03 Januar 2013

Protest der Göttinger Sieben

"Es war am 19. November, als ein ihm befreundeter junger Professor ihn im Museum beiseiterief, ihm etwas Geschriebenes in die Hand steckte und sagte: »Das Neueste, lesen Sie, aber nicht hier.« Bruno eilte nach Hause und las hier den Protest der Sieben, Dahlmann's, Albrecht's, Jakob und Wilhelm Grimm's, Ewald's, Gervinus' und Wilhelm Weber's. Der Protest durchschütterte jede Fiber seines Körpers, er war ihm kein Schriftstück, sondern eine That, wie er sie seit Wochen provocirt hatte, eine That, die sich anreihte dem Anschlage der Thesen Luther's an die Kirchthüren von Wittenberg. Diese That konnte nur durch möglichst weite und schnelle Verbreitung an Bedeutsamkeit gewinnen. Neben seinem Arbeitszimmer war die Wohnung seines Lieblingsvetters, des jungen Schulz aus Hannover, der sich ganz seiner politischen Richtung hingab und den er schon oft gebraucht hatte, nach seiner Angabe Correspondenzen zu schreiben, um seine Autorschaft durch andern Stil und andere Art zu maskiren. Der Schlüssel steckte freilich in der Stubenthür, die Stube aber war leer, ebenso war es in den Stuben seiner übrigen Zöglinge, die eine Treppe höher wohnten. Die Aufwärterin belehrte ihn, daß die jungen Herren unten im Gartensalon sein, um einen »Rappiermops« auszumachen. »Laßt für heute die Kindereien«, sagte er, »es ist ohnehin schon zu dunkel dazu. Ich brauche euere Hülfe. Georg, Oskar und Karl lassen den Gartensalon erleuchten und heizen und richten zwölf Plätze zum Schreiben ein, mit den nöthigen Schreibmaterialien. Ihr andern geht zu den nächsten Freunden und treibt sie hierher, in einer Viertelstunde müssen die Plätze besetzt sein, ich werde dictiren.« Die Anordnungen wurden auf das bereitwilligste befolgt und nach kurzer Zeit stand unser Freund in einem Kreise von zwölf ihm zum größten Theil unbekannten Persönlichkeiten. Nach einer halben Stunde waren zwölf Abschriften des Protestes vorhanden. »Die Herren werden ohne weiteres begreifen, um was es sich handelt; die schnellste Verbreitung und mindestens vierundzwanzig Stunden um Geheimhaltung. Ich ersuche Sie, die Procedur noch dreimal zu wiederholen, Schulz wird dictiren. Der Bediente ist schon nach der Fink und augenblicklich wird auch ›Stoff‹ erscheinen. »Außer diesen zwölf Exemplaren bedarf ich noch zweiundzwanzig, die in einer Stunde geschrieben sein müssen. Dann schreibt jeder für sich selbst ein Exemplar ab, treibt so viel Freunde zusammen, als er findet, und wiederholt die Procedur bis zur Ermüdung in der Nacht; die Abschriften werden in alle Theile Deutschlands geschickt, und wer im Auslande Bekanntschaft hat, sendet sie auch dahin!« »Bravo!« rief der Chor, und als nun auch der Bediente mit kasseler Bier eintrat, mußte Bruno erst mit auf das Wohl der Sieben anstoßen, auf sie, welche die Ehre der Universität gerettet hatten. Nun sendete Bruno die erhaltenen Abschriften an Detmold, Rumann, seinen Onkel Schulz in Hannover, an sämmtliche Zeitungen, mit denen er in Verbindung stand (und für alle existirte in Hannover ein obscurer Name, weil man dem Postgeheimnisse mistraute), auch soweit die Abschriften reichten, an andere renommirte Zeitungen, die er nur dem Namen nach kannte. Als er seine Briefe versiegelt und in den Gartensalon trat, um die schon fertigen zweiundzwanzig neu geschriebenen Exemplare in Empfang zu nehmen, mußte er erst mit den schreibeifrigen Studenten ein Pereat trinken; wem dasselbe galt, ist unschwer zu errathen. Unser junger Doctor ging mit seinem Vorrathe zunächst nach dem Literarischen Museum, dann nach dem Civilclub, schließlich nach der Krone, die Abschriften überall an Gesinnungsgenossen