24 Februar 2013

Zwischen Himmel und Erde


"Hoch am Himmel und tief auf der Erde, überall Gottesfrieden und süß aufgelöstes Hinsehnen nach Ruhe. Nur zwischen Himmel und Erde die beiden Menschen auf dem Kirchdach zu Sankt Georg fühlen nicht seine Flügel. Nur über sie vermag er nichts. In dem einen brennt der Wahnsinn überreizten Ehrgefühls, in dem andern alle Flammen, alle Qualen der Hölle. »Wo ist dein Bruder?« drang es endlich zwischen den Zähnen des einen hervor. »Ich weiß nicht. Wie soll ich's wissen?« bäumt sich im andern der Trotz. »Du weißt nicht?« Der alte Herr flüsterte nur, aber jedes seiner Worte schlug wie Donner in die Seele des Sohnes. »Ich will dir's sagen. Drüben in Brambach liegt er tot. Das Seil ist über ihm zerrissen, und du hast's mit Beilstichen zerschnitten. Der Nachbar hat dich in den Schuppen schleichen sehn. Du hast vor deiner Frau gedroht, du willst es tun. Die ganze Stadt weiß es; eben tragen sie's in die Gerichte. Der erste, der nun die Treppe heraufkommt, ist der Häscher, der dich vor den Richter führt.« – Fritz Nettenmair brach zusammen; die Rüstung knackte unter ihm. Der Alte horchte auf. Fiel der Elende am Rande des Gerüstes zusammen, so stürzte er hinab in die Tiefe, und alles war vorüber! Alles, was sein mußte, war getan! Eine Lerche stieg aus einem nahen Garten in die Höhe und streute ihr lustiges Tirill über Bäume und Häuser hin. [...]
»Ich will sehn«, erwiderte der Alte mit pfeifendem Flüstern, »ob ich's tun muß oder ob du's tun wirst, was getan sein muß. Und getan muß es sein. Noch weiß niemand etwas, was zur Untersuchung führen kann vor den Gerichten, als ich, deine Frau und der Valentin. Für mich kann ich stehen, aber nicht für die, daß sie nicht verraten, was sie wissen. Wenn du jetzt herabfällst von der Rüstung, so daß die Leute meinen können, du bist ohne Willen verunglückt, dann ist die größte Schande verhütet. Der Schieferdecker, der verunglückt, steht vor der Welt als ein ehrlicher Toter, so ehrlich als der Soldat, der auf dem Schlachtfeld gestorben ist. Du bist solchen Tod nicht wert, Bankeruttierer. Dich sollte der Henker auf einer Kuhhaut hinausschleifen auf den Richtplatz, Schandbube, der du den Bruder umgebracht hast und hast vergiften wollen das zukünftige Leben der unschuldigen Kinder und mein vergangenes, das voll Ehre gewesen ist. Du hast Schande genug gebracht über dein Haus, du sollst nicht noch mehr Schande darüber bringen. Von mir sollen sie nicht sagen, daß mein Sohn, und von meinen Enkeln nicht, daß ihr Vater auf dem Blutgerüst oder im Zuchthaus gestorben ist. Du betest jetzt ein Vaterunser, wenn du noch beten kannst. Dann wendest du dich, als wolltest du wieder zu deiner Arbeit gehen, und trittst mit dem rechten Fuß über die Rüstung. Sag' ich, der Schreck über seines Bruders Unglück hat ihn schwindeln gemacht: mir glauben's die Gerichte und die Stadt. Das ist's, was ein Leben einbringt, das anders gewesen ist als deins. Tust du's nicht gutwillig, so stürz' ich mit dir hinab, und du hast auch mich auf deinem Gewissen. Die Leute wissen, ich leide an den Augen; ich bin gestrauchelt und hab' mich an dir anhalten wollen und hab' dich mitgerissen. Meines Lebens ist nach dem, was ich heut erfahren hab', keine Dauer mehr und kein Wert; ich bin am Ende, aber die Kinder fangen erst an. Und auf den Kindern soll keine Schande haften, so wahr ich Nettenmair heiße. Nun besinn' dich, wie es werden soll. Ich zähle fünfzehn Paar Schläge an dem Perpendikel dort!« [...]
Dazwischen sah er schaudernd, was ihn erwartete, wenn er floh und die Gerichte faßten ihn doch. Es war besser, er starb jetzt. Aber noch Schrecklicheres erwartete ihn über dem Tode drüben. Er sann zurück und lebte sein ganzes Leben im Augenblicke noch einmal durch, um zu finden, der ewige Richter konnte ihm verzeihen. Seine Gedanken verwirrten sich; er war bald dort, bald da und hatte vergessen warum. Er sah die Nebel sich ballen, in denen der Gesell verschwunden war, zugleich sah er zu den hellen Fenstern des Roten Adlers auf, es klang: »Da kommt er ja! Nun wird's famos!« Er stand an den Straßenecken und zählte, und die Bretter wollten unter Apollonius nicht brechen, die Stricke über ihm nicht reißen; er stand wieder vor der Frau und sagte, über des sterbenden Ännchens Bett gebeugt: »Weißt du, warum du erschrickst?« und holte aus zu dem unseligen Schlage! Selbst daß er vor dem Vater dalag und hin und her sann in gräßlich angstvoller Hast, kam ihm vorüberfliehend wie in einem Fiebertraum. Dann war's ihm, als käme er zu sich und unendliche Zeit sei vergangen zwischen dem Augenblick, wo der Vater die Perpendikelschläge zu zählen begonnen, und jetzt. Es müsse ja alles gut sein. Er müsse sich nur besinnen, ob er über den Vater hinweggeflohen oder ob er sich angehalten, als ihn der Vater mit hinunterreißen wollte. Aber da lag er noch, dort saß der Vater noch. Er hörte ihn »neun« zählen und dann schweigen. Die Besinnung verließ ihn völlig."
Otto Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S. 549-543

Diese Begegnung der beiden Dachdecker ist nicht die einzige Szene in dieser Erzählung, in der es auf dem Kirchendach "zwischen Himmel und Erde" um Tod und Leben geht. 
Dabei fängt sie ganz undramatisch an:]
Das Gärtchen liegt zwischen dem Wohnhause und dem Schieferschuppen; wer von dem einen zum andern geht, muß daran vorbei.  [...] Das Wohnhaus, das zu dem Gärtchen gehört, sieht nicht nach allen Seiten so geschmückt aus als nach der Hauptstraße hin. Hier sticht eine blaß rosenfarbene Tünche nicht zu grell von den grünen Fensterladen und dem blauen Schieferdache ab; nach dem Gäßchen zu die Wetterseite des Hauses erscheint von Kopf zu Fuß mit Schiefer geharnischt;  [...]
Weiter geht es mit einem Dachdecker in blauem Rock, der von allen Bürgern geachtet wird und doch:
Nicht immer wohnte die Sonntagsruhe hier, die jetzt selbst über die angestrengteste Geschäftigkeit der Bewohner des Hauses mit dem Gärtchen ihre Schwingen breitet. Es ging eine Zeit darüber hin, wo bitterer Schmerz über gestohlenes Glück, wilde Wünsche seine Bewohner entzweiten, wo selbst drohender Mord seinen Schatten vor sich her warf in das Haus, wo Verzweiflung über selbstgeschaffenes Elend händeringend in stiller Nacht an der Hintertür die Treppe herauf und über die Emporlaube und wieder hinunter den Gang zwischen Gärtchen und Stallraum bis zum Schuppen und ruhelos wieder vor und wieder hinter schlich. (S.387-392)

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