25 Dezember 2012

Göttinger Revolution 1831 I

"In diesem Augenblick ging die Hausthür auf, Bruno stürmte die Treppe herauf und schrie aus Leibeskräften: »Vivat, Onkel, Vivat, es ist Revolution! Hast du keinen Säbel oder keine Pistole, die du mir pumpen kannst? Gegessen wird heute nichts, wir Primaner wollen auch eine Nationalgarde bilden, wie die Caroliner es in Braunschweig gethan haben.«
Frau Koch schlug die Hände über dem Kopfe zusammen und seufzte: »Ach lieber Herrgott, ich habe es mir doch gleich gedacht, daß das Feuerwerk von gestern Abend am Himmel ein Unglück bringen würde.«
Der Gelehrte war erstaunt: »Nun erzähle doch, was ist denn los?«
»Wie wir aus der Klasse kamen, die des Jahrmarkts wegen um eine halbe Stunde früher geschlossen wurde, und auf dem Markte unter den Buden herumbummelten, kam auf einmal eine ganze Schar bewaffneter Bürger und Studenten, alle mit weißen Binden um den Arm, und gingen die Rathhaustreppe hinauf. Nun kam auch der kleine Hübotter mit der Hildesia aus der Bosia und bald verkündete eine Stimme von der Rathhaustreppe herab, der Magistrat habe eingewilligt, daß der Polizeicommissar Westphal entlassen werde und daß sich eine Bürgergarde und akademische Nationalgarde zur Erhaltung der Ruhe und Ordnung bilde. Das ist alles, was ich weiß. Jetzt muß ich aber wieder fort.«
»Aber Herr Doctor, dulden Sie das doch nicht«, jammerte Frau Koch, »der Bruno hat seit Morgen nichts genossen als eine Semmel und eine Tasse Kaffee, wenn er nun keinen warmen Löffel Suppe ißt, so wird der Mosjö bei dem abscheulich kalten Wetter krank. Die Revolution läuft Ihnen nicht weg, junger Mann, setzen Sie sich erst, es kommt Ihr Lieblingsgericht auf den Tisch, Sauerkraut und Pökelfleisch, Schnauzen und Ohren sogar.«
»Ja, Bruno, setze dich und erzähle ordentlich, wer steht an der Spitze und was wollen die Leute?«
»Das will ich dir sagen. Da sind die Kanzleiprocuratoren Eggeling, Kirsten und Laubinger, der Dr. Seidenstiker, der Gastwirth Ulrici, und von akademischer Seite die Privatdocenten Dr. von Rauschenplat,. Dr. Ahrens und Dr. Schuster und die Studiosen: Vater Hentze, Hübotter, Stölting, Gerding, die haben von der Rathhaustreppe aufgefordert, eine Nationalgarde zu bilden. O Onkel, du mußt mit ansehen, wie spaßhaft das auf dem Jahrmarkte aussieht, das ist ärger als im Jahrmarkte zu Plundersweil. Die Galanteriekrämer vor der Krone und alle sonstigen Verkäufer haben Angst, geplündert zu werden. Alles packt ein über Hals und Kopf und in einer Stunde werden alle Buden verschwunden sein. Nur die braunschweiger Pfefferküchlerinnen fürchten sich nicht und verkaufen frisch darauf los, immer wiederholend: ›Heeren Se mal, kaufen Se mich was ab, von uns Braunschweigern kennen Se lernen, wie man Revolution machen muß.‹ Aber Onkel, ich muß ein Gewehr haben, um vier Uhr ist Appell, da muß ich dabei sein.«
Der junge Mann nahm sich kurze Zeit zum Essen; im Hause des Onkels ein Gewehr oder einen Säbel zu finden, das mochte schwer sein, denn Gottfried hatte nie eine Schießwaffe, selten ein Rappier in der Hand gehabt; ein Gewehr mußte aber zuerst aufgetrieben werden. Dem Gymnasiasten fiel ein, daß er bei dem Vater eines Freundes eine ganze Gewehrsammlung gesehen, richtig, da mußte er hin, zu Dr. Wadsack, dem Gerichtshalter in Geismar, der auch nicht sehr fern in der Nikolaistraße wohnte.
Gottfried setzte sich hin, um seinem Vater ein langes und breites von dem Nordlicht des gestrigen Abends und sehr viel von dem »viel Lärm um Nichts«, wie er die Revolution nannte, zu schreiben.
