29 November 2012

Lasst mich Latein lesen!


Wie selbstverständlich noch Ende des 18. Jahrhunderts Latein gelesen wurde, entnehmen wir den Denkwürdigkeiten Varnhagen von Enses.
"Während dieser langen Krankenzeit nahmen wir mit Erstaunen in dem Vater eine wichtige Veränderung wahr. Schon vor seiner Reise war es uns aufgefallen, daß er in betreff der Franzosen kühler gestimmt war, ihren Siegen wenig Anteil mehr widmete, ihre politischen und militärischen Handlungen häufig mißbilligte. Diese Richtung trat [104] jetzt in offener Entschiedenheit hervor. Die Forderungen Frankreichs an Deutschland auf dem Rastatter Kongreß, die Unternehmungen in der Schweiz und in Italien, ja sogar Bonapartes Zug nach Ägypten erfuhren seinen scharfen Tadel. Wir entdeckten bald, daß hierin sein Freund Kirchhof lebhaft mit ihm einstimmte und daß beide, sooft sie zusammenkamen, sich in diesen Ansichten steigerten. Wir waren nicht wenig betroffen und ich ganz außer mir. Von jeher war ich gewohnt, den Vater in allen Dingen als höchste Autorität anzusehen, in Gedanken und Meinungen ihm nachzufolgen, sein Urteil und seine Handlungen als wahr und richtig anzunehmen; in diesem Falle wurde mir dies unmöglich, seine Umwandlung schien mir ein Verrat an der guten Sache, eine Untreue gegen alle Sympathien seiner früheren Zeit. Ich fühlte, daß hierin zwischen uns eine Scheidewand aufstieg, daß wir fortan getrennt seien, meine Selbständigkeit war mir auf das schmerzlichste klar. Mit ihm zu streiten konnte nicht gelingen; und weil ich ihn leidend sah, vermied ich es ganz. Es war mir lieb, daß auch Mutter und Schwester auf meiner Seite standen und wir unsre Meinungen austauschen konnten; aber ich bedurfte des Anhaltes kaum, denn ich war in mir gewiß, meine Überzeugung sei unabhängig von fremder Gewähr. In der Tat wurde sie durch die Ereignisse mehr und mehr bloßgestellt, das Glück wandte der Sache, der ich anhing, den Rücken, und wir hatten das bittre Leid, meinen Vater noch in den letzten Zeiten seines Lebens, da er schon wenig Anteil mehr an den Dingen nehmen konnte, bei den Unfällen der Franzosen in Deutschland und Italien wohlzufrieden zu sehen und jeder schlimmen Nachricht, die uns das Herz bluten machte, beistimmen zu hören; für uns um so unbegreiflicher, da die Gründe dieser Sinnesänderung nicht ausgesprochen wurden, die der früheren Ansichten aber tief in uns eingepflanzt waren und fortwirkten.
Nicht verletzend, aber doch seltsam und wunderlich, berührte uns eine andre Richtung, in welche der Vater jetzt [105] mehr als sonst einging. Ich habe schon zu erwähnen gehabt, daß ich ihm früher die Psalmen lateinisch vorlesen mußte; hiebei lag unstreitig ein Bedürfnis religiöser Erhebung zum Grunde, dem ich auch andre Bücher nach Gelegenheit dienen sah; denn die kleinen Lieblingsausgaben von des heiligen Augustinus Betrachtungen und Handbüchlein, von Boethius' Tröstungen und andre solche Schriften, die er wieder und wieder zu lesen pflegte, waren doch wohl nicht für bloß geistreiche Unterhaltung bestimmt. Mit der Krankheit nahm die Vorliebe für solche Bücher zu, Thomas a Kempis wurde fleißig gelesen und besonders Hermann Hugos »Pia desideria«. Das letztere Buch, von einem Jesuiten verfaßt, dünkte mich in Ton und Bildern beinahe kindisch, und ich war etwas betroffen, den Vater dazu herabgestimmt zu sehen. Allein es hatte damit eine besondre Bewandtnis; mit jenem Buche war seine frühste Kindheit erfreut und genährt worden, er hatte dasselbe dann völlig vergessen, und jetzt kam es ihm unerwartet wieder vor Augen. Alle Bilder der Jugend, alle lieblichen und reinen Empfindungen frommer Einfalt erwachten in ihm bei diesen einst so vertrauten Blättern, und diesem süßen Eindrucke sich hinzugeben, war auch dem festen, aufgeklärten Manne wohl erlaubt. Übrigens nahm er seine Erbauung ebensogern aus protestantischen Quellen als aus katholischen, ich sah zum Beispiel Wanckelii »Precationes piae« bis zuletzt viel in seinen Händen; nur lateinisch mußten die Bücher sein, denn einzig in diesem Elemente, so sehr wirkte die frühste Gewöhnung fort, befand er sich wahrhaft wohl. Von der Freiheit seines Geistes, der Lebendigkeit seiner Überzeugungen und der Kraft seiner Menschenliebe gab er in dieser Prüfung vielfache Proben, sowohl durch Lehren, die er mir erteilte, als durch Anordnungen, die er traf. Ein zudringlicher Bekannter, der, wiewohl selber ungläubig, doch die Äußerlichkeiten der Kirche in Anregung brachte, wurde zur Ruhe verwiesen, mit heitrem Scherze, der den schönsten Mut bezeugte.
[106] Ein Umzug von der Steinstraße nach den Kaien, der notwendig geworden war, hatte meinen Vater wenig angestrengt, die Aussicht auf den bewegten Hafen freute ihn, und bisweilen sprach er sogar noch Hoffnungen aus, die sich aber in den nächsten Wochen rasch verloren. Er zehrte sichtbar ab, in der Nacht des 5. Juni fühlte er sich plötzlich matter, rief uns an sein Bette, sprach aber nicht mehr, sondern schlummerte sanft hinüber. Den Tag, an dem er sterben würde, hatte er, nicht uns, aber dem Freunde Kirchhof, acht Tage vorher genannt. Er starb im dreiundvierzigsten Jahre. Das Begräbnis war protestantisch. Der Freund setzte seinem Andenken die Worte: »Vir probus et sapiens.«"
(Varnhagen von Ense: Denkwürdigkeiten, Kindheit und frühe Jugend, Hamburg 1794-1800, S.103-106)

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