27 April 2013

Gustav und Mathilde

Der Bericht Gustav von Risachs


 Ich bin im Dorfe Dallkreuz in dem sogenannten Hinterwalde geboren worden. […]
Als ich ein Knabe von zehn Jahren war, kannte ich alle Bäume und Gesträuche der Gegend und konnte sie nennen, ich kannte die vorzüglichsten Pflanzen und Gesteine, ich kannte alle Wege, wußte, wohin sie führten, und war in allen benachbarten Orten schon gewesen, die sie berühren. Ich kannte alle Hunde von Dallkreuz, wußte, welche Farben sie hatten, wie sie hießen, und wem sie gehörten. Ich liebte die Wiesen, die Felder, die Gesträuche, unser Haus außerordentlich, und unsere Kirchenglocken deuchten mir das Lieblichste und Anmutigste, was es nur auf Erden geben kann. […]
Unser Lehrer […] lehrte fragend.  […]
Zur Zeit des Todes des Vaters war ich zu jung gewesen, um ihn recht empfinden zu können. Obwohl der erste Schmerz unsäglich heiß gewesen war und ich geglaubt hatte, ihn nicht überleben zu können, so verminderte er sich wider meinen Willen von Tag zu Tag immer mehr, bis er zu einem Schatten wurde und ich mir nach Verlauf von einigen Jahren keine Vorstellung mehr von dem Vater machen konnte. Jetzt war es anders. Ich hatte mich daran gewöhnt, die Mutter als das Bild der größten häuslichen Reinheit zu betrachten, als das Bild des Duldens, der Sanftmut, des Ordnens und des Bestehens. So war sie ein Mittelpunkt für unser Denken geworden, […] Ich ließ mir nach einer Zeit das frische Grab der Mutter zeigen, weinte dort meine Seele aus, und betete für sie zu dem Herrn des[736] Himmels.  […]
In der Zeit, als Risach sich von der Gesellschaft zurückgezogen hatte und sich ganz seinen Studien widmete, wurde er gefragt, ob er der Erzieher des siebenjährigen Jungen einer wohlhabenden Familie werden wolle.
In der Verödung, in der ich mich befand, hatte die Aussicht auf ein Familienleben eine Art Anziehung für mich, und ich nahm den Antrag unter der Bedingung an, daß ich die Freiheit haben müsse, in jedem Augenblicke das Verhältnis wieder auflösen zu können. Die Bedingung wurde zugestanden, ich packte meine Sachen, und nach drei Tagen fuhr ich in der Richtung nach dem Landsitze der Familie ab. Dieser Sitz war ein angenehmes Haus in der Nähe großer Meiereien, die einem Grafen gehörten. Das Haus war beinahe zwei Tagereisen von der Stadt entfernt. Es war sehr geräumig, hatte eine sonnige Lage, liebliche Rasenplätze um sich, und hing mit einem großen Garten zusammen, in dem teils Gemüse, teils Obst, teils Blumen gezogen wurden. Der Besitzer des Hauses war ein Mann, der von reichlichen Renten lebte, sonst aber kein Amt noch irgend eine andere Beschäftigung zum Gelderwerb hatte.  […]

Die Frau stand auf und ging mir entgegen. Sie war sehr schön, noch ziemlich jung, und was mir am meisten auffiel, war, daß sie sehr schöne braune Haare, aber tief dunkle, große schwarze Augen hatte. Ich erschrak ein wenig, wußte aber nicht warum. Mit einer Freundlichkeit, die mein Zutrauen gewann, hieß sie mich einen Platz nehmen, und als ich dies getan hatte, nannte sie meinen Vor- und Familiennamen, hieß mich beinahe herzlich willkommen, und sagte, daß sie sich schon sehr gesehnt habe, mich unter ihrem Dache zu sehen.
›Alfred‹, rief sie, ›komm und küsse diesem Herrn die Hand.‹
Der Knabe, welcher bisher neben ihr gespielt hatte, stand auf, trat vor mich, küßte mir die Hand und sagte: ›Sei willkommen!‹ […]“

