01 Mai 2012

Das Hohelied auf einen Obdachlosen? Die Akten des Vogelsangs

Der Roman von Wilhelm Raabe beginnt mit dem Brief, mit dem Helene Mungo davon berichtet, dass Velten Andres, der Mann, der sie geliebt hat und ihren Verlust nicht verwinden konnte, jetzt gestorben ist:

»Lieber Karl!Velten läßt Dich noch einmal grüßen. Er ist nun tot, und wir haben beide unsern Willen bekommen. – Er ist allein geblieben bis zuletzt, mit sich selber allein. Daß ich mich als seine Erbnehmerin aufgeworfen habe, kann er freilich nicht hindern; das liegt in meinem Willen, und aus dem heraus schreibe ich Dir heute und gebe Dir die Nachricht von seinem Tode und seinem Begräbnis. Dieser Brief gehört, meines Erachtens, zu der in seinen Angelegenheiten (wie lächerlich dieses Wort hier klingt!) noch nötigen Korrespondenz. Seinen Ton entschuldige. Es klingt hohl in dem Raume, in welchem ich schreibe: er hat die Leere um sich gelassen, und wie ein Kind nenne ich Dich, Karl, noch einmal Du und bei Deinem Taufnamen; es soll kein Griff in die Zukunft sein; es ist nichts als ein augenblickliches letztes Anklammern an etwas, was vor langen Jahren schön, lustig, freudenvoll und hoffnungsreich gewesen ist. Auch Deine liebe Gattin wird den Ton verzeihen, wenn sie auch gottlob nichts weiß von der Angst, die wir Weiber haben können in einem so leeren Raume. Ihre Angst im Dunkeln wird sie ja wohl auch schon gehabt haben in ihrem Leben.
Helene Trotzendorff als ein sich fürchtendes Kind? – Nein, [632] doch nicht! – So ist es nicht! – Die wilde Törin möchte sich nur entschuldigen, daß sie Euch ruhigen Seelen durch ihre Nachricht den bürgerlichen und häuslichen Frieden stört. Von jetzt an, lieber Karl, gedenke meiner als einer mit dem Freunde zu den Toten Gegangenen; ich wollte, ich könnte sagen: in den Frieden.
Euer Freund Leon war sehr aufmerksam, doch Eure Frau Fechtmeisterin hat mir das Recht zuerkannt, das Begräbnis zu besorgen. Er, der Herr Kommerzienrat des Beaux, tut mir nur die nötigen Wege. Nun bin ich allein mit dem Freunde und freue mich über ihn und könnte ihm wieder wie unter den Holunderbüschen zwischen den Buchsbaumeinfassungen der Aurikelbeete unserer Kindheitsgärten oder auf unseren Bergen und Waldwiesen in den Haarbusch greifen und ihn Schelm nennen oder einen schlechten Menschen. Verdient hätte er das heute wie vor Jahren. Er hatte in seinem Frieden noch denselben Zug um Nase und Mund wie vor Jahren, wenn er mich zu Tränen vor Ärger und Erbosung und Dich, guter alter Jugendkamerad, zu einem Zitat aus einem deutschen oder lateinischen Klassiker gebracht hatte.
Die Frau Fechtmeisterin hat das große, schlaue Kind wahrhaftig wie ein kleinstes, dummstes, hülfslosestes Kind besorgt und zu Tode gepflegt. Sie ist jetzt nahe an die neunzig Jahre alt und sagt: ›Daß ich das noch tun mußte, hat mich das ganze letzte halbe Jahr durch auf den Beinen erhalten: ich hatte es ihm ja aber auch so versprochen, wenn ich auch niemals geglaubt habe, daß mal ein Ernst aus seinem Spaß werden könne.‹ Sie konnte es nicht wissen, daß er immer Ernst aus dem Spaße machte!
Wenn wir nun zusammensäßen, so könnte ich Dir wohl noch vieles sagen. Zu schreiben weiß ich nichts mehr; ich bin auch sehr müde.
Mit den besten Wünschen für Dich und Dein Haus
Helene Trotzendorff, Widow Mungo
(Wilhelm Raabe: Die Akten des Vogelsangs - Wikipedia zum Roman)

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