Es wurde auch eine Proclamation vertheilt des Inhalts: »Um den durch die allgemeine Noth erzeugten Beschwerden abzuhelfen und die durch dieselben bereits entstandenen und noch drohenden Unruhen für die öffentliche Ordnung gefahrlos zu machen, sei man zu einer Nationalgarde zusammengetreten, um alle für einen und einer für alle die öffentliche Ruhe aufrecht zu erhalten. Zugleich wolle man an Se. Majestät den König unmittelbar eine unterthänigste Vorstellung richten, daß auch den Hannoveranern eine freie Verfassung mit einer durchaus frei und selbstgewählten Ständeversammlung gewährt werde.«
»Was in Kassel die Bierbrauer erzwungen, was die Braunschweiger, die Sachsen durchgesetzt, das wollen wir auch haben!« schrien die Philister und drängten sich, die von Dr. Rauschenplat aufgesetzte Proclamation zu unterzeichnen. Auch eine andere Parole wurde schon ausgegeben. »Fort mit dem Magistrat« hieß es, »wir müssen einen freigewählten Gemeindeausschuß haben.« Wer etwas hinter die Coulissen sehen konnte, der gewahrte, daß die jungen Privatdocenten ganz nach französischer Schablone arbeiteten.
Hofrath Langenbeck machte freilich noch am Abend den Versuch, die akademische Garde von der Bürgerschaft und dem politischen Treiben abwendig zu machen, allein die Studenten wollten nichts davon wissen, Polizeisoldaten des akademischen Senats zu spielen.
Am Abend wurde die Stadt erleuchtet, bewaffnete und unbewaffnete Scharen zogen mit Musik durch die helle Stadt; man sang: »Das Volk steht auf, der Sturm bricht los«, und ließ sich auf dem Marktplatze von dem scharfen Ostwinde durchpusten, um die Marseillaise und Parisienne, diese bis dahin verbotenen Weisen, von den Stadtmusikanten vorspielen zu lassen. Dann wurden aber alle Kneipen voll, man mußte sich erwärmen und man politisirte, kritisirte, schimpfte, tobte über akademische und bürgerliche Polizei.
Die Wachen vor den Thoren waren von einer gemischten Mannschaft von Soldaten, Bürgern, Studenten besetzt; man trank, sang und fraternisirte die ganze Nacht hindurch, das nöthige Getränk wurde aus dem nächsten Wirthshause auf Rechnung der Stadtkasse requirirt.
Der nächste Tag war ein Sonntag; er wurde benutzt, um die Nationalgarde zu organisiren, Offiziere und Unteroffiziere, Adjutanten und einen Generalissimus zu wählen, und was die Hauptsache war, sich mit dreifarbigen breiten Bändern und Schärpen zu versehen. Da konnte man, als mittags zur Parade aufgezogen wurde, sehen, wie viel Vaterländchen Deutschland hatte, es waren so ziemlich alle siebenunddreißig Farben repräsentirt. Nur die Burschenschafter, etwa funfzig Mann, waren mit Schwarz-Roth-Gold geschmückt, ziemlich gut bewaffnet und, wie es schien, wohldisciplinirt.
Gottfried hatte das Haus nicht verlassen; er hatte dem Onkel Maschinenbauer in Hannover nach den Referaten des Gymnasiasten Baumann eine ausführliche Beschreibung der Ereignisse gemacht und die erschienene Proclamation beigelegt, da er wußte, daß der Onkel sich für solche Dinge interessire. Bruno war mehr auf den Straßen als im Hause; erst gegen Abend kehrte er wieder heim mit Büchse, Säbel und Pistole bewaffnet, die er von seinem Freunde Wadsack geliehen hatte, ganz glücklich darüber, daß er von der Gymnasialgarde zum Offizier gewählt war, und nur in Sorgen, wie er sich einen »Stürmer« mit Federbusch verschaffe."
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 6. Buch, 3. Kapitel

Keine Kommentare: