28 August 2012

Gustav Freytag über "Die verlorene Handschrift"


In dieser Erzählung schilderte ich Lebenskreise, welche mir seit meiner eigenen akademischen Zeit vertraut waren: die Wirtschaft auf dem Lande und die Universität. Möchte man den Schilderungen ansehen, daß ich hier recht mühelos und froh aus dem Vollen geschöpft habe. Bei den Gestalten der akademischen Welt würde man vergebens nach bestimmten Vorbildern suchen, denn Herr und Frau Struvelius, Raschke und andere sind Typen, denen wohl auf jeder deutschen Universität einzelne Persönlichkeiten entsprechen. [...]
Denn als wir einmal zu Leipzig, noch vor seiner Berufung nach Berlin, allein beieinander saßen, offenbarte er  Moritz Haupt mir im höchsten Vertrauen, daß in irgend einer westfälischen kleinen Stadt auf dem Boden eines alten Hauses die Reste einer Klosterbibliothek lägen. Es sei wohl möglich, daß darunter noch eine Handschrift verlorener Dekaden des Livius stecke. Der Herr dieser Schätze aber sei, wie er in Erfahrung gebracht, ein knurriger, ganz unzugänglicher Mann. Darauf machte ich ihm den Vorschlag, daß wir zusammen nach dem geheimnisvollen Hause reisen und den alten Herrn rühren, verführen, im Notfall unter den Tisch trinken wollten, um den Schatz zu heben. Weil er nun zu meiner Verführungskunst bei gutem Getränk einiges Zutrauen hatte, so erklärte er sich damit einverstanden, und wir kosteten das Vergnügen, den Livius für die Nachwelt noch dicker zu machen, als er ohnedies schon ist, recht gewissenhaft und ausführlich durch. Aus der Reise wurde nichts, aber die Erinnerung an jene beabsichtigte Fahrt hat der Handlung des Romans geholfen.
In Leipzig hatte ich kurze Zeit auf der letzten Straße am Rosental bei einem Hutmacher gewohnt, der in seiner Fabrik [623] Strohhüte verfertigte, neben ihm war zufällig ein anderes wohlbekanntes Geschäft, welches den Bedürfnissen des männlichen Geschlechts durch Filzhüte entgegenkam. Dieser Zufall veranlaßte die Erfindung der Familien Hummel und Hahn, doch auch hier sind weder die Charaktere noch die Familienfeindschaft der Wirklichkeit nachgeschrieben. Nur die Tatsache ist benützt, daß mein Hauswirt besondere Freude daran fand, seinen Hausgarten durch immer neue Erfindungen auszuschmücken: die weiße Muse, die Hängelampen und das Sommerhaus am Wege habe ich dem Gärtchen entnommen. Außerdem sind zwei Charaktere seines Haushalts, gerade die, welche wegen ihres mtythischen Charakters Anstoß erregt haben, genaue Kopien der Wirklichkeit, die Hunde Bräuhahn und Speihahn. Diese hatte mein Hauswirt irgend woher als Wächter seines Besitzes erstanden, sie erregten durch ihr köterhaftes Verhalten den Unwillen der ganzen Straße, bis sie einmal von einem erzürnten Nachbar vergiftet wurden, Bräuhahn starb, Speihahn blieb am Leben und wurde seit der Zeit ganz so struppig und menschenfeindlich, wie er im Roman abgeschildert ist, so daß ihn nach zahllosen Missetaten, die er verübt, sein Besitzer wieder auf das Land geben mußte.
(Gustav Freytag über seinen Roman "Die verlorene Handschrift", S.621-623)

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