25 Dezember 2012

Göttinger Revolution III

"Es wird sich kaum bezweifeln lassen, daß, wenn man die Leute in der Universitätsstadt ruhig hätte fortwirthschaften lassen, ohne achttausend Mann Truppen zusammenzuziehen, die sogenannte Revolution wahrscheinlich ebenso bald zerfallen wäre, als sie jetzt zu Ende gebracht wurde. Ein Leben, wie man es seit acht Tagen in Göttingen führte, läßt sich nicht wochenlang aushalten. Kein Handwerker arbeitete, auch wenn die Arbeit dringend erforderlich war, es sei denn, daß es auf Befehl des Gemeinderaths geschah und sich etwa um das Schmieden von Piken, deren einige hundert angefertigt wurden, oder um das Setzen und Drucken von Decreten und Bekanntmachungen handle. Alle Philister waren, wenn sie sich nicht auf der Wache befanden, oder zur Parade aufmarschiren mußten, vom Morgen bis zum Abend im Wirthshause, um ihr Dünnbier (Klapütt genannt) und den reinen Korn dazu zu trinken, zu politisiren und die Freunde, welche noch nicht eingeschlachtet hatten, mit den Resultaten der diesjährigen Weiß-, Knack-, Leber-, Rothwursternte näher bekannt zu machen. Diejenigen, welche erst Ende Januar oder im Februar einschlachteten, bezahlten für die Wurstlieferanten natürlich die Getränke und versprachen ihrerzeit frische Wurstlieferung. Die Hauptwachen aber auf dem Rathhause und in der Bosia sowie die Wachen an den Thoren waren weiter nichts als große Kneipen, in denen es vom Morgen bis in die Nacht lustig und guter Dinge herging, bis einer der Wachthabenden in die »Todtenkammer« gebracht werden mußte, um seinen Rausch auszuschlafen, oder sich auf die Pritsche legte, um auszuruhen. Da wurde gesungen, gezecht, Karten gespielt vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen. Was aber das Beste war, das alles ging auf Regimentsunkosten, wie man es nannte. Der wachthabende Offizier requirirte, die Beschlußnahme des Gemeinderaths, daß Requisitionen von diesem signirt und unterzeichnet werden müßten, wurde als zu weitläufig und formell nicht mehr beachtet. Man hielt es für genügend, daß die beiden Offiziere von bürgerlicher und akademischer Seite sich über das Bedürfniß der Wachtmannschaft verständigten. [...]
Diese Bons und Requisitionen hatten in den Rauchkammern der göttinger Hausfrauen binnen acht Tagen mehr Verwüstungen angerichtet als sonst die Monate vom Januar bis zum April; selbst die nur halb geräucherten Blasenwürste, die Sülzen, die für das Osterfest reservirten gesalzenen, jetzt im Rauch hängenden Schweinsköpfe wurden nicht geschont. Wenn zwei Bürgerfrauen zusammenstanden, so konnte man versichert sein, daß sie sich gegenseitig ihr Leid klagten. »Mein Mann hat heute unsere letzte Rothwurst – die Knackwurst ist schon seit drei Tagen aufgefressen – mitgenommen, die Zungenwurst im Magen, die wir sonst Pfingsten auf Mariaspring zu verzehren pflegten«, so klagte die Schusterfrau; »Gesell und Lehrling thun seit acht Tagen keinen Handschlag, essen aber das Doppelte, für die Butter wollten die Bauern aber gestern acht Groschen haben.« [...]
Während in der Stadt viele Kugeln gegossen und Patronen gemacht wurden, weil man an einen ernstlichen Kampf dachte, hielt die neugebildete Schützencompagnie auf dem Schützenhofe eine vertrauliche Versammlung, von der man alle, die man im entferntesten für compromittirt hielt, ausschloß. Dort wurde festgesetzt: Niemand soll fortan im Gemeinderathe sitzen, dem nicht das wahre Wohl und Wehe der Stadt am Herzen liege (das heißt, der nicht mit Grundeigentum angesessen sei). Kein Beschluß sollte ohne Beisein sämmtlicher Gemeinderäthe gefaßt werden können; und da diese nie zusammenzubringen waren, konnte natürlich überhaupt ein Beschluß nicht mehr gefaßt werden. Niemand dürfe bewaffnet in den Gemeinderath kommen (Herr Eberwein hatte infolge der Drohung des Dr. Rauschenplat, ihn todtzuschießen, einen Tag im Bette zubringen müssen). Der Hauptbeschluß aber lautete: Jedes Gemeinderathsmitglied darf frei seine Meinung sagen (die Beschlußfasser gingen von der Ansicht aus, daß das bisher im Gemeinderathe nicht möglich gewesen sei). Diese Beschlüsse der Schützencompagnie waren noch in der Nacht allen Wohlgesinnten der übrigen Compagnien mitgetheilt; zugleich hatten sich die Hauptführer der Contrerevolution, wenn man so sagen darf, mit dem seit acht Tagen unsichtbaren Magistrat, der Polizei und den akademischen Behörden in Verbindung gesetzt, diese ihres Schutzes versichert, und nachdem die Verständigung erfolgt war, krochen Rathsdiener, Polizeidiener und sonstige Beamte aus ihren Mauslöchern, in denen sie sich bisher verborgen gehalten. Unser Freund hatte in seiner ruhigen Straße (der Schwarze Bär ihm gegenüber kam erst nach zwanzig Jahren durch Hofrath von Siebold ins Renommée) vortrefflich geschlafen, auch den Tag vorher dem Onkel Maschinenbauer, der immer wünschte, daß er härter werden möge, voll Selbstbewußtsein die Thaten der letzten Tage gemeldet. Als er am andern Morgen nach dem Rathhause ging, um seine Functionen zu besorgen, fand er das Zimmer des Gemeinderaths von vier Mann des Schützencorps besetzt, die ihm den Eintritt weigerten, da ihm, dem Nichthausbesitzer, das Wohl der Stadt nicht am Herzen liege. Raths- und Polizeidiener brachten von Haus zu Haus eine Proclamation des Herzogs von Cambridge, welche unbedingte Unterwerfung forderte. Der Hubalkanski in Nörten ließ an alle Ecken großgedruckte Plakate anschlagen: »Ich befehlige Truppen, die ihre Schuldigkeit zu thun wissen und ihre Ehre daransetzen, ihrem Anführer bis in den Tod zu folgen.