08 September 2012

Höxter und Corvey

Die historische Novelle Höxter und Corvey von Wilhelm Raabe wurde erstmals im Frühjahr 1875  in „Westermanns Monatsheften“ veröffentlicht. Wem die kurzen Erläuterungen zu den folgenden Textauszügen nicht genügen, der findet hier eine Inhaltsangabe. 
"Wir haben unsern Lesern immer gern die Tageszeit geboten, aber so schwer wie diesmal ist uns das noch nie gemacht worden. In der Stadt Höxter waren die Turmuhren sämtlicher Kirchen in Unordnung; Sankt Peter und Sankt Kilian zeigten falsch, Sankt Nikolaus schlug falsch und bei den Brüdern stand das Werk ganz still; nur auf Stift Corvey, eine Viertelstunde abwärts am Fluß, befand es sich noch in geziemlicher Ordnung und hatte sich auch eine Hand gefunden, die es darin erhielt und es zur rechten Zeit aufzog. Es schlug vier Uhr am Nachmittage auf dem Turme der Abtei.
So viel für die Tageszeit. Was die Zeit sonst anbetraf, so schrieb man den ersten Dezember im Jahre 1673: am 23. November 1873 beginnen wir unsere Erzählung; es sind also gerade ungefähr zweihundert Jahre seit jenem Wintertage vergangen. Maurer, Zimmerleute, Tischler, Schlosser, Glaser und, vor allen Dingen, Uhrmacher sind am Werke gewesen, haben die Mauern wieder aufgebaut, die Pfosten zurechtgerückt, die Türen eingehängt, neue Fenster vorgeschoben und dafür gesorgt, daß auch die Turmuhren wieder die richtige Zeit anzeigen. Es hatte viele Arbeit und große Geduld gekostet; – wehe dem, der von neuem frevelhaft die Hand bietet, die Wände abermals einzustoßen, die Dächer abermals abzudecken und die Türen und Fensterscheiben von neuem zu zertrümmern. Der Gegenwart sei bemerkt, daß das Wiederaufbauen, das Auf- und Einrichten zu allem übrigen stets auch viel Geld kostet. [...]

