03 Februar 2013

Mormonen um 1850

" [...] Mormonen, zur Auslug. Der Thürhüter trägt in seinem Gürtel zwei Revolver. Hier wohnen etwa funfzehn von Brigham's dreißig Weibern. Die Salzseeheiligen sind gegen uns Heiden (gentiles) äußerst gastfreundlich und tolerant und haben uns in Beziehung auf die von uns schon durchzogenen Länderstrecken, wie die Länder jenseit der Sierra Nevada, mit sehr vielen Nachrichten versehen, welche für unser Unternehmen von Wichtigkeit sind. [...]
Dort hat er, bei einem Glase selbstgebauten Capweins, der hier vortrefflich gedeiht, mich in die Tiefen der Mormonenmetaphysik eingeführt. Höre, ob Du nicht wohlbekannte Anklänge an Altes und Neues findest.

»Der Menschengeist ist nicht geschaffen«, lehrt er, »er war von Ewigkeit zu Ewigkeit ein Individuum in Gott. Jedes dieser Geisterindividuen hat die Macht, auf die Erde hinabzusteigen und durch Annahme eines Leibes sich größere Herrlichkeit zu erwerben, sich mit der Natur zu vergatten. Der Geist durchdringt, belebt, vergeistigt die Materie; der Tod zerstört ihn nicht, sondern von ihm scheidet der sterbliche Leib, wenn die Gesetze der Natur es so bestimmen, das Ich aber kehrt zu Gott zurück und sucht sich einen neuen Leib. »Entspricht ein vom Himmel gestiegener Geist nicht seiner göttlichen Bestimmung und Lebensaufgabe, besteht er in der Prüfungszeit nicht, verscherzt er vielmehr sein Erbe durch üble Aufführung, so wird ihm nach dem Ableben dieses Leibes ein geringerer Leibestempel angewiesen. Geht der Geist auch dann noch nicht in sich, erinnert er sich nicht seines göttlichen Ursprungs, so wird er immer mehr in ein niedriges Dasein, aber nur im Gebiete der menschlichen Gattung, zurückgeführt, bis er sich bessert und Grad um Grad wieder emporwächst zu der Herrlichkeit der Kinder Gottes.« Nun, Bruno, schmeckt das nicht, wenn auch verstümmelt, nach den Lehren, die im philosophischen Kränzchen oft besprochen und mit Lust ausgemalt wurden, die aus altersgrauen Systemen Indiens und pythagoräischer Geheimbünde sich bis zu uns lebendig erhalten haben wie tausendjährige Samenkörner in den Felsengräbern Aegyptens? Doch im Ernst, ist das nicht mindestens eine zehnmal vernünftigere Idee als die aus Altem und Neuem Testament zusammengesetzte von dem Staub zu Staube, Erde zu Erdewerden und Wiedergeborenwerden des nämlichen Staubes am Jüngsten Tage und dessen Auferstehen zu Fleisch und Herrlichkeit, die unsere protestantischen Pfaffen bei ihren Leichenceremonien in unserm Vaterlande vortragen?  [...]
Die Vielweiberei der Mormonen ist ein Stück Indianerbarbarei, allein es hat damit nicht so viel auf sich, als wir in Deutschland glauben, sie kann auch nicht so sehr entarten, wie im Orient, wo es jahrhundertelang vererbte Reichthümer und eine Menge Staatssinecuren gibt. Hier ist, wie man zu sagen pflegt, der Knüppel an den Hund gebunden; wer mehrere Frauen halten will, muß sehr reich sein, und wer von all seinem Einkommen den Zehnten contribuiren muß, der kann selten reich werden. [...]
Das Hauptgebrechen, an welchem der Mormonismus leidet, scheint mir zu sein, daß man die Frauen nicht als gleichberechtigt ansieht, ihnen eine andere Bedeutung als »Mutter zu sein in Israel«, d. h. als Mittel, aus dem Territorium möglichst bald einen Staat zu machen, nicht zuschreibt. Da man aber den Mädchen dieselbe gute Erziehung gibt wie den Knaben, so ist ein Zustand, der das ganze weibliche Geschlecht entwürdigt, auf die Dauer nicht aufrecht zu halten.  [...]
Am Tage vor dem Schulbesuche war im Hause Brigham's eine Geschichte vorgefallen, die mich lebhaft an eine in der Heimat erlebte Begebenheit erinnerte. In Göttingen war ich Augenzeuge, als der Professor der Theologie, Gieseler, in der Barfüßerstraße ein Kind, das in die Gosse gefallen war und schrie, als wenn es am Spieße steckte, emporhob und es tröstend fragte: »Wem gehörst du denn, mein Kind?« – Das Kind, etwa fünf Jahre alt, hörte sofort mit Weinen auf, sah den Mann groß an und sagte: »Kennst du mich denn nicht, Papa? ich bin ja deine Minna!« Der Theologe hatte mehr zu denken, als daß er alle seine vierundzwanzig Kinder hätte kennen sollen.
Zu Brigham gehen alle, die Rath bedürfen, Schlichtung von Streitigkeiten herbeiführen wollen, sich über dieses oder jenes zu beschweren haben. So kommt denn auch eine Frau um Abhülfe gegen die Ungerechtigkeit eines Kirchenältesten. Brigham thut, als ob er sie kenne, als er aber die Beschwerde zu Protokoll zu nehmen beginnt, ist er doch genöthigt zu sagen: »Wart' einmal, Schwester, ich habe deinen Namen vergessen!« »Meinen Namen?« erwidert sie unwillig, »ich bin ja deine Frau!« So war es; das sind die Folgen der Pluralität." [die bei den Mormonen damals gebräuchliche Redeweise für Ehen eines Mannes mit mehreren Frauen]
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 8. Buch, 12. Kapitel

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