« Es war stiller in der Stadt. Die gewohnten Parademärsche der Bürgercompagnien und akademischen Garde mit Musik, der Marseillaise natürlich – fanden nicht statt. Die Weiber steckten die Köpfe zusammen und erzählten sich, daß der »Meister« stark nach Heringssalat verlange und von dem Gemeinderathe nichts mehr wissen wolle. Gottfried Schulz war froh, von den Functionen eines Schriftführers im Gemeinderathe entbunden zu sein, über die weitern Folgen machte er sich keine Besorgniß. [...]
Ein alter Herr, tief in Pelz gehüllt, stieg aus und befahl dem Postillon, sofort für neue Pferde nach Dransfeld zu sorgen. »Aber Teufelsjunge«, redete der Alte Gottfried an, »was machst du denn da für Streiche? Willst du dich an den Galgen bringen oder im Zuchthause zu Celle zehn Jahre Wolle spinnen? Ha! weißt du noch nicht, daß ein Schulz keine Revolution machen kann? Hättet ihr und alle euere Krähwinkler und Doctoren nur ein Fünkchen Verstand gehabt, so wäret ihr heute vor acht Tagen, statt hier Parademärsche abzuhalten, stracks auf Hannover gezogen, wenn auch nur mit vier- oder fünfhundert Mann. Dann hättet ihr heute, was euer Herz begehrt, denn ihr wäret zu Tausenden dort angekommen, wo alles den Kopf verloren hatte, was zum Adel und der königlichen Dienerschaft gehört. »Jetzt habt ihr nichts! Und dann müssen eine Menge Verräther unter euch sein und schlechte gemeine Subjecte im Gemeinderathe selbst, die sich auf Kosten anderer rein zu waschen suchen. Sieh Gottfried, du Buttermilchseele, Theologenblut, du blonder Sohn meines blonden Bruders, du giltst in Hannover für einen der Schlimmsten unter den Schlimmen, und zwölf Jahre Zuchthaus sind das mindeste, was dir die hannoverischen Juristen – meine Freunde, die Freigesinnten nämlich, zudictiren. Die Aristokraten sähen dich lieber am Galgen. »Man hat dein Manuscript der Ansprache an die Soldaten nach Hannover geschickt und dich dort als Haupträdelsführer angeschwärzt.« Der Neffe wollte sprechen. »Brauchst dich nicht zu entschuldigen, Junge, ich halte dich leider für zu unschuldig, will aber nicht, daß ein Schulz aus meiner Familie erst ein halb Dutzend Jahre in Untersuchungshaft, dann ein Dutzend Jahre im Zuchthause sitzt. Sollst fort von hier. Habe mir für meinen Aeltesten, der ja ebenfalls Gottfried heißt, wenn wir ihn auch Karl nennen, von Freund Rumann einen Paß nach Brüssel ausstellen lassen. Rumann hat in der Eile vergessen, daß mein Junge schwarze Haare hat wie ich, und sich dein Signalement von mir in die Feder dictiren lassen. Siehe hier den Paß, selbst die Sommersprossen in deiner weißen Fratze und der blonde Backenbart sind nicht vergessen. Stand: Ingenieur, Zweck der Reise: Maschinenbau. Das darfst du nicht vergessen. »Nun mache dich reisefertig, in einer halben Stunde fahren wir nach Kassel; den Hasenbraten, der da auf dem Tische steht, wollen wir unterwegs verzehren.« [...]
Als der Gymnasiast am andern Morgen erwachte, kam ihm die Stille auf den Straßen ganz unheimlich vor. Ohne Kaffee zu genießen, machte er sich auf, die Stadt zu durchwandern, die wie ausgestorben war. Auf dem Rathhause sah er ein halbes Dutzend alter Weiber damit beschäftigt, den großen Rathhaussaal zu scheuern, sonst war niemand dort. Er ging zum Weenderthore. In der Nacht hatte man die Verbarrikadirung hinweggeschafft, und Maurer waren beschäftigt, das eingerissene Straßenpflaster wiederherzustellen. Bürger und Studenten sah man nicht; die Kirchenglocken läuteten zum Gottesdienste, aber nur einige alte gebückte Mütter schlichen zur Kirche. Um neun Uhr rückte ein Bataillon Jäger in die Stadt und besetzte das Rathhaus und die Thorwachen. Dann zogen Dragoner ein, darauf folgten zwei leichte Feldbatterien. Bald waren alle Hauptstraßen von Soldaten gefüllt. Die Infanterie schüttete auf Commando das Pulver von den Pfannen. Die Rebellenstadt sollte sehen, daß man es ernst gemeint hatte. [...]
Die meisten Unruhestifter hatten sich durch die Flucht gerettet, nur einige waren gefangen. Drei bis vier Tage war die Stadt von sechstausend Mann Soldaten überfüllt, und die Hannoveraner wütheten, zum Theil von den Offizieren gehetzt, in ihrem eigenen Lande ärger als später die Strafbaiern in Hessen."
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 6. Buch, 3. Kapitel

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