Die Frau berichtet:
„Meine Freundin Adele, die Gattin des Kaufherrn, dessen Warengewölbe dem großen Tore des Erzdomes gegenüber ist, hat mir von Euch erzählt. Wenn Ihr es für gut findet, den Knaben auch in irgend etwas zu unterrichten, so ist es Eurem Ermessen überlassen, wie und wie weit Ihr es tut.‹
Ich konnte auf diese Worte nichts antworten; ich war sehr errötet. […]
Der Knabe hatte während der ganzen Zeit meine Hand gehalten, war neben mir stehen geblieben, und hatte öfter zu meinem Angesichte heraufgeschaut. […]

Obwohl Risach nur für die Erziehung des Sohnes Alfred zuständig ist, wird er mit der Zeit auch aufmerksamer für Mathilde:
Als kaum die ersten Frühlingslüfte kamen, gingen wir wieder nach Heinbach. Mathilde, Alfred und ich saßen[755] in einem Wagen, der Vater und die Mutter in einem anderen. Alfred wollte nicht von mir getrennt sein, er wollte neben mir sitzen. Man mußte es daher so einrichten, daß Mathilde uns gegenüber saß. Sie war, als ich das Haus betreten hatte, noch nicht völlig vierzehn Jahre alt. Jetzt ging sie gegen fünfzehn.  […]
Alfred hielt mich größtenteils an der Hand, oder suchte sich überhaupt irgendwie an mich anzuhängen, sei es selbst mit einem Hakenstäbchen, das er sich von irgend einem Busche geschnitten hatte. Mathilde wandelte neben uns. Ich hatte nur den Auftrag, zu sorgen, daß sie keine heftigen Bewegungen mache, welche an sich für ein Mädchen nicht anständig sind und ihrer Gesundheit schaden könnten, und daß sie nicht in sumpfige oder unreine Gegenden komme und sich ihre[756] Schuhe oder ihre Kleider beschmutze; denn man hielt sie sehr rein.  […]
Wenn nach einem klaren Morgen, an dem wir noch die Erde und die Dächer weiß gesehen hatten, ein heiterer Tag kam und die Wege trocken waren, ging Mathilde mit uns, und wir führten sie auf Anhöhen oder Felder, wo wir kurz vorher die schönsten[758] Triller der Lerchen gehört hatten. Diese Sänger waren die einzigen, die mit uns schon die Gegend bevölkerten. […]
Mathilde wurde immer herrlicher, sie war zuletzt feiner als die Rosen an dem Gartenhause, zu denen wir sehr gerne gingen. Ich liebte beide Kinder unsäglich. […] Mathilde nahm ich nicht nur sehr gerne, sondern viel lieber als früher zu unsern Spaziergängen mit. Ich sprach mit ihr, ich erzählte ihr, ich zeigte ihr Gegenstände, die an unserm Wege waren, hörte ihre Fragen, ihre Erzählungen, und beantwortete sie. Bei rauhen Wegen oder wo Nässe zu befürchten war, zeigte ich ihr die besseren Stellen oder die Richtungen, auf denen man trockenen Fußes gehen konnte.  […] Wenn fremde Kinder zugegen waren, wenn Spiele veranstaltet waren, und alle auf dem heiteren Rasen hüpften und sprangen, stand Mathilde seitwärts und sah teilnahmlos zu.  […]

