10 März 2013

Zwischen Pflicht und Erfüllung des Lebenswunsches

Apollonius war müde vom Wachen und vom Kampfe, den die gefährliche Nähe des geliebten Weibes und das Wissen um des Bruder Betrug und empörenden Undank in ihm entzündet. Neben diesem war erst noch ein anderer Kampf aufgeglommen. Der Vater schien nicht an die böse [578] Absicht des Bruders zu glauben. Vor dem Gedanken, den Arm der Obrigkeit zu seinem Schutze aufzurufen, schauderte er zurück. Die Schmach für die Familie, wenn des Bruders Tat bekannt wurde, mußte den Vater töten. Und vielleicht war auch des Bruders Seele noch zu retten, wenn es gelang, ihn zu überzeugen, daß er geirrt. Aber wie? Wenn er – ihn versicherte, ihm schwur, daß er in der Frau nur die Schwester sehe? Vor einem halben Jahre noch hätte er das beschwören können; heute durfte er es nicht mehr, heute war es Meineid. Er konnte, wenn der Bruder den entsetzlichen Plan auf sein Leben nicht aufgab, die Ausführung desselben erschweren, aber nicht unmöglich machen. In dem Zustande, in welchem Apollonius sich jetzt befand, konnte ihm der Tod eher erwünscht sein als schrecklich; dann hatte aller Kampf, alle Gewissenspein, alle Sorge ein Ende; aber was sollte aus dem Vater, was aus ihr und den Kindern werden? Und hatte er sich nicht das Wort gegeben, sie vor Schande und Not zu bewahren? Diesen neuen Kampf beendete die Mitteilung des Vaters, Fritz wolle nach Amerika. Aber sie machte den alten Kampf nur schwerer, indem sie dem Feinde neue Kräfte gab. Er wußte freilich, daß er entschlossen war, die Wünsche, die er verdammen mußte, nicht zur Tat werden zu lassen. Aber die Wünsche selbst! Wenn kein äußeres Hindernis mehr ihrer Erfüllung im Wege stand, mußte ihre Gewalt da nicht wachsen? Die Gewissensvorwürfe mit ihnen? Und die Entfernung von dem Orte, wo sie in der täglichen Nähe einen unerschöpflichen Erneuerungsquell hatten, machte wiederum die Erfüllung des Wortes, das er sich gegeben, der Pflicht, die ihm ohne das gegebene Wort oblag, unmöglich. Er war heftig aufgeregt und bedurfte Ruhe. Diesen Vormittag noch mußte er die Umkränzung des Turmdaches mit der Blechzier vollenden und Fahrzeug, Flaschenzug, [579] Ring und Leiter wieder herabnehmen. Sein Tritt mußte fest, sein Auge klar sein. Für die einzige Stunde, bis der Arbeitstag begann, wollte er sich nicht erst ausziehen und zu Bett legen.
Otto Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S.577-579

Keine Kommentare: