17 April 2013

Rodin

Schließlich führte der Meister mich zu einem Sockel, auf dem hinter feuchten Tüchern sein letztes Werk, ein Frauenporträt, verborgen war. Er löste mit seinen schweren, verfurchten Bauernhänden die Tücher ab und trat zurück. Ein „admirable!“ stieß ich unwillkürlich aus gepreßter Brust und schämte mich schon dieser Banalität. Aber mit der ruhigen Objektivität, in der kein Korn Eitelkeit zu finden gewesen wäre, murmelte er, sein eigenes Werk betrachtend, nur zustimmend: „N’est-ce pas?“ Dann zögerte er. „Nur da bei der Schulter … Einen Augenblick!“ Er warf die Hausjacke ab, zog den weißen Kittel an, nahm einen Spachtel zur Hand und glättete mit einem meisterlichen Strich an der Schulter die weiche, wie lebend atmende Frauenhaut. Wieder trat er zurück. „Und dann hier“, murmelte er. Wieder war mit einem winzigen Detail die Wirkung erhöht. Dann sprach er nicht mehr. Er trat vor und zurück, blickte aus einem Spiegel die Figur an, murrte und gab unverständliche Laute von sich, änderte, korrigierte. Sein Auge, bei Tisch freundlich zerstreut, zuckte jetzt von sonderbaren Lichtern, er schien größer und jünger geworden. Er arbeitete, arbeitete, arbeitete mit der ganzen Leidenschaft und Kraft seines mächtigen, schweren Körpers; jedesmal wenn er heftig vor- oder zurücktrat, krachte die Diele. Aber er hörte es nicht. Er bemerkte es nicht, daß hinter ihm lautlos, das Herz in der Kehle, ein junger Mann stand, selig, einem solchen einzigen Meister bei der Arbeit zusehen zu dürfen. Er hatte mich gänzlich vergessen. Ich war für ihn nicht da. Nur die Gestalt, das Werk war für ihn da und dahinter unsichtbar die Vision der absoluten Vollendung. Das ging eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, ich weiß nicht mehr, wie lange. Große Augenblicke sind immer jenseits der Zeit. Rodin war so vertieft, so versunken in seine Arbeit, daß kein Donner ihn erweckt hätte. Immer härter, fast zorniger wurden seine Bewegungen; eine Art Wildheit oder Trunkenheit war über ihn gekommen, er arbeitete rascher und rascher. Dann wurden die Hände zögernder. Sie schienen erkannt zu haben: es gab für sie nichts mehr zu tun. Einmal, zweimal, dreimal trat er zurück, ohne mehr zu ändern. Dann murmelte er etwas leise in den Bart, legte so zärtlich, wie man einen Shawl um die Schultern einer geliebten Frau legt, die Tücher um die Figur. Er atmete auf, tief und entspannt. Seine Gestalt schien wieder schwerer zu werden. Das Feuer war erstorben. Dann kam das Unfaßbare für mich, die große Lehre: er zog den Kittel aus, nahm wieder die Hausjacke auf und wandte sich zum Gehen. Er hatte mich total vergessen in dieser Stunde der äußersten Konzentration. Er wußte nicht mehr, daß ein junger Mensch, den er doch selbst in das Atelier geführt, um ihm seine Werkstatt zu zeigen, erschüttert hinter ihm gestanden hatte mit gepreßtem Atem, unbeweglich wie seine Statuen. Er trat zur Türe. Wie er sie abschließen wollte, entdeckte er mich und starrte mich fast böse an: wer war dieser junge fremde Mensch, der sich eingeschlichen hatte in sein Atelier? Aber im nächsten Augenblick erinnerte er sich und kam fast beschämt auf mich zu. „Pardon, Monsieur“, begann er. Aber ich ließ ihn nicht weitersprechen. Ich faßte nur dankbar seine Hand: am liebsten hätte ich sie geküßt. In dieser Stunde hatte ich das ewige Geheimnis aller großen Kunst, ja eigentlich jeder irdischen Leistung aufgetan gesehen: Konzentration, die Zusammenfassung aller Kräfte, aller Sinne, das Außer-sich-Sein, das Außerder-Welt-Sein jedes Künstlers. Ich hatte etwas gelernt für mein ganzes Leben.

Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Paris, die Stadt der ewigen Jugend

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