Sie fragte mich, ob ich denn nicht gerne in die Stadt gehe.
Ich sagte, daß ich nicht gerne gehe, daß es hier gar so schön sei, und daß es mir vorkomme, in der Stadt werde alles anders werden.
›Es ist wirklich sehr schön‹, antwortete sie, ›hier sind wir alle viel mehr beisammen, in der Stadt kommen Fremde dazwischen, man wird getrennt, und es ist, als wäre man in eine andere Ortschaft gereist. Es ist doch das größte Glück, jemanden recht zu lieben.‹
›Ich habe keinen Vater, keine Mutter und keine Geschwister mehr‹, erwiderte ich, ›und ich weiß daher nicht, wie es ist.‹
[762] ›Man liebt den Vater, die Mutter, die Geschwister‹, sagte sie, ›und andere Leute.‹
›Mathilde, liebst du denn auch mich?‹ erwiderte ich.
Ich hatte sie nie du genannt, ich wußte auch nicht, wie mir die Worte in den Mund kamen, es war, als wären sie mir durch eine fremde Macht hineingelegt worden. Kaum hatte ich sie gesagt, so rief sie: ›Gustav, Gustav‹, so außerordentlich, wie es gar nicht auszusprechen ist.
Mir brachen die heftigsten Tränen hervor.
Da flog sie auf mich zu, drückte die sanften Lippen auf meinen Mund und schlang die jungen Arme um meinen Nacken. Ich umfaßte sie auch und drückte die schlanke Gestalt so heftig an mich, daß ich meinte, sie nicht loslassen zu können. Sie zitterte in meinen Armen und seufzte.
Von jetzt an war mir in der ganzen Welt nichts teurer als dieses süße Kind.
Als wir uns losgelassen hatten, als sie vor mir stand, erglühend in unsäglicher Scham, gestreift von den Lichtern und Schatten des Weinlaubes, und als sich, da sie den süßen Atem zog, ihr Busen hob und senkte: war ich wie bezaubert, kein Kind stand mehr vor mir, sondern eine vollendete Jungfrau, der ich Ehrfurcht schuldig war. Ich fühlte mich beklommen.
Nach einer Weile sagte ich: ›Teure, teure Mathilde.‹
›Mein teurer, teurer Gustav‹, antwortete sie.
Ich reichte ihr die Hand und sagte: ›Auf immer, Mathilde.‹
›Auf ewig‹, antwortete sie, indem sie meine Hand faßte. […]
Ich hatte früher nie irgend ein Mädchen bei der Hand gefaßt als meine Schwester, ich hatte nie mit einem ein liebes Wort geredet oder einen freundlichen Blick gewechselt. Dieses Gefühl war jetzt wie ein Sturm wind über mich gekommen. […]
Ich ging wieder zu unserem Wohnhause zurück, und ging auf den Platz, von dem ich Mathildens Fenster sehen mußte. Sie beugte sich aus einem heraus und suchte mit den Augen. Als sie mich erblickt hatte, fuhr sie zurück. Auch mir war es gewesen da ich die holde Gestalt sah, als hatte mich ein Wetterstrahl getroffen. Ich ging wieder in die Büsche. Es waren Flieder in jener Gegend, die eine Strecke Rasen säumten und in ihrer Mitte eine Bank hatten, um im Schatten ruhen zu können. Zu dieser Bank ging ich immer wieder zurück.  […]
Es war zauberhaft, ein süßes Geheimnis[765] mit einander zu haben, sich seiner bewußt zu sein und es als Glut im Herzen zu hegen.  […]

Sie stand wie eine feurige Flamme da, und mein ganzes Wesen zitterte. Im vorigen Sommer hatte ich ihr oft die Hand gereicht, um ihr über eine schwierige Stelle zu helfen, um sie auf einem schwanken Stege zu stützen, oder sie auf schmalem Pfade zu geleiten. Jetzt fürchteten wir, uns die Hände zu geben, und die Berührung war von der größten Wirkung. […]
Dann setzte sie sich zu dem Klaviere und rief einzelne Töne aus den Saiten. […]
Es begann nun eine merkwürdige Zeit. In meinem und Mathildens Leben war ein Wendepunkt eingetreten. Wir hatten uns nicht verabredet, daß wir unsere Gefühle geheim halten wollen; dennoch hielten wir sie geheim, wir hielten sie geheim vor dem Vater, vor der Mutter, vor Alfred und vor allen Menschen. Nur in Zeichen, die sich von selber gaben, und in Worten, die nur uns verständlich waren, und die wie von selber auf die Lippen kamen, machten wir sie uns gegenseitig kund. […]
Wenn wir durch den Garten gingen, wenn Alfred um einen Busch bog, wenn er in dem Gange des Weinlaubes vor uns lief, wenn er früher aus dem Haselgebüsche war als wir, wenn er uns in dem Innern des Gartenhauses allein ließ, konnten wir uns mit den Fingern berühren, konnten uns die Hand reichen, oder konnten gar Herz an Herz fliegen, uns einen Augenblick halten, die heißen Lippen an einander drücken und die Worte stammeln: ›Mathilde, dein auf immer und auf ewig, nur dein allein, und nur dein, nur dein allein!‹
›O ewig dein, ewig, ewig, Gustav, dein, nur dein, und nur dein allein.‹
Diese Augenblicke waren die allerglückseligsten. […]