vertheilend, gegen das Versprechen, vierundzwanzig Stunden zu schweigen, jedoch auf die Art, wie er gethan, für schnellste und weiteste Verbreitung zu sorgen. So geschah es, ohne Wissen und Willen der Sieben, während Excellenz Arnswald noch hoffte, vertuschen zu können, daß Hunderte von Abschriften des Protestes durch Deutschland, ja in Europa verbreitet wurden. Grant und Baumgarten hatten sogar noch vor Postschluß das Actenstück an ihre Väter in Washington und Pittsburg geschickt. Die jüngere Generation, welche die Weltumwälzung von 1848 erlebt und den Krieg von 1866, ist gewohnt, auf die That eines solchen Protestes geringschätzend hinzublicken. Ja, der Glorienschein ist abgeblaßt, ein Fähnrich oder Hauptmann, der bei Königgrätz verwundet davonkam, glaubt sich ein Held gegen solches »Federvieh«, wie es an der Tafel des königlichen Vetters in Berlin Ernst August nannte, das es auch nach 1848 zu weiter nichts gebracht habe, als zu der Professoren-Kurfürstenschaft in Frankfurt. Allein ein zeitgenössischer Dichter, Literarhistoriker und preußischer Geschichtschreiber würdigte die That doch gerechter, indem er auf die sittlichen Momente hinwies: »Eid, Meineid, Treue, Treubruch, Ehrlichkeit, Verrath, das waren keine politischen Spitzfindigkeiten, das waren sittliche Conflicte, deren Bedeutung jedermann erkannte. Es handelte sich darum, ob unter irgendeiner Verfassung irgendeine königliche Ordonnanz die ewigen Grundfesten der Sittlichkeit und Wahrheit mit einem brutalen Quos ego erschüttern konnte«, sagte Robert Prutz. Und diese Wahrheiten, die man noch heute verachtet, kann auch das Jahr 1866 und die folgenden sich gesagt sein lassen; es ist die alte Speise, woran die Menschheit seit Jahrhunderten kaut: Recht oder Gewalt! Wahrheit oder Lüge! Redlichkeit oder List. Der Protest und die brutale Gewalt, welche Ernst August, der erste Welfe, der wieder ein Königreich Hannover als selbständiges »Mittelreich« beherrschte, den Sieben anthat, haben Deutschland durch und durch erschüttert und nicht wenig beigetragen zu dem Untergange der Welfendynastie; sie haben in Preußen zuerst den Drang nach der in schweren Zeiten zugesagten Verfassung wieder wach gerufen, sie sind über die Donau hinübergedrungen, bis in die höhern Lebenskreise der lebenslustigen Kaiserstadt, sie haben wieder an die Zusammengehörigkeit der deutschen Stämme gemahnt, an den Gedanken, daß das deutsche Volk sich gemeinsam solcher Männer wie der Sieben annehmen müsse gegen den Despotismus eines einzelnen. Die deutsche Wissenschaft hat durch die würdigsten ihrer Repräsentanten den augenscheinlichen Beweis geliefert, daß sie nicht feil sei wie eine berliner H—, obwol das Ernst August an königlicher Tafel in Berlin in Gegenwart eines der ausgezeichnetsten Repräsentanten der Wissenschaft zu behaupten gewagt hatte, und es mußte in Berlin danach sein, um solches an solcher Stelle sagen zu dürfen. Ohne den Verfassungsbruch in Hannover mit allen seinen Folgen, namentlich der allgemeinen Verachtung des Bundestags, würde es 1848 nimmer zu einem Vorparlament und Parlament in Frankfurt, nicht zu der Kaiserspitze und 1866 nicht zu der Schlacht von Sadowa gekommen sein. Wer die Poesie der Weltgeschichte in dem Umschwunge nicht erkennt, daß der Freund und Rathgeber Baumann's, der kleine, verkrüppelte Advocat Detmold, jüdischer Abkunft, der 1840 in Hannover confinirt war, der keinen Schritt und Tritt thun durfte, ohne von Gensdarmen begleitet zu sein, der in seinen Kindermärchen den König als einen Kater darstellte, welcher die Mäuschen zum Frühstück verspeise, und den Hannoveraner-Mäuschen die Lehre gab: daß niemand gefressen wird, der sich nicht fressen lassen