen“ Kaufleute. Er schrieb mir sehr herzlich und dankbar, mein Brief sei der erste Zuruf gewesen, den er für seinen literarischen Versuch empfangen hätte. Obwohl mindestens zehn Jahre älter als ich, bekannte er mir offen seine Unsicherheit, ob er wirklich schon ein ganzes Buch seiner Gedanken und Aphorismen veröffentlichen sollte. Schließlich sei er doch ein Außenseiter und bisher habe seine ganze Wirksamkeit auf ökonomischem Gebiet gelegen. [...]
Dieser vielbeschäftigte Mann hatte immer Zeit. Ich habe ihn gesehen in den schwersten Kriegstagen und knapp vor der Konferenz von Genua und bin wenige Tage vor seiner Ermordung noch im selben Automobil, in dem er erschossen wurde, dieselbe Straße mit ihm gefahren. Er hatte ständig seinen Tag bis auf die einzelne Minute eingeteilt und konnte doch jederzeit mühelos aus einer Materie in die andere umschalten, weil sein Gehirn immer parat war, ein Instrument von einer Präzision und Rapidität, wie ich es nie bei einem anderen Menschen gekannt. Er sprach fließend, als ob er von einem unsichtbaren Blatt ablesen würde, und formte dennoch jeden einzelnen Satz so plastisch und klar, daß seine Konversation mitstenographiert ein vollkommen druckreifes Exposé ergeben hätte. Ebenso sicher wie Deutsch sprach er Französisch, Englisch und Italienisch – nie ließ ihn sein Gedächtnis im Stich, nie brauchte er für irgendeine Materie eine besondere Vorbereitung. Wenn man mit ihm sprach, fühlte man sich gleichzeitig dumm, mangelhaft gebildet, unsicher, verworren angesichts seiner ruhig wägenden, alles klar überschauenden Sachlichkeit. Aber etwas war in dieser blendenden Helligkeit, in dieser kristallenen Klarheit seines Denkens, was unbehaglich wirkte wie in seiner Wohnung die erlesensten Möbel, die schönsten Bilder. Sein Geist war ein genial erfundener Apparat, seine Wohnung wie ein Museum, und in seinem feudalen Königin-Luisen-Schloß in der Mark vermochte man nicht warm zu werden vor lauter Ordnung und Übersichtlichkeit und Sauberkeit. Irgend etwas gläsern Durchsichtiges und darum Substanzloses war in seinem Denken; selten habe ich die Tragik des jüdischen Menschen stärker gefühlt als in seiner Erscheinung, die bei aller sichtlicher Überlegenheit voll einer tiefen Unruhe und Ungewißheit war. Meine anderen Freunde, wie zum Beispiel Verhaeren, Ellen Key, Bazalgette waren nicht ein Zehntel so klug, nicht ein Hundertstel so universal, so weltkennerisch wie er, aber sie standen sicher in sich selbst. Bei Rathenau spürte ich immer, daß er mit all seiner unermeßlichen Klugheit keinen Boden unter den Füßen hatte. Seine ganze Existenz war ein einziger Konflikt immer neuer Widersprüche. Er hatte alle denkbare Macht geerbt von seinem Vater und wollte doch nicht sein Erbe sein, er war Kaufmann und wollte sich als Künstler fühlen, er besaß Millionen und spielte mit sozialistischen Ideen, er empfand sich als Jude und kokettierte mit Christus. Er dachte international und vergötterte das Preußentum, er träumte von einer Volksdemokratie und war jedesmal hochgeehrt, von Kaiser Wilhelm empfangen und befragt zu werden, dessen Schwächen und Eitelkeiten er hellsichtig durchschaute, ohne darum der eigenen Eitelkeit Herr werden zu können. So war seine pausenlose Tätigkeit vielleicht nur ein Opiat, um eine innere Nervosität zu überspielen und die Einsamkeit zu ertöten, die um sein innerstes Leben lag. Erst in der verantwortlichen Stunde, als 1919 nach dem Zusammenbruch der deutschen Armeen ihm die schwerste Aufgabe der Geschichte zugeteilt wurde, den zerrütteten Staat aus dem Chaos wieder lebensfähig zu gestalten, wurden plötzlich die ungeheuren potentiellen Kräfte in ihm einheitliche Kraft. Und er schuf sich die Größe, die seinem Genie eingeboren war, durch den Einsatz seines Lebens an eine einzige Idee: Europa zu retten.
Stefan Zweig: Die Welt von Gestern, Über Europa hinaus

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