Dennoch war allgemach etwas da, das wie ein Übel in mein Glück bohrte. Es nagte der Gedanke an mir, daß wir die Eltern Mathildens täuschen. Sie ahnten nicht, was bestand, und wir sagten es ihnen nicht. Immer drückender wurde mir das Gefühl, und immer ängstender lastete es auf meiner Seele. Es war wie das Unheil der Alten, welches immer größer wird, wenn man es berührt.
Eines Tages, da eben die Rosenblüte war, sagte ich zu Mathilden, ich wolle zur Mutter gehen, ihr alles entdecken und sie um ihr gütiges Vorwort bei dem Vater bitten. Mathilde antwortete, das werde gut sein, sie wünsche es, und unser Glück müsse dadurch sich erst recht klären und befestigen.
Ich ging nun zur Mutter Mathildens, und sagte ihr alles mit schlichten Worten, aber mit zagender Stimme. […]

Die Mutter spricht mit Risach und erklärt ihm ausführlich, Mathilde sei noch zu jung für eine Bindung und er müsse auch erst eine Lebensstellung erarbeiten.
Er anwortet:
„Wir haben uns nicht vorzustellen vermocht, daß das, was für uns ein so hohes Glück war, für die Eltern ein Unheil sein wird. Ihr habt es mir mit Eurer tiefsten Überzeugung gesagt. Selbst wenn Ihr irrtet, selbst wenn unsere Bitten Euch zu erweichen vermöchten, so würde Euer freudiger Wille, Euer Herz und Euer Segen mit dem Bunde nicht sein, und ein Bund ohne der Freude der Eltern, ein Bund mit der Trauer von Vater und Mutter müßte auch ein Bund der Trauer sein, er wäre ein ewiger Stachel, und Euer ernstes oder bekümmertes Antlitz würde ein unvertilgbarer Vorwurf sein. Darum ist der Bund, und wäre er der berechtigteste, aus, er ist aus auf so lange, als die Eltern ihm nicht beistimmen können. Eure ungehorsame Tochter würde ich nicht so unaussprechlich lieben können, wie ich sie jetzt liebe, Eure gehorsame werde ich ehren und mit tiefster Seele, wie fern ich auch sein mag, lieben, so lange ich lebe. Wir werden daher das Band losen, wie schmerzhaft die Lösung auch sein mag. – O Mutter, Mutter! – laßt Euch diesen Namen zum ersten und vielleicht auch zum letzten Male geben – der Schmerz ist so groß, daß ihn keine Zunge aussprechen kann? und daß ich mir seine Größe nie vorzustellen vermocht habe. […] Ich werde morgen Mathilden sagen, […] daß sie ihrem Vater und ihrer Mutter gehorchen müsse. […]