will – daß dieser Mann Reichsminister wurde und nach Wiederauflebung des Bundestags Bundestagsgesandter Ernst August's, wie er, angeblich gegen den Willen des Ministeriums, aber mit Willen des Königs, den Austritt aus dem Dreikönigsbündniß und den Beschluß des Bundestags vom 23. August 1850 beförderte, und dadurch den zweiten Schritt that, den Untergang Hannovers anzubahnen – für den sind diese Zeilen nicht geschrieben. Wer aus einem Roman lieber erfahren will, ob Wilhelm seine erstgeliebte Luise zur Frau, oder Melitta ihren Gardekapitän zum Manne bekommt, oder wie Ottilie dazu gekommen, dem einst geliebten Gatten untreu zu werden, wer das lieber will als einen Einblick gewinnen, wie es geschehen konnte, daß eine Dynastie, die über achthundert Jahre im niedersächsischen Boden gewurzelt, depossedirt werden konnte, und wie ein Königreich von beinahe zwei Millionen von der Landkarte verschwand, der lasse die folgenden Blätter ungelesen. Denn schildern diese auch Leben und Treiben, Freuden und Leiden der Kinder und Enkel unserer bisherigen Helden, so bedingte eben der Charakter der Zeit, wie der Charakter dieser Helden, daß die Lebensschicksale derselben zum großen Theile durch die Tagesereignisse bestimmt wurden. Die Wirkung des Siebener-Protestes in Deutschland, ja in Europa, war erstaunlich. Was in Hannover geschah, war übrigens nur ein Symptom einer weitschleichenden und Deutschland untergrabenden Krankheit, ein einzelner Fall, wo die Geschichte Execution hielt! Gleiche Ursachen – gleiche Folgen gilt künftig wie damals. An einem der folgenden Tage ging Baumann, da der Novembertag so klar und hell war wie ein schöner Januartag, nach Geismar hinaus, um dem Pastor Sander eine Bestellung Detmold's auszurichten. Sander, der sein eigener Patron war, hatte sich bis dahin als der einzigste unter allen Geistlichen entschieden als Gegner des Patents hervorgethan und seine Amtsbrüder in einer Schrift auch zur Eidesverweigerung aufgefordert. Die Hausgenossen begleiteten Bruno, blieben aber am Eingange des Dorfes bei dem Dreilindenwirthe, während jener in das Dorf zum Pastor ging. Die Unterhaltung war lang, so kam es, daß man erst nach acht Uhr, als es schon dunkel war, wieder in das Geismarthor eintrat. Was war das? die ganze kurze Geismarstraße war vom Entbindungshause an mit Menschen gefüllt? Die Studenten der Theologie wollten Ewald ein Vivat bringen, sie wollten nicht hinter den Juristen, Philologen und andern Facultäten zurückstehen, die gestern Albrecht, den Grimms, Dahlmann, Weber und Gervinus ihr Hoch gebracht hatten. Nun aber schlichen schon sämmtliche Pedelle zwischen der Masse umher und vermahnten noch mit Güte, aber im Namen des Prorectors, nach Hause zu gehen, und unter den Zweihundert, die da außer dem unvermeidlichen Straßenpöbel versammelt waren, schien nicht ein Mann von Energie zu sein. Als Baumann mit seinen Freunden mühsam zu der Wohnung Ewald's sich vorgedrängt hatte und die Situation überschaute, war er nicht lange in Zweifel, was zu thun sei; er schrie: »Ewald, der wahre Protestant, der Ueberzeugungs- und Eidestreue, er lebe hoch!« und nun hielt niemand sein Hoch zurück. Kaum hatte er angefangen, als Pedell Dierking ihm im Namen des Prorectors Schweigen gebot, indem er ihn an dem Rockkragen faßte. – »Hat mir nichts mehr zu befehlen, der Prorector – Hand vom Rock, oder ich schlage zu!« Bruno wurde vor die Polizei citirt, in eine Geldstrafe genommen und von Herrn von Beaulieu eindringlich ermahnt, sich nicht wieder als Anführer und Aufrührer von Studentenmassen zu zeigen, wenn er überhaupt erwarte, als Advocat angestellt zu werden."

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