Ein relegierter protestantischer Student, ein Mönch von Corvey und eine alte Jüdin treffen bei einem protestantisch-katholischen Pogrom gegen die Juden in Höxter zusammen.
»Höxter und Corvey!« sagte er [der lutherische Student Lambert Tewes] finster. »Meine luther'schen Väter standen für Stadt und Stift. Die Liga war's, die Höxter in Trümmer legte und Sankt Viti Sarkophagen zerbrach. Eure fremdländischen Obersten und Kavaliers waren es, die die Gebeine unter sich verteilten, welche der Kaiser Ludwig hieher an die Weser getragen hatte.« [...]
»Beim heiligen Vitus«, rief er [der Corveyer Mönch und frühere Reiteroffizier unter Tilly Heinrich von Herstelle] plötzlich, »das ist meiner seligen Mutter Werk! Sie gab die Handschuh ihm, als er vor mir auszog. Sie war im Herzen für die neue Lehre; ich ging für meinen Vater zu den Kaiserlichen! Das ist Justs Handschuh mit meiner Mutter Spruch: Geh' grad!... O Frau, o Leah, sie hat mit ihrer guten Hand die Goldfäden gezogen!« Der Bruder Henricus hielt einen Reiterhandschuh, der mit verblaßtem Golde gestickt war, und nahm hastig, doch gerührt von neuem die fieberheiße Hand der alten Jüdin: »Das hat er Euch gegeben, Leah?«
Die Greisin strich die weißen, durch das Ringen mit dem Räuber gelösten Haare aus der Stirn und sagte: »Ich verstehe den gnädigen Herrn Abt nicht.« Sie war noch immer nicht ganz bei sich, oder die Betäubung trat doch immer noch von neuem ein. »Des tollen Herzogs toller Reiter, Just von Burlebecke!« rief der Bruder Heinrich, sich wieder an den Studenten und die kleine Simeath wendend. »Er hat noch ein gut und lustig Jahr gehabt; dann ist er bei Stadtloo im Ernst erschossen, und niemand hat sein blutend Haupt mitleidig in den Schoß genommen, Leah!« »Wie war denn das?« murmelte die Alte. »Es ist so viel nachher gekommen –  ...]
»Gott Abrahams! Der Herr ist Herr der Heeresscharen; Zebaoth ist sein furchtbarer Name.«
»Das sagte mein Oheim vorhin auch«, meinte der Student, im Unbehagen die Schultern in die Höhe ziehend.  [...]
Die alte Jüdin Leah berichtet von ihrem Zusammentreffen mit dem protestantischen Reiteroffizier Just von Burlebecke, dem sie als junges Mädchen bei seiner Verwundung half, den Zorn ihrer Mutter nicht achtend.
›Denkt an Just von Burlebecke, Fräulein; er wird Euerer immer gedenken!‹ Und doch wußte er da schon, daß ich eine Jüdin sei, – er war aber ein guter Ritter, und ich habe seiner wirklich oft gedacht. Meine Mutter schlug mich noch einmal am Abend und mein Vater; denn der Rat hatte die Reiterzehrung, die er dem guten Ritter verehrte, auf den jüdischen Mann gelegt. Den Handschuh hab' ich heimlich versteckt, sonst hätten sie ihn mir mit einem Fluche vor der Nase verbrannt. Dann haben meine Kinder damit gespielet; es ist ein Wunder, daß er noch da ist; – meine Kinder sind tot, dreimal hat mein Haus im Schutt gelegen. Ja, ich hab' des tapfern Ritters Handschuh von Gronau mitgebracht, o ehrwürdiger Herr, nehmet ihn und lasset es die Simeath nicht entgelten, daß Ihr ihn bei uns fandet. Helfet dem unschuldigen Kind, der Simeath, durch diese Nacht!«... [...]
»Laß ihn, Kind! Er tut wohl, daß er sich lachend in die Welt schickt. Die Zeit schwingt und schwingt; – auch seine Stunde wird kommen, wo er mit gerunzelter Stirn auf den schweren Pendul horcht. Ehrwürdiger Herr Mönch, Sie waren ein Reiter, nun sind Sie ein Bruder zu Corvey – Ihr seid auch ein alter Mann; habt Ihr den Frieden gefunden in den Mauern der großen Abtei?«
Der Bruder Heinrich von Herstelle hatte, die Stirn mit der Hand stützend, in tiefen Gedanken gesessen; auf die Frage fuhr er auf und wiederholte sie: »Den Frieden?« Er zog wie im Spiel den Handschuh Justs von Burlebecke an; dann sprach er: »Den Frieden?... Geh' grad!... den Frieden? Weshalb sollt ich auch den Frieden zu finden wünschen? Ich bin kein gelehrter Mann wie hier der Herr Student, der den heidnischen Philosophum, den Horatius, auswendig weiß; ich kann's nicht sagen, wie's mir zumute ist. In meiner Jugend habe ich Freude gehabt am bunten Leben; – hab' ich denn den Frieden suchen wollen, als ich ein Mönch wurde? Ja, ja – bei Sankt Veit, es wird wohl so sein! Ei ja, dann hab' ich ihn gefunden. Ich bin freilich ein alter Gesell, und da hab' ich mein Genügen zu Corvey; aber – geh' grad! – die Zeiten haben mich gelassen, wie ich war, als ich anfing mich zu besinnen in der Welt. Was Blut und Feuer?! Da das uns vom Herrgott bestimmt war, so mag auch Er – sein Name sei gepriesen – die Rechnung beschließen. Sie wird wohl stimmen, sowohl für ihn als für uns.«
Die Alte lachte rauh: »Da seid Ihr also auch auf dem Trost, der uns gesungen wird seit den Tagen des Königs Nebukadnezar. Die Stolzen beugen sich, und der Herr lacht über sie –«
»Und dieses alles, weil gestern der Lump, der Monsieur Fougerais, von Höxter abmarschiert ist!« rief jetzt der Student ungeduldig dazwischen. »Zum Teufel, den Frieden haben wir erst dann, wenn niemand mehr sofort nach dem Prügel im Winkel greift, wann er sich darauf gespitzt hat zu hören: Vivat Doktor Luther! und es ihm vom andern Tisch herkrächzt: Vivat Clemens der Zehnte – oder umgekehrt! Der Fougerais ist fort – – Nunc est bibendum, nunc pede libero Pulsanda tellus – das Lied vom Trinken und Tanzen ist zwar schon nach der Schlacht bei Actium gesungen und auf den Niederfall der Königin Kleopatra von Ägypten gemünzt; aber ich münze es häufig auf was anderes, und tausend Jahre nach mir wird man's auch so halten. Item, man hat Jerusalem mehr als einmal wiederaufgebaut, Mutter Leah.« [...]
Nun stehen auch wir abermals einem Factum gegenüber: das Wort, das in der lutherischen Bürgerschaft fiel, fand seinen vollen Widerhall in der katholischen. Zum zweiten Mal in dieser Nacht stürzte sich ganz Höxter auf seine Juden, und selbst der Gubernator, der Herr Hauptmann Meyer, ging mit – widerwillig freilich; aber sie zogen ihn freundlich, an jedem Arm einer – rechts die katholische, links die evangelische Kirche. [...]

(Wilhelm Raabe: Höxter und Corvey)

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