Am nächsten Tag geht Risach zu Mathilde:
Ich ging auf die Gründe, welche die Mutter angegeben hatte, nicht ein, und legte Mathilden nur dar, daß sie zu gehorchen habe, und daß unter Ungehorsam unser Bund nicht bestehen könne.
Als ich geendet hatte, war sie im höchsten Maße erstaunt.
›Ich bitte dich, wiederhole mir nur in kurzem, was du gesprochen hast, und was wir tun sollen‹, sagte sie.
›Du mußt den Willen deiner Eltern tun und das Band mit mir lösen‹, antwortete ich.
›Und das schlägst du vor, und das hast du der Mutter versprochen, bei mir auszuwirken?‹, fragte sie.
›Mathilde, nicht auszuwirken‹, antwortete ich, ›wir müssen gehorchen; denn der Wille der Eltern ist das Gesetz der Kinder.‹
Ich muß gehorchen‹, rief sie, indem sie von der Bank aufsprang, ›und ich werde auch gehorchen; aber du mußt nicht gehorchen, deine Eltern sind sie nicht. Du mußtest nicht hieher kommen und den Auftrag übernehmen, mit mir das Band der Liebe, das wir geschlossen hatten, aufzulösen.[782] Du mußtest sagen: ›Frau, Eure Tochter wird Euch gehorsam sein, sagt Ihr nur Euren Willen; aber ich bin nicht verbunden, Eure Vorschriften zu befolgen, ich werde Euer Kind lieben, so lange ein Blutstropfen in mir ist, ich werde mit aller Kraft streben, einst in ihren Besitz zu gelangen. Und da sie Euch gehorsam ist, so wird sie mit mir nicht mehr sprechen, sie wird mich nicht mehr ansehen, ich werde weit von hier fortgehen; aber lieben werde ich sie doch, so lange dieses Leben währt und das künftige, ich werde nie einer andern ein Teilchen von Neigung schenken, und werde nie von ihr lassen.‹ ›So hättest du sprechen sollen, und wenn du von unserm Schlosse fortgegangen wärest, so hätte ich gewußt, daß du so gesprochen hast, und tausend Millionen Ketten hätten mich nicht von dir gerissen, und jubelnd hätte ich einst in Erfüllung gebracht, was dir dieses stürmische Herz gegeben. Du hast den Bund aufgelöste, ehe du mit mir hieher gegangen bist, ehe du mich zu dieser Bank geführt hast, die ich dir gutwillig folgte, weil ich nicht wußte, was du getan hast. Wenn jetzt auch der Vater und die Mutter kämen und sagten: ›Nehmet euch, besitzet euch in Ewigkeit‹, so wäre doch alles aus. Du hast die Treue gebrochen, die ich fester gewähnt habe als die Säulen der Welt und die Sterne an dem Baue des Himmels.‹
›Mathilde‹, sagte ich, ›was ich jetzt tue, ist unendlich schwerer, als was du verlangtest.‹
›Schwer oder nicht schwer, von dem ist hier nicht die Rede‹, antwortete sie, ›von dem, was sein muß, ist die Rede, von dem, dessen Gegenteil ich für unmöglich hielt. Gustav, Gustav, Gustav, wie konntest du das tun?‹
Sie ging einige Schritte von mir weg, kniete, gegen die Rosen, die an dem Gartenhause blühten, gewendet, in das Gras nieder, schlug die beiden Hände zusammen und rief unter strömenden Tränen: ›Hört es, ihr tausend Blumen,[783] die herabschauten, als er diese Lippen küßte, höre es du, Weinlaub, das den flüsternden Schwur der ewigen Treue vernommen hat, ich habe ihn geliebt, wie es mit keiner Zunge, in keiner Sprache ausgesprochen werden kann. Dieses Herz ist jung an Jahren, aber es ist reich an Großmut; alles, was in ihm lebte, habe ich dem Geliebten hingegeben, es war kein Gedanke in mir als er, das ganze künftige Leben, das noch viele Jahre umfassen konnte, hätte ich wie einen Hauch für ihn hingeopfert, jeden Tropfen Blut hätte ich langsam aus den Adern fließen und jede Faser aus dem Leibe ziehen lassen – und ich hätte gejauchzt dazu. Ich habe gemeint, daß er das weiß, weil ich gemeint habe, daß er es auch tun würde. Und nun führt er mich heraus, um mir zu sagen, was er sagte. Wären was immer für Schmerzen von außen gekommen, was immer für Kämpfe, Anstrengungen und Erduldungen; ich hätte sie ertragen, aber nun er – er –! Er macht es unmöglich für alle Zeiten, daß ich ihm noch angehören kann, weil er den Zauber zerstört hat, der alles band, den Zauber, der ein unzerreißbares Aneinanderhalten in die Jahre der Zukunft und in die Ewigkeit malte.‹
Ich ging zu ihr hinzu, um sie empor zu heben. Ich ergriff ihre Hand. Ihre Hand war wie Glut. Sie stand auf, entzog mir die Hand, und ging gegen das Gartenhaus, an dem die Rosen blühten.“

Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Dritter Band, Der Rückblick (S.732 - 782)

Wenn man bedenkt, mit wie gesetzten Worten das junge Liebespaar dieses Romans, Heinrich und Nathalie, nach dem Geständnis ihrer gegenseitigen Liebe miteinander umgehen, muss dieser Bericht über das - gescheiterte - Liebesverhältnis der vorhergehenden Generation überraschen. 
Natalie und Heinrich sagten nach ihrer Liebeserklärung:
»Und nun hat sich alles recht gelöset.« »Es hat sich wohl gelöset, meine liebe, liebe Natalie.« »Mein teurer Freund!« Wir reichten uns bei diesen Worten die Hände wieder und saßen schweigend da.
Am nächsten Morgen nach der Liebeserklärung kommen Nathalie und Heinrich dazu, unbeachtet von den anderen ihre Gefühle auszutauschen. Da sagen sie Folgendes:

»Es ist recht schön«, sprach sie, »daß wir gleichzeitig einen Weg gehen, den ich heute schon einmal gehen wollte, und den ich jetzt wirklich gehe.«
»Wie habt ihr denn die Nacht zugebracht, Natalie?« fragte ich. »Ich habe sehr lange den Schlummer nicht gefunden«, antwortete sie, »dann kam er doch in sehr leichter, flüchtiger Gestalt. Ich erwachte bald und stand auf. Am Morgen wollte ich auf diesen Weg heraus gehen und ihn bis über die Felderanhöhe fortsetzen; aber ich hatte ein Kleid angezogen, welches zu einem Gange außer dem Hause nicht tauglich war. Ich mußte mich daher später umkleiden und ging jetzt heraus, um die Morgenluft zu genießen.« [...]
Wir gingen langsam auf dem feinen Sandwege dahin, an einem Baumstamme nach dem andern vorüber, und die Schatten, welche die Bäume auf den Weg warfen, und die Lichter, welche die Sonne dazwischen legte, wichen hinter uns zurück. Anfangs sprachen wir gar nicht, dann aber sagte Natalie: »Und habt ihr die Nacht in Ruhe und Wohlsein zugebracht?« »Ich habe sehr wenig Schlaf gefunden; aber ich habe es nicht unangenehm empfunden«, entgegnete ich, »die Fenster meiner Wohnung, welche mir eure Mutter so freundlich hatte einrichten lassen, gehen in das Freie, ein großer Teil des Sternenhimmels sah zu mir herein. Ich habe sehr lange die Sterne betrachtet. Am Morgen stand ich frühe auf, und da ich glaubte, daß ich niemand in dem Schlosse mehr stören würde, ging ich in das Freie, um die milde Luft zu genießen.«
»Es ist ein eigenes erquickendes Labsal, die reine Luft des heiteren Sommers zu atmen«, erwiderte sie. »Es ist die erhebendste Nahrung, die uns der Himmel gegeben hat«, antwortete ich.
Adalbert Stifter: Der Nachsommer. Dritter Band, Die Entfaltung, S.588 - 590

Vom viktorianischen Standpunkt aus, den Stefan Zweig so eindrücklich geschildert hat, müsste Stifter den Gefühlsüberschwang Mathildes eigentlich kritisch sehen und das vorsichtige die-Form-wahren von Nathalie und Heinrich begrüßen. Dazu passt ja auch seine Vorrede zu den Bunten Steinen
Aber seine Darstellung der Geschichte von Mathilde und Gustav lässt doch sehr viel Verständnis für die Liebenden erkennen.
Sollte Stifter etwa an Mathildes Enttäuschung über Gustavs Verhalten ihre Lebensfremdheit kritisieren wollen und diese ihrer falschen Erziehung zuschreiben? 
Andererseits halten sich Mathildes Eltern gerade nicht an den viktorianischen Kanon, dass ein junges Mädchen immer überwacht